# taz.de -- Kolumne Frauen: Die Ballade vom großen Bruder | |
> Geschwister hat man - oder eben nicht. Allerdings gibts auch hier eine | |
> Grauzone. | |
Ich habe mir nie eine kleine Schwester gewünscht - mein kleiner Bruder hat | |
mir voll und ganz gereicht. | |
Als meine Mutter aus dem Krankenhaus nach Hause kam, habe ich sie | |
aufgefordert, ihn wieder zurückzubringen. Sein Geschrei hat mich | |
verhätscheltes Nun-nicht-mehr-Einzelkind gestört - und sein Gestank erst! | |
Ich war damals drei Jahre alt, also selber gerade mal aus den Windeln raus, | |
aber da ich mittlerweile schon selbständig auf die Toilette gehen konnte, | |
hielt ich mich für was Besseres. | |
Das Verhältnis zu meinem Bruder hat sich über die Jahre deutlich gebessert | |
- richtig gut wurde es allerdings erst, als wir nicht mehr unter einem Dach | |
wohnten. | |
Bei meiner Schwester ist genau das das Problem: Sie stammt aus der zweiten | |
Ehe meines Vaters und lebt 500 Kilometer von Berlin entfernt in einem Dorf, | |
dessen Wahrzeichen eine Autobahntankstelle ist. Wir sehen uns kaum. Ich bin | |
ein Fremder für sie, der doch irgendwie zur Verwandtschaft gehört - genau | |
wie mein Vater für mich. | |
Neulich hatte meine Schwester Geburtstag und ich habe mich abends endlich | |
dazu durchgerungen, sie anzurufen. Sie war gleich am Apparat - klar, es war | |
ja ihr Geburtstag - und klang gar nicht mehr wie ein Baby. Auch das ist | |
kein Wunder, schließlich wurde sie an jenem Tag neun Jahre alt. | |
In meinem Kopf war sie noch als kleines Mädchen gespeichert, es fehlten die | |
Updates. In den neun Jahren habe ich sie vielleicht zehnmal getroffen, | |
vielleicht auch zwölfmal, das letzte Mal vor … - na, wann denn eigentlich? | |
Eineinhalb Jahre ist das bestimmt schon her. | |
Es war ein kurzes Telefonat - wie immer, wenn ich diese Nummer wähle: Ich | |
habe ihr gratuliert, sie gefragt, was sie geschenkt bekommen hat, diese - | |
wirklich sehr schönen - Geschenke aus der Ferne bewundert, mich nach dem | |
Verlauf der Feierlichkeiten erkundigt und - wie alte Leute das so machen - | |
nach der Schule. Ihre Antworten waren kaum länger als die Fragen - in | |
Interviews kein gutes Zeichen, hier ehrlich gesagt auch nicht. | |
Meine Schwester hat mir keine einzige Frage gestellt, noch nicht mal die | |
naheliegendste: warum ich nicht mit ihr Kuchen esse und ihre Geschenke aus | |
der Nähe bewundere. Es hätte mir das Herz gebrochen, denn ich bin gerne | |
großer Bruder. Ich habe es immer genossen, mit meiner kleinen Schwester und | |
meinem noch kleineren Bruder Zeit zu verbringen, sie zuerst auf dem Arm und | |
später auf den Schultern herumzutragen, mit ihnen zu spielen oder zu | |
erklären, warum ihre Mami nicht auch meine Mami ist und umgekehrt. | |
Dass ich trotzdem manchmal vergesse, sie zu erwähnen, wenn ich nach meinen | |
Geschwistern gefragt werde, hat viel mit dem schwierigen Verhältnis zu | |
meinem Vater zu tun. Er ist der Grund, warum ich so selten in das | |
Autobahntankstellendorf fahre, nicht die beiden. | |
Zum Glück hat meine Schwester nicht gefragt, warum wir uns kaum sehen. Dann | |
hätte ich ihr möglicherweise die Wahrheit erzählt - und es gleich furchtbar | |
bereut. Denn die Vaterprobleme eines Endzwanzigers überfordern eine | |
Neunjährige - und außerdem ist er ja auch ihr Vater, zu dem sie so lange | |
aufschauen soll, bis sie ihn selbst infrage stellt. | |
Als ich in ihrem Alter war, habe ich am Wochenende häufig draußen auf der | |
Straße auf meinen Vater gewartet, der damals schon in einer anderen Stadt | |
arbeitete und offenbar andere Prioritäten setzte. Mal kam er, häufiger | |
nicht. Seitdem hasse ich es wie die Pest, wenn man mich warten lässt oder | |
versetzt. | |
Seiner Familie entkommt man nicht. Umso schöner, wenn man das auch nicht | |
will: Am Wochenende fahre ich meinen Bruder in München besuchen, werde mit | |
ihm zusammen in meinen Geburtstag reinfeiern. | |
Ich werde 19 Jahre älter als neun Jahre. Ich freue mich auf die Zeit mit | |
ihm, denn auch wir sehen uns nur selten. Und telefonieren kann man mit ihm | |
nicht. Trotzdem fühle ich mich ihm nahe. Ein schönes Gefühl, dass ich bei | |
meiner Schwester wohl nie haben werde. | |
25 Feb 2009 | |
## AUTOREN | |
David Denk | |
David Denk | |
## TAGS | |
Geschwister | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Internationaler Tag der Geschwister: Der Bruder im Schrank | |
Unser Autor hatte einen ganz speziellen Bruder im Geiste. Hier erinnert er | |
sich an ihn, und an die Vor- und Nachteile vom Aufwachsen als Einzelkind. |