# taz.de -- Suche nach einem neuen Selbstverständnis: Europas Gegenwart | |
> Der englische Radiomoderator Johny Pitts ist durch Europa gereist. Er | |
> sammelt Geschichten und Erfahrungen, um ein afropäisches Projekt zu | |
> formen. | |
Bild: Johny Pitts hat sein Buch mit Bildern schwarzer Europäer in Transit-Situ… | |
Wenn man den Begriff „afropäisch“ hört, was stellt man sich vor? | |
Straßenfeste in hippen Stadtteilen, in denen „afrikanische“ Prints, | |
senegalesische Spezialitäten und smart gestylte Afros ein buntes | |
Miteinander repräsentieren? Wie sieht die echte Lebensrealität von Menschen | |
in Europa aus, die eine afrikanische Migrationsgeschichte haben und als | |
„fremd“ gelesen werden, auch wenn sie in Europa geboren wurden? | |
Johny Pitts, englischer Radiomoderator – jung, hip, kosmopolitisch – | |
unternimmt eine Reise durch das schwarze Europa. Seine Suche nach | |
afroeuropäischer Identität führt ihn durch europäische Metropolen, vor | |
allem an ihre Ränder. | |
Afropäische Communities sucht Pitts bei [1][nordafrikanischen Muslimen] und | |
bei [2][Kindern karibischer Einwanderer.] Eine Art Wegweiser ist die | |
Hautfarbe, Pitts selbst spricht von „Cappuccino“. „Afrikanisch“ meint | |
Nachkommen von verschleppten Sklaven ebenso wie in jüngster Zeit | |
Geflüchtete. Solch eine Unschärfe ist eher problematisch als produktiv. | |
„Afropäisch“ wird so zu einem Attribut, das alle Klassen, ethnische und | |
religiöse Unterschiede überschreibt. | |
Aber was eint geflüchtete Somalier und Marokkaner, die bisweilen im Clinch | |
miteinander liegen? Tatsächlich verklammern negative Erfahrungen so | |
unterschiedliche Identitäten: struktureller Rassismus, Formen der | |
Exotisierung, die bis hin zu einer Aneignung ursprünglich afrikanischer | |
Kleidungsstile reichen, auch eine Erotisierung der Körper, bei denen ein | |
schwarzer Liebhaber als Trophäe betrachtet wird. | |
## Es fehlt das Gefühl des Angenommen-Werdens | |
Obwohl Pitts seine Motivation erklärt, wird nicht ganz deutlich, was er zu | |
finden hofft. Vielleicht sucht Pitts nach einer Gemeinschaft jenseits | |
individueller Herkunftsgeschichte, die dann aber durch was geknüpft wäre? | |
Was fehlt, weil es vielleicht nicht existent ist, ist ein verbindendes | |
Gefühl des Ankommens oder Angenommen-Werdens. | |
Ein junger Mann namens Mohammed, den Pitts in Berlin trifft, beschreibt es | |
so: Die Europäer versuchten mehr und mehr zu erwirtschaften. Der Afrikaner | |
(Mohammed verallgemeinert) dagegen sei froh, wenn er das Nötigste habe, und | |
chille gerne bei einem Joint. Entweder passe er sich dem europäischen | |
Streben an und werde unglücklich, weil er seine Identität verleugne, oder | |
er behalte seine Identität und werde von der Gesellschaft ausgegrenzt. | |
Pitts hält dagegen, dass es [3][die Eingewanderten jeder Couleur seien, die | |
doch am härtesten arbeiteten.] Und er fragt sich, allerdings im Stillen, ob | |
Mohammed nicht schlichtweg europäische Klischees über Afrikaner | |
internalisiert habe. Mohammed vergisst auch, dass in vielen afrikanischen | |
Kulturen Frauen besonders hart arbeiten. | |
Interessant, dass Pitts nie kontrovers diskutiert. Er lässt den Leser an | |
seinem Widerspruch teilhaben, nicht aber den Sprecher, wohl um zu | |
verhindern, dass dieser sich verschließt. Er widerspricht allerdings da, wo | |
sein Gegenüber partout keinen Rassismus erkennen will, wie im Falle von | |
Lucille, die in Schweden geboren wurde. Pitt freut sich zunächst, weil er | |
glaubt, in ihr eine vom „gleichen Stamm“ zu erkennen, Kleidungsstil und | |
Habitus ähneln sich. Lucille aber beklagt die Wehleidigkeit vieler | |
Schwarzer, es existiere „eine Art Besessenheit vom Thema „race“. Lucille | |
aber ist privilegiert. Kann man „Rasse“ isoliert von „Klasse“ denken? | |
## Vergessene Denker | |
Immer wieder trifft Pitts auf seinen Reisen Intellektuelle und Musiker, | |
ruft vergessene afropäische Denker ins Gedächtnis. In Sankt Petersburg | |
betrachtet er das Puschkin-Denkmal und erinnert den Leser an das | |
afrikanische Erbe des berühmten Schriftstellers mit dem wilden Haar, von | |
dem so mancher vielleicht gar nichts ahnt. Pitts selbst muss seinen Afro, | |
der ihn im Gegensatz zu seiner Hautfarbe eindeutig als Farbigen ausweist, | |
in Russland verstecken. Einmal fühlt er sich hier von Neonazis verfolgt. | |
Je länger man liest, desto mehr zweifelt man daran, ob es so etwas wie ein | |
afropäisches Projekt geben kann. Sicher, das Attribut ist sinnvoll, weil es | |
die Bindestrich-Identitäten auflöst. Es führt symbolisch zwei kulturelle | |
Identitäten zusammen, macht deutlich, dass „afrikanisch“ und „europäisc… | |
zusammengedacht werden können. Aber vielleicht ist der Maßstab einer | |
paneuropäischen Erkundungsreise zu groß. Wie können zwei oder drei | |
Gesprächspartner ganze Communities repräsentieren? | |
## Es fehlt eine Art „Mitte“ der afropäischen Gesellschaft | |
Zudem fällt eine seltsame Geschlechterdisparität auf, wenn es um den | |
Zusammenhang von „Rasse“ und Klasse geht: Pitts spricht mit hochgebildeten | |
Frauen, aber die Putzfrauen, Hausangestellten, die Mütter und Omas bleiben | |
stumm. Er spricht mit jungen Geflüchteten, die Verzweiflung und Frustration | |
in sich tragen, und mit älteren Intellektuellen, aber es fehlt eine Art | |
„Mitte“ der afropäischen Gesellschaft. | |
Immerhin aber versammelt das Buch interessante Geschichten, sprachlich bunt | |
illustriert – im auffälligen Kontrast zu den Schwarz-Weiß-Fotografien im | |
Buch. Die Fotos übrigens zeigen schwarze Europäer vor allem in | |
Transitsituationen. Im Bus, in der Bahn, an Haltestellen. Bilder vom | |
Ankommen, hoffentlich. | |
13 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Marlen Hobrack | |
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