# taz.de -- Erinnnerung der Ostkultur: Ganz groß in Japan | |
> Marko Martin legt mit „Die verdrängte Zeit“ ein überaus kenntnisreiches | |
> und unterhaltsames Buch über die Kultur der DDR vor. Ohne Nostalgie und | |
> Frust. | |
Bild: Die Band Alphaville, etwas in die Jahre gekommen, bei einem Konzert in Wa… | |
Anonym senden zwei Jungen eine Postkarte an Radio 3 Bayern. Ihr Wunsch ist | |
nicht ungewöhnlich, sie wollen nur eins: Alphaville hören. Big in Japan. | |
Ganz big, damals. Gezeichnet ist die Postkarte mit „Die zwei aus Sachsen“, | |
und tatsächlich wird der Bayern 3 Moderator den Song für die zwei aus | |
Sachsen ankündigen. | |
Sachsen ist damals Teil der DDR, das macht den Wunsch so heikel. [1][Und | |
einer der beiden Jungen heißt Marko Martin.] Der hat jetzt ein Buch | |
vorgelegt über die Kultur des Ostens, über all das, was seit den Jahren der | |
Wiedervereinigung aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht wurde – über das | |
auch, was vielleicht nie Teil des kulturellen Gedächtnisses werden konnte. | |
„Die verdrängte Zeit“ heißt es, und unter all den Texten, die sich auch in | |
diesem Jahr anlässlich der Einheitsfeierlichkeiten auf Zeitungsseiten und | |
in den Buchkatalogen drängen, ist dieser die vielleicht größte Bereicherung | |
der Debatte, weil er den Blick zurück ohne Bitterkeit wagt. | |
Kultur, so eine Erkenntnis des Buches, wurde mit enormer Bedeutung | |
aufgeladen – nicht zum Zwecke „bourgeoiser“ Selbstvergewisserung, sondern | |
als mögliche Protestnische gegen das System. „Später, nach dem Ende der | |
DDR, würde Musik nie wieder diese Bedeutung haben – und nie wieder derart | |
befrachtet sein.“ So wird auch ein Radiowunsch zur kleinen Revolte. | |
Martin liefert einen kenntnisreichen Parforceritt durch alle Kompartimente | |
der Kultur des Ostens, durch Literatur, bildende Kunst und die Welt des | |
Films, durch Hoch- und Popkulturelles, Staatstragendes und | |
Nischenproduktion. Noch einmal einen unvoreingenommenen Blick auf die | |
kulturelle Produktion der DDR zu werfen, auf jene Kulturleistungen, die | |
nicht wegen, sondern trotz des Parteiregimes und seiner „strangulierende(n) | |
Wirkung“ entstanden, das ist sein Ziel. | |
Entscheidend sind dabei Modus und Tonfall des Textes: Nicht als | |
(n)ostalgisches Schwelgen in DDR-Kultur kommt dieser Text daher, geht es | |
doch in vielen Fällen gerade darum, das in Erinnerung zu rufen, was auch in | |
der DDR kaum kulturelle Wirkung entfalten konnte, eben weil Texte, Filme | |
oder Musik verboten wurden. Auch ist der Text keine bittere Anklage an den | |
ignoranten Westen, wobei Martin natürlich analysiert, warum diese so | |
beispielhafte Verdrängung von Kulturleistung nach 1989 eigentlich möglich | |
war. | |
## Keine Schuldzuweisungen | |
„Ideologisierte Abwehr, Ressentiments, Unkenntnis“ sei dafür | |
verantwortlich, nicht struktureller Natur, aber doch als vorhandene | |
„Unterströmung“ spürbar. Indiz für die immerhin wahrnehmbare Ignoranz sei | |
die Rede von der „Blackbox DDR“. Zugleich lehnt Martin „Schuldzuweisungen | |
und DDR-nostalgische Selbstexkulpierungen“ ab. | |
Beispielhaft: die Diskussion um DDR-Kunst in Form des deutsch-deutschen | |
Bilderstreits. Hätten [2][staatstragende Künstler wie Willi Sitte und | |
Werner Tübke] nicht auch nach 1989 reüssieren können? Unangepasste wie | |
Cornelia Schleime oder Roger Loewig dagegen seien bis heute wenig bekannt. | |
Auch im Osten, muss man hinzufügen. | |
Martin übrigens schreibt hinreißend spitz. Gallig der Kommentar zu Willi | |
Sittes „Liebespaar im Badezimmer“, das aussehe, „als hätte Arno Breker b… | |
Malen zu viel Rotkäppchensekt gekippt“. | |
## Ein bisschen sexistisch | |
Schön erzählt ist das Beispiel einer gemütlichen Privatrunde, in der – mehr | |
oder weniger kenntnisreich – über ostdeutsche Literatur vor 1989 gesprochen | |
wird. Die Figur des „spitzelnden Wortejongleurs“ Hermann Kant wird zu | |
„Hermann Cunt“, „worauf einer der nach 1990 Geborenen sagt, den Arm sanft | |
um seine Freundin gelegt: ‚Sorry, aber das ist jetzt doch ein bisschen | |
sexistisch.‘“ | |
Bei all dem hintergründigen Witz möchte man beinahe, beinahe aber nur!, | |
darüber hinwegsehen, dass der Text einige kapitale (Tipp-)Fehler enthält, | |
die dem Lektorat entgingen. Maler Hubertus Giebe wird zu „Hubert“ Giebe; | |
Günter de Bruyn wird zu „der Bruyn“ vertippt. Egal, man liest mit Gewinn! | |
21 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Marlen Hobrack | |
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