# taz.de -- Weihnachten zur Wendezeit: Krisen gehen vorüber | |
> Weihnachten 1990 war für besonders für Ostdeutsche ein ambivalentes. Doch | |
> die Krise nach der Wende machte die Menschen auch klüger. | |
Bild: Ostberlin 1990, Erich Honeckers Portrait landete im Müll, und die DDR be… | |
Vor dreißig Jahren versammelten wir uns am Weihnachtsabend in unserem | |
Ostberliner Elternhaus. Es gab Gulasch und böhmische Knödel, das war's aber | |
auch schon [1][mit der Normalität]. Meine beiden Geschwister kamen mit | |
ihren PartnerInnen und den vier Kindern, ich mit meiner gerade ein Jahr | |
alten Tochter. Meine Mutter und mein Vater waren nun endgültig arbeitslos. | |
Das Jahr 1990 war erschöpfend gewesen. Das Land, das wir gekannt hatten, | |
hatte sich abgeschafft und abschaffen lassen. Die Arbeitsstellen meiner | |
Geschwister – ein Verlag, ein Außenhandelsunternehmen – waren unnötig | |
geworden. Mein einst heiß begehrtes Studium – Werbung! in der DDR!! – galt | |
plötzlich als Quatsch mit Sauce. Und als geschiedene Studentin waren das | |
Kind und ich im neuen Land plötzlich soziale Problemfälle. Gut, dass wir an | |
diesem 24. Dezember 1990 noch nicht wussten, dass unsere schlauen und | |
fleißigen Eltern nie wieder Arbeit finden würden. | |
Warum ich das erzähle? Weil ich etwas Wichtiges gelernt habe in jener Zeit, | |
die wir heute Wende nennen. Etwas, was ich jetzt in der Coronakrise gut | |
gebrauchen kann. Zum einen, dass Krisenerfahrungen klügere Menschen aus uns | |
machen. Dass sie den Blick schärfen für das Wesentliche. | |
Und dass aus der Scheißerfahrung Schlüsse gezogen werden dürfen für das, | |
was wir Zukunft nennen. [2][Die Angst macht uns vorsichtiger], die Sorge | |
mitfühlender, die Erfahrung klüger. Das ist doch immerhin etwas. Zum | |
anderen: Aus Krisen entsteht etwas Neues (nicht immer Besseres, aber | |
immerhin). | |
## Jammern gehört dazu | |
Denn so sorgenvoll dieser Weihnachtsabend vor dreißig Jahren gewesen sein | |
mag – keineR aus unserer Familie würde heute behaupten, seither ein | |
Scheißleben geführt zu haben. Ich zum Beispiel habe einen Beruf gefunden, | |
der mich glücklich macht. Ich habe eine Liebe gefunden, die ich nie | |
getroffen hätte. Ich habe Länder bereist, die für meine Augen nicht | |
vorgesehen waren. | |
Und, das ist vielleicht das Wichtigste, ich habe irgendwann begriffen, dass | |
jede Krise endet. Wirklich jede. Auch meine Eltern, für die dieses | |
wiedervereinigte Land keine Verwendung zu haben meinte, haben sich nicht | |
abweisen lassen. Sie haben sich politisch eingebracht und können sagen, ein | |
wirklich interessantes, erfülltes Leben gelebt zu haben. | |
Über so was denke ich gerade nach. Ja, Jammern gehört dazu. Ein gepflegter | |
Kummer von Zeit zu Zeit ist be- und entlastend zugleich. Wir Ostdeutsche | |
haben daraus bekanntlich gleich [3][eine komplette Kultur geform]t. Wir | |
haben eben tatsächlich lernen müssen, was so eine Krise mit jedem und jeder | |
anstellt. Aber wir haben eben auch erfahren, wie Dinge sich zum Guten | |
entwickeln können, von denen wir meinten, sie nie überwinden zu können. | |
An diesem Weihnachtsabend, dreißig Jahre später, werden wir uns eine Stunde | |
in der Kälte treffen. Meine Eltern und wir „Kinder“ werden einander in die | |
Augen blicken und uns freuen, einander zu haben. Alles andere kommt | |
erfahrungsgemäß nicht in Frage. | |
24 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Anja Maier | |
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