# taz.de -- Reisebericht über Hongkong und China: Fußangeln für die Durchmar… | |
> Marko Martin verbringt einen Jahreswechsel in Hongkong. Angesichts der | |
> chinesischen Repression denkt er über Unterdrückung und Befreiung nach. | |
Bild: Protest mit Regenschirm: Am Rande einer Demonstration in Hongkong, 2019 | |
Einer der Aphorismen in „The Flame“, dem [1][letzten Buch Leonard Cohens,] | |
lautet: „Oh, and one more thing: you aren’t going to like what comes after | |
America.“ | |
After America: der kommende politisch-ökonomisch-militärische Welthegemon | |
wird nach Lage der Dinge die Volksrepublik China sein, und Marko Martins | |
schönes Buch „Die letzten Tage von Hongkong“ ist deshalb nicht nur ein | |
literarischer Reisebericht über den Jahreswechsel 2019/20 – den er mit | |
seinem Partner in der ehemaligen britischen Kronkolonie verbracht hat –, | |
sondern vermutlich auch eine Art Blick in die Zukunft der Welt. | |
Anders als in vielen seiner früheren Bücher hat der demokratische | |
Reiseintellektuelle Martin diesmal nicht die Kollegen aufgesucht. Nicht die | |
Begegnung mit Sprecherinnen der in jenen Wochen und Tagen durch die | |
Pekinger Regierung niedergeknüppelten Demokratiebewegung Hongkongs stehen | |
im Mittelpunkt des Buchs, sondern das private Leben der großen, | |
faszinierenden und bedrohten Stadt: Hotels, Straßen, Clubs, Geschäfte, | |
Restaurants, Musik, Filme, Sex. Der Aufstand und seine Niederschlagung, | |
sein Gerücht, seine Andeutung sind dabei in jeder Beobachtung, in jeder | |
Begegnung, in jedem Gespräch atmosphärisch anwesend. | |
Die Angst und [2][das allgegenwärtig Bedrückende,] das den Alltag während | |
jenes Hongkonger Jahreswechsels durchdringt, ist das eigentliche Thema des | |
Buchs. Und in den letzten Tagen des Freundespaars in Hongkong erreichen sie | |
außerdem die ersten – noch halb geflüsterten – Nachrichten über den | |
Ausbruch einer noch unbekannten Krankheit in Wuhan. Sie wird sich, während | |
das Buch geschrieben und publiziert wird, über die ganze Welt verbreiten. | |
Das halb erstickte Flüstern angesichts totalitärer Macht – und ineins damit | |
die Mikropolitik innerer Auflehnung, die in bestimmten historischen | |
Situationen große Reiche stürzen kann: das sind die Lebensthemen des | |
ehemaligen DDR-Bürgers und selbstbewussten Außenseiters Marko Martin. | |
## Kämpfe unserer Epoche | |
Deshalb bringt der – vermutlich ursprünglich eher unpolitisch geplante – | |
Silvesterurlaub in Hongkong die Erinnerung an Unterdrückungs- und zugleich | |
Befreiungserfahrungen in ihm herauf, jene antitotalitären und | |
dissidentischen Theorien, Gespräche und Freundschaften, die Marko Martin | |
auf einer jahrzehntelangen Lebensreise durch die demokratischen Kämpfe | |
seiner Epoche in sich angesammelt hat und die er wie kaum ein anderer | |
deutscher Schriftsteller in gewisser Weise verkörpert. | |
Die Innenansicht totalitärer Repression wird in seinem Monolog lebendig, | |
und zugleich alles, was man gegen sie denken und tun kann. Hongkong 2019 | |
erinnert ihn an Prag 1968, an das Portugal der Nelkenrevolution, an die DDR | |
vor Ausbruch des demokratischen Umsturzes. In der genauen Beobachtung des | |
chinesischen Alltags und in der Erinnerung an die eigene Lebens- und | |
Aufschreibgeschichte sucht er Spuren der Auflehnung, jene Momente, in denen | |
die Angst plötzlich nicht mehr allmächtig ist. | |
Es sind die kleinen, unscheinbaren „Zusatzgeschichten als Fußangeln für die | |
Großen Erzählungen der Linienzieher, Durchmarschierer, Plakataufsteller“, | |
in denen sich diese geschichtliche Wahrheit ausspricht. Marko Martins Buch | |
ist die Mikroskopie einer zeitgeschichtlichen Umbruchperiode, die gerade | |
erst begonnen hat. „Oh and one more thing: you aren’t going to like what | |
comes after America.“ | |
31 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Stephan Wackwitz | |
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