| # taz.de -- Schriftsteller über Pegida und Mauerfall: „Das Pack, vor dem ich… | |
| > Marko Martin, 1989 aus der DDR in die Bundesrepublik gekommen, spricht | |
| > über selbstgerechte westdeutsche Linke – und das Privileg, frei zu leben. | |
| Bild: Marko Martin ist nicht so gut auf Pegida zu sprechen | |
| taz: Herr Martin, vor 25 Jahren fiel der Eiserne Vorhang, auch in Berlin | |
| wurde im letzten Jahr gefeiert. Was wurde aus Ihrer Sicht zelebriert – und | |
| was fiel dabei herunter? | |
| Marko Martin: Es wurde das verdrängt, an was ich in meinem Buch zu erinnern | |
| versuche – die Vorgeschichte, die intellektuellen Vordenker. Stattdessen | |
| hatte man wieder einmal das Gefühl, „89“ bestünde nur aus Genschman auf d… | |
| Prager Balkon, Schabowski mit seinem Zettel, „Wahnsinn“ rufenden | |
| Ostberlinern auf der Bornholmer Brücke – und pathetischen Flachdenkern wie | |
| Wolfgang Thierse oder Friedrich Schorlemmer, die nun erneut erklären, was | |
| seitdem alles falsch gelaufen sei. | |
| Und wer hat Sie interessiert? | |
| Polen wie der Dichter Czeslaw Milosz, der die Gewerkschaft Solidarnosc | |
| spirituell inspiriert hatte, oder Jerzy Giedroyc von der Exilzeitschrift | |
| Kultura: Immerhin hatte der Mann die liberale Oppositionselite derart | |
| geprägt, dass bis heute in Polen eben keine chauvinistischen | |
| Grenzstreitigkeiten um ukrainisches oder litauisches Gebiet ausbrechen und | |
| dort tatsächlich Frieden herrscht. Oder die tollen Männer und Frauen der | |
| tschechischen Dissidentenbewegung Charta 77, die ich nach der Revolution 89 | |
| kennenlernte, als es in Prag tatsächlich für eine kurze Frist diesen | |
| poetischen Moment gab: die Guten an der Macht. | |
| Sie trafen auch Hans Sahl … | |
| … ja, Schriftsteller, ein hellwacher, grundgütiger Greis. Als Jude 1933 aus | |
| Deutschland vertrieben, 1936 der Bruch mit dem Kommunismus – und damit auch | |
| mit Brecht – und Anfang der Neunziger in seiner Tübinger Rückkehrerklause | |
| sitzend und über doppeldeutsche Mentalitäten sinnierend. Die Dreistigkeit | |
| der Täter, die Lebenslügen der Mitläufer, das naive Geschwätz der | |
| Unbeteiligten, die es freilich nie mit den Opfern der Diktatur hielten, | |
| sondern eher mit deren Profiteuren. Kurz, solche Menschen haben mich | |
| fasziniert, nicht die plappernden Charaktermasken im öffentlich-rechtlichen | |
| Fernsehen. | |
| Wie kamen Sie überhaupt in den Westen, wie sahen Sie ihn? | |
| Ich kam im Mai 1989 mit Eltern und Schwester im Übersiedlerlager Gießen an. | |
| Dann der Weg über andere Aufnahmelager zum Bodensee, wo ich mein Abitur | |
| nachholen konnte, was mir in der DDR als Nicht-FDJler verweigert worden | |
| war. Eine gute, eher undramatische Geschichte also, denn anders als mein | |
| Vater war ich als Kriegsdienstverweigerer zuvor nicht in Haft gekommen. | |
| Ein Unterschied … | |
| … in der Tat: von der Stasi verhört zu werden, wie es mir geschah, oder in | |
| einer Stasizelle zu sitzen, monatelang in Isolation, wie 1977 der | |
| Schriftsteller Jürgen Fuchs. | |
| Und Ihre Erfahrungen im Westen? | |
| Gute Erfahrungen gelebter Freiheit, freilich mit bis heute andauernder | |
| Verwunderung. Die Pegida-Narren von Dresden unterscheiden sich nämlich gar | |
| nicht so sehr von der selbstbezogenen Jammrigkeit eines | |
| westlich-linksbürgerlichen Milieus. | |
| Das erläutern Sie uns bitte. | |
| Noch lebten wir damals von der Sozialhilfe, schon mussten wir von sensiblen | |
| Gomera-Fans erfahren, dass in der Bundesrepublik „soziale Kälte“ herrsche. | |
| Heute, nach vielen Reportagereisen in die Elendsgebiete dieser Welt, würde | |
| ich sagen: verwöhnte narzißtische Wohlstandsweiße, deren kritische Haltung | |
| nur Camouflage ist, um desto ungenierter über die eigenen Wehwehchen zu | |
| lamentieren. | |
| Das klingt nach Verachtung. | |
| Durchaus, aber nicht in wütender Form. Ansonsten sind diese Leutchen ja | |
| sehr nett, und man steht bei einem Verlagsempfang lieber neben ihnen als | |
| neben irgendeinem vor Stolz dampfenden „Patrioten“. Bis dann bei einem Glas | |
| Weißwein wieder die Rhetorikmaschine angeworfen und man belehrt wird, dass | |
| Putin „doch bitte mal etwas differenzierter betrachtet“ werden solle. | |
| Wie interpretieren Sie den damaligen Widerwillen vieler Linker gegen die | |
| Wiedervereinigung? | |
| Um ehrlich zu sein: Der Widerwille hat mich viel weniger gestört als das | |
| permanente Schönreden östlicher Diktaturen. Dieses oft aggressive | |
| Nicht-Wissen-Wollen. Aber um fair zu sein: Es gab ja nicht nur die | |
| Ignoranten, die bei jeder Ostblockthematisierung ein gelangweiltes | |
| „Geschenkt!“ von sich gaben, sondern auch Extrotzkisten und Maoisten, die | |
| während des polnischen Kriegsrechts Bücher und dringend benötigte Klamotten | |
| geschmuggelt hatten. Dazu Leute wie Daniel Cohn-Bendit oder Christian | |
| Semler, der in der taz via Roland Jahn und Jürgen Fuchs Kontakt hielten zur | |
| osteuropäischen Opposition. Dass es aber ausgerechnet in der taz irgendein | |
| Idiot war, der einen mutigen Typ wie eben Jürgen Fuchs als bärtigen | |
| Bürgerrechtlertrottel darstellte, den man in ein Shampoofass stecken sollte | |
| … | |
| … hat Sie verletzt? | |
| Jein. Es gibt halt Peinlichkeiten, die auf den Verursacher zurückfallen. | |
| Ralph Giordano hat mir einmal einen Satz mitgegeben, der die | |
| Menschenrechtsrelativierung der Rechten und vieler Linker genial auf den | |
| Punkt bringt: „Es gibt eine Internationale der Einäugigen, die in einem | |
| Teil der Welt das bekämpft, was sie in einem anderen Teil der Welt | |
| rechtfertigt.“ Voilà … | |
| Wie verstehen Sie Günter Grass’ Diktum, Deutschland solle wegen Auschwitz | |
| geteilt bleiben? | |
| Als Instrumentalisierung der Schoah, die damals auch viele jüdische | |
| Intellektuelle kritisiert hatten. Überhaupt der ostentative Philosemitismus | |
| des von Grass repräsentierten Milieus: kitschige Klezmerabende, feuchte | |
| Augen bei Nennung des Namens Anne Frank – und gleichzeitig diese Eiseskälte | |
| gegenüber der komplexen Situation Israels. | |
| Hätten Sie ein Beispiel? | |
| Im Januar 1991, als Saddam Hussein drohte, „ganz Israel in ein Krematorium | |
| zu verwandeln“, hatten all die Grass’ und Walter Jens’ – über deren fr… | |
| NSDAP-Mitgliedschaft man noch nichts wusste – nichts Besseres zu tun, als | |
| Israel die Solidarität zu verweigern, weiße Bettlaken zu schwingen und | |
| gegen die Lieferung von Abwehrraketen zu demonstrieren. Juden mit Gasmasken | |
| und dann einer wie Christian Ströbele, der Saddams Mordattacken – die auch | |
| israelische Araber zu Opfern machten – zur logischen Konsequenz | |
| „israelischer Politik“ erklärte. Widerlich. | |
| Warum wurde die antikommunistische Geschichte der libertären Linken, | |
| verkörpert durch Menschen wie Manès Sperber oder Hans Sahl, von Linken | |
| nicht sehr geschätzt? | |
| Wahrscheinlich, weil diese Intellektuellen von den Widersprüchen und | |
| Brüchen ausgingen und immer wieder auch das eigene Referenzsystem | |
| hinterfragten. „Auch wer gegen den Strom schwimmt, schwimmt im Strom“ – d… | |
| war so ein typischer Satz von Manès Sperber. Damit schafft man sich eben | |
| keine Gefolgsmassen – zum Glück. | |
| Was haben Sie, was so viele in der DDR nicht hatten – Neugier und Freisinn? | |
| Na, das ist jetzt schon sehr privat. Außer der Tatsache, dass ich den | |
| besten Ehemann der Welt habe und durch Reportagereisen das Glück, mich | |
| nicht dauernd in einem misslaunig deutschen, ethnisch wie sozial homogenen | |
| Kokon aufhalten zu müssen –, ich halte es mit dem polnischen Historiker | |
| David Warzawski, dem ich das Motto meines Buchs verdanke: „Wer das Jahr | |
| 1989 erlebt hat, hat nicht das moralische Recht, Pessimist zu sein.“ Es | |
| verschafft nämlich Energie gegen das Ungute der Jetztzeit. | |
| Wie halten Sie von den jetzigen Montagsdemos und Pegida? | |
| Böse, verbitterte Spießer, die eben nicht an Lösungen zweifellos | |
| bestehender Probleme interessiert sind, sondern an einer – zumindest | |
| rhetorischen – Delegitimierung der liberalen Demokratie. Wer jedoch vor ein | |
| paar Jahren hier im Westen noch selbst gegen das „Schweinesystem“ auf die | |
| Straße gegangen war oder die tägliche Kärrnerarbeit von Reformisten | |
| lächerlich machte, sollte erst mal tief durchatmen, ehe er Pegida von hoher | |
| Warte kritisiert. Was aber das amorph schimpfende Kollektiv dieser | |
| sächsischen Duckmäuser betrifft: Das ist genau das Pack, vor dem ich im | |
| Frühjahr 1989 geflüchtet bin. | |
| Sind Ihre Eltern stolz auf Sie? | |
| Das müssten Sie die schon selbst fragten. Jedenfalls bin ich stolz auf | |
| Eltern, die 89 auf volles Risiko das Ränzel schnürten und diese | |
| verschmierte DDR verließen, anstatt auf „oben“ zu warten. Nicht zu | |
| vergessen mein Urgroßvater: ein Anarchosyndikalist, der sich in der | |
| Weimarer Republik mit Kommunisten und Nazis anlegte und nach 1933 die | |
| Bücher versteckte, die ich dann später entdeckte: Emma Goldmann, Heinrich | |
| Heine, Magnus Hirschfeld. Wenn man solche Vorfahren hat, kann man sich das | |
| paralysierende Generationenhickhack sparen und mit Volldampf in die Welt | |
| segeln. Ja, das ist ein verdammt schönes, geradezu unverdientes Privileg. | |
| 9 Jan 2015 | |
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| Jan Feddersen | |
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