| # taz.de -- HIV im Kalten Krieg: Die Aids-Verschwörung | |
| > Die USA sollen das HI-Virus gezüchtet und an Gefängnisinsassen getestet | |
| > haben. Eine gefährliche Lüge von Stasi und KGB. | |
| Bild: Die Stasi war maßgeblich an der Verbreitung der Verschwörungstheorie be… | |
| 1983. Kalter Krieg. In einer indischen Tageszeitung erscheint ein | |
| Leserbrief, der – mehr oder weniger direkt – andeutet, die USA hätten das | |
| HI-Virus in einem Labor im Pentagon gezüchtet. Die Reaktionen sind | |
| verhalten. Erst 1987 gibt ausgerechnet die taz dem Hypotheseball den | |
| Schubs, den er braucht, um zu einer Lawine zu werden. | |
| In diesem Jahr nämlich bietet der DDR-Schriftsteller Stefan Heym der | |
| taz-Redaktion ein Interview mit dem emeritierten Biologieprofessor Jakob | |
| Segal an. Der gebürtig sowjetische Wissenschaftler und ehemalige Leiter des | |
| Instituts für allgemeine Biologie an der Humboldt-Universität gab 1986 | |
| gemeinsam mit seiner Frau, der Immunologin Lilli Segal, ein Büchlein mit | |
| dem Titel „Aids – Natur und Ursprung“ heraus. Darin stellt er die Hypothe… | |
| auf, das HI-Virus sei 1979 von den USA als Geheimwaffe kreiert worden und | |
| durch zahlreiche Tests an Gefängnisinsassen in Umlauf geraten. | |
| Aids, das Schreckgespenst. Die USA, der Feind. Die taz druckt das Interview | |
| im Februar 1987 ab. Beinahe zeitgleich veröffentlicht Entwicklungspolitik, | |
| eine Zeitschrift des Evangelischen Pressedienstes (epd), eine Rezension | |
| über die Studien Segals. Medien in über 80 Ländern springen auf. | |
| Dass diese vermeintlichen Forschungsergebnisse allesamt falsch sind und | |
| gezielt gestreut wurden, um die Glaubwürdigkeit der USA zu untergraben, | |
| weiß zu diesem Zeitpunkt noch niemand. | |
| ## Medien verbreiten Thesen | |
| Den Entstehungsprozess der aus diesem Medienhype entstandenen | |
| Verschwörungstheorie und die Frage nach ihren Hintermännern untersuchen die | |
| Historiker Dr. Douglas Selvage und sein Kollege Christoph Nehring in ihrem | |
| neuen Buch „Die AIDS-Verschwörung“. Nehring stieß im Rahmen seiner | |
| Dissertation in Bulgarien auf verdächtige Stasiakten, die seine Neugier | |
| weckten. Die beiden Forscher vertieften sich in die Unterlagen, | |
| recherchierten, verfolgten Spuren und wühlten sich durch Stapel | |
| hochgeheimer Dokumente von KGB, Stasi und der bulgarischen | |
| Staatssicherheit. | |
| Nach neunmonatiger Arbeit sind sie sich sicher: Das Gerücht über das | |
| laborgezüchtete HI-Virus und Berichte über angebliche Menschenversuche an | |
| Gefängnisinsassen im amerikanischen Fort Detrick fußen auf einer | |
| großangelegten Desinformationskampagne von KGB und Stasi. | |
| Schon der Leserbrief in Indien sei eine Art Testballon gewesen, sagt | |
| Selvage. „Der KGB wollte sicherstellen, dass Indien im Kalten Krieg auf der | |
| russischen Seite bleiben würde. Deshalb gab es damals eine regelrechte | |
| Serie von KGB-Propaganda, um Indiens Beziehungen zu den USA und Pakistan zu | |
| stören.“ Aber erst 1985, als in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für | |
| Staatssicherheit (MfS) der DDR ein kompetenter partner in crime gefunden | |
| war, nahm die Geschichte Fahrt auf. | |
| Jakob und Lilli Segal wurden willige Gesichter der Kampagne. Ob sie | |
| bewusste Mitarbeiter der Geheimdienste waren, von ihnen manipuliert wurden | |
| oder von sich aus mit ihrer Forschung anfingen, kann nicht abschließend | |
| geklärt werden. Auf jeden Fall glaubten sie an ihre These, die beide bis zu | |
| ihrem Tod vertraten. Der Verdacht, dass Jakob Segal von der Arbeit der | |
| Geheimdienste wusste, liegt jedoch nah, befinden Selvage und Nehring in | |
| ihrem nicht immer leicht lesbaren, aber insgesamt hochinteressanten Buch. | |
| ## „Es wurden keinerlei harte Fragen gestellt!“ | |
| „Was mich bei unseren Forschungen zum Buch am meisten verwundert hat“, sagt | |
| Selvage, „war, mit wie wenig Nachrecherche in Westberlin und | |
| Westdeutschland die Informationen übernommen wurden. Wenn das HI-Virus | |
| tatsächlich an Gefangenen getestet worden wäre, wie Segal behauptet hat, | |
| dann hätte es doch Betroffene geben müssen, Zeugen, Informanten. Aber es | |
| wurden keinerlei harte Fragen gestellt, und nach Zeugen und Betroffenen | |
| scheint niemand gesucht zu haben!“ | |
| Und als schließlich recherchiert wurde, war es zu spät. Obwohl die taz nur | |
| wenige Tage nach der Veröffentlichung des Heym-Interviews den Artikel eines | |
| bedeutenden Berliner Virologen abdruckte, der Segals Theorie widerlegte, | |
| hatten die kritischen Stimmen keine Chance mehr. Zu bereitwillig gaben die | |
| Medien und ihre Rezipienten Segals Hypothese wieder. Nicht einmal | |
| Gorbatschows leise Entschuldigung bei der US-Regierung im Sommer 1987 | |
| konnte den Selbstläufer stoppen. | |
| Dass die taz 1998 Segals sogenannte Fort-Detrick-Theorie auf Platz 2 der 21 | |
| besten Verschwörungstheorien aller Zeiten wählte, tat der Hartnäckigkeit, | |
| mit der sich das Gerücht hielt, keinen Abbruch. Weder die Aussage zweier | |
| Mitarbeiter der HVA noch die des Leiters der russischen Auslandsspionage, | |
| der 1992 einräumte, dass der sowjetische Geheimdienst hinter der | |
| Desinformationskampagne gestanden habe, konnten die Verbreitung der Lüge | |
| stoppen. | |
| ## Rassistisch und homophob | |
| Die Verschwörungstheorien sind nicht nur haltlos, sie sind auch gefährlich, | |
| resümieren die Buchautoren. Bis heute wird Segals These zusammen mit seinen | |
| Vorschlägen für unbewiesene Therapien mit Aspirin oder der ultravioletten | |
| Bestrahlung (UVB) des Blutes verbreitet. | |
| „Nicht nur der Einsatz unwirksamer alternativer Therapien, schon der Glaube | |
| an die These von HIV als Biowaffe kann Schutz und Heilung Betroffener | |
| entgegenstehen. Studien belegen, dass diesem Personenkreis ’mit | |
| ungeschütztem Geschlechtsverkehr, der Nichtbefolgung von antiretroviraler | |
| Behandlung und einem Nichttesten für HIV‘ häufig ein ausgeprägtes | |
| Risikoverhalten zueigen ist. Jedes dieser Verhaltensmuster kann tödliche | |
| Folgen haben.“ | |
| Auch die Adressierung von Rassismus und Homophobie waren immens wichtig für | |
| die Kampagne und forcierten das epidemische Umsichgreifen der Krankheit. | |
| „Das ganze Thema ist sehr viel komplizierter, als man denken würde“, gibt | |
| Selvage zu bedenken. „Es gibt wegen Aids so viele rassistische Vorurteile – | |
| aber das heißt doch nicht, dass das Virus nicht aus Afrika kommen darf! Es | |
| ist längst bewiesen, dass das HI-Virus natürlichen und nicht künstlichen | |
| Ursprungs ist, ebenso wie seine Herkunft.“ | |
| Durch das Buch wurden die Autoren Experten für Verschwörungstheorien. Die | |
| seien, sagt Selvage, selbst wie Viren. „Normalerweise stellt jemand | |
| vernünftig und rational eine Hypothese auf und gibt sie bei fundierten | |
| Gegenbeweisen wieder auf. Bei Verschwörungstheorien ist das anders. Da wird | |
| auf Gedeih und Verderb an der These festgehalten, und jedes Gegenargument | |
| wird mit einem weiteren Argument, und sei es noch so an den Haaren | |
| herbeigezogen, widerlegt.“ | |
| Er selbst glaubt den Medien schon lange nicht mehr. „Man muss alles | |
| sorgfältig überprüfen. Die Medien sind postmoderner geworden, sie | |
| vermitteln keine Wahrheiten mehr, sondern nur noch Standpunkte. Einer sagt, | |
| der Himmel sei rot, der andere behauptet, er sei blau, und keiner schaut | |
| mehr aus dem Fenster, um herauszufinden, welche Farbe er wirklich hat.“ | |
| 13 Jan 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Tania Witte | |
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