# taz.de -- Buch „Das Geheimnis der Rückkehr“: Auf dem Unabhängigkeitsbou… | |
> 30 Jahre lang reiste der Essayist Stephan Wackwitz mit dem | |
> Goethe-Institut um die Welt. In „Das Geheimnis der Rückkehr“ erzählt er | |
> davon. | |
Bild: Der Autor Stephan Wackwitz, die „schwäbische Antwort auf Woody Allen�… | |
„Studiolo“, „Sprezzatura“, „wobbliness“: Das sind nur drei von viel… | |
Begriffen, die den Schriftsteller und Essayisten Stephan Wackwitz durch | |
sein jüngstes Buch „Das Geheimnis der Rückkehr“ begleiten. Sie klingen | |
verspielt, schöngeistig-exzentrisch, aber auch einen Tick unernst: Im | |
„Studiolo“, dem in der italienischen Renaissance der Kontemplation über die | |
Künste gewidmeten Rückzugsort, schwingt alberner Übermut mit. | |
„Wobbliness“ ahmt die bezeichnete Wackligkeit nach und klingt, als spräche | |
jemand dunkel verzerrt unter Wasser. Und „Sprezzatura“ – jene Lässigkeit, | |
die Schwieriges mühelos erscheinen lässt – schlägt vor dem inneren Auge ein | |
Pfauenrad. | |
„Das sentimentale Erlebnis der Begrifflichkeit“, zitiert Stephan Wackwitz | |
in einem Café in der Oranienstraße ausgerechnet den marxistischen | |
Literaturwissenschaftler Georg Lukács, zeichne das Essay eigentlich aus. | |
Gattungstheoretisch ist es eine eher unscharfe oder „marmorkuchenhafte“ | |
– noch so ein Wackwitz-Lieblingswort – Textform, eine persönliche | |
Auseinandersetzung mit einem Thema, weder Wissenschaft noch Literatur im | |
engeren Sinn, obwohl beides sich darin vermischen kann. | |
Ganz so, wie Wackwitz es in den meisten seiner Bücher über Tokio, New York, | |
Osteuropa, die Kaukasusregion, aber auch über seine eigene deutsche | |
Familiengeschichte immer wieder betrieben hat. Das Offene, Weiche, zum | |
politisch-weltanschaulichen Kompromiss hin Marmorierte findet sich auch in | |
der liberalen Lebensphilosophie, die der 72-Jährige im Laufe seiner | |
Doppelkarriere als Goethe-Institutsleiter und Schriftsteller für sich | |
entwickelt hat. „Das Geheimnis der Rückkehr“ zeichnet diese persönliche | |
Emanzipation als intellektuelle Autobiografie noch einmal Station für | |
Station nach. | |
## Gegen Pietismus und [1][Marxismus] | |
„Pietismus und Marxismus, das sind die Hauptfeinde. Die biografischen | |
Orks“, sagt Stephan Wackwitz und lacht dabei heiser-lautlos in sich hinein. | |
Die Herkunft aus dem Württembergischen hört man dem gebürtigen Stuttgarter | |
nur noch leise an. | |
Von seinen Eltern – der Vater war Angestellter am Goethe-Institut, die | |
Mutter künstlerisch begabte Modezeichnerin – „ein bisschen emotional | |
verwahrlost“, war er schon als Schüler in den Bann eines radikalen | |
Pietismus geraten, hatte evangelische Schulen in Schöntal und Urach | |
besucht, um dann an der Universität dem „marxistisch-leninistischen | |
Jugendirresein“ anheimzufallen. | |
Als ihm nach der Promotion über Hölderlin und zum Ende seiner | |
Lehrerausbildung eine Studienratsstelle am Waiblinger Staufer-Gymnasium | |
angeboten wurde, entschied er sich intuitiv dagegen und ging 1982 als | |
DAAD-Lektor nach London – und begann dort zu schreiben und in der alten | |
Heimat zu publizieren. | |
## Literatur der Einsamkeit | |
„Literatur der Einsamkeit, des Abseitigen, des Persönlichen und Freiheit“, | |
so beschreibt Stephan Wackwitz in seinem neuen Buch das Genre des personal | |
essay, wie Michel de Montaigne es im 16. Jahrhundert erfand. Ich frage ihn | |
nach diesem persönlichen Anteil und seine Risiken, etwa, wenn er im | |
New-York-Kapitel über das Scheitern seiner Beziehung zu „G.“ schreibt. | |
Sie sei, erklärt er, eine „aus verschiedenen Erfahrungen mit New | |
Yorkerinnen und New Yorkern zusammengesetzten Mischfigur“, mit deren Hilfe | |
er aber nicht nur eine persönliche Kränkung thematisiert, sondern auch ein | |
kulturelles Milieu beschreibt, das ständig von Prekarität bedroht und von | |
extremer Härte geprägt ist. „Diese Art von Texten“, überlegt er, „brau… | |
aber auch das Autobiografische, um zu ersetzen, was bei der Fiction die | |
Identifikation mit dem Protagonisten ist.“ | |
Nach Stationen in Tokio, Krakau, New York, Bratislava, Tiflis und Minsk ist | |
Stephan Wackwitz vor fünf Jahren nach Deutschland, in die „einzige deutsche | |
Weltstadt“ Berlin zurückgekehrt. Hier führt er nun das Leben, für das er | |
zuvor nur nach der Arbeit Zeit fand: Schreiben (auch von Artikeln für die | |
taz), Lesen, Museums- und Kinobesuche, Treffen mit seinem Sohn und | |
Freund:innen, für die er auch gerne kocht. | |
„Es ist fantastisch“, strahlt er – und wirkt mit blütenweißem Hemd, | |
markantem Brillengestell und auffällig interpretiertem | |
Nadelstreifenjackett wie die zeitgenössische Ausgabe des Dandy-Flaneurs, | |
der immer noch Stadtlandschaften wie Texte liest. | |
## Geprägt von Richard Rortys Philosophie | |
Nicht nur Begriffe begleiten Stephan Wackwitz’ Erinnerungen, sondern auch | |
zahlreiche, zumeist männliche Intellektuelle, Kunst- und Lektüreerlebnisse. | |
Allen voran [2][der amerikanische Philosoph Richard Rorty], den Wackwitz | |
live im Wendejahr 1989 an der Frankfurter Uni erlebt hat, wo jener in | |
Reaktion auf einen Vortrag des Diskursethikers Karl-Otto Apel erwiderte: „I | |
think my friend Karl-Otto Apel wants to make absolutely sure that he is no | |
Nazi. But I do not think that is necessary.“ | |
Entspann dich, auch wenn du Deutscher bist, sogar ein bisschen | |
Nationalismus darfst du dir erlauben, wenn er demokratisch abgesichert ist: | |
Diesen Lockerungsaufruf bezog Wackwitz – und mit ihm eine ganze Reihe | |
anderer deutscher Intellektueller um den [3][Publizisten Michael Rutschky] | |
– künftig auch auf sich. | |
Andere Autoren, Mentoren oder Politiker, denen er in „Das Geheimnis der | |
Rückkehr“ ungemein plastische Kurzporträts widmet, bekräftigten und | |
erweitern den von Rorty inspirierten Liberalismus um weitere, östliche | |
Facetten, etwa der polnische Politiker Adam Michnik, äußerlich schluffig, | |
aber „ein Genie der Interessiertheit an anderen“. | |
## Bei Helmut Kohl entdeckt | |
Nicht nur Politik und Philosophie, auch Kunst und Architektur lassen sich | |
durch die Rorty-Brille lesen, die allerdings auf diese Weise doch eine | |
gewisse systemische Geschlossenheit erzeugt, gegen die sie ja eigentlich | |
antritt. | |
So etwa der fiktive Mynheer Peeperkorn aus Thomas Manns Roman „Der | |
Zauberberg“ mit seinem emphatisch-versöhnlichen, aber letztlich | |
inhaltsleeren Gefasel als Metapher für eine Lebenszugewandtheit und | |
höchstens noch gestische Zackigkeit, die Wackwitz bei einem | |
Goethe-Instituts-Termin mit dem damaligen Kanzler Helmut Kohl | |
wiederentdeckt und die ihm zukunftsweisender erscheint als Ideologien und | |
Systeme von erbarmungsloser Stringenz. | |
Und in den mit Einfamilienhäusern bebauten Weinbergen und Gärtchen von | |
Bratislava entdeckt Wackwitz nicht nur eine überraschende Verwandtschaft | |
mit den Rändern von Stuttgart, sondern auch ein verräumlichtes | |
Gesellschaftsmodell, in dessen Flickenteppichstruktur bürgerliche | |
Nachbarschaftlichkeit der sozialistischen Planierung widerstehen konnte. | |
## Wo sind die Frauen? | |
Aber wo sind die Frauen in seinem Referenzsystem? Stephan Wackwitz stimmt | |
nachdenklich zu, dass sie weitgehend fehlen, erinnert dann aber doch an die | |
bewunderten US-Essayistinnen Susan Sontag und Joan Didion, die er im Buch | |
kurz streift, an die Psychologieprofessorin Tea Gogotishvili in der im | |
Grunde matriarchal strukturierten georgischen Gesellschaft, mit der er den | |
„Tigersprung aus dem Vergangenheitsgerede in die lebendige Arena | |
gegenwärtiger Gefühle und Wahrnehmungen“ trainiert habe. | |
Auch die 2018 wiederentdeckte Malerin Lotte Laserstein führt er als | |
weibliche Bezugsfigur an, nicht zuletzt, weil ihn die Alltagsmotive ihrer | |
Bilder aus der Weimarer Republik an seine eigene Mutter erinnern. | |
Und nein, einen Strick möchte man Stephan Wackwitz, der Rorty und | |
Marmorkuchen allen toxischen Ideologien entgegenhält wie der Exorzist dem | |
Teufel das Kruzifix, daraus auch nicht drehen. Zumal ihm Selbstironie alles | |
andere als fremd ist, er eigene Unsicherheiten oder die „unfreiwillige | |
Tragikomik meines Wesens“ nicht verschweigt, die sein Freund, der | |
slowakische Maler Laco Teren mit dem Bonmot auf den Punkt gebracht habe, er | |
sei die „schwäbische Antwort auf Woody Allen“ – oder Woody Allen die | |
amerikanische auf ihn. | |
Die gewichtigere Frage scheint doch, ob Ironie und liberaler Pragmatismus | |
künftig eine Chance haben, mit vielleicht noch einmal Trump im Westen, | |
Putin im Osten, einer wachsenden AfD-Fraktion im Bundestag und einem | |
Globalen Süden, der wenig Grund hat, dem alten Westen zu vertrauen? | |
## Nicht optimistisch | |
„Ich bin nicht sehr optimistisch“, sagt Stephan Wackwitz, der in | |
Transnistrien bereits das russische Vorgehen in Donezk sich wiederholen | |
sieht. Gespannt verfolgt er den prorussischen Kurs der georgischen | |
Regierung, aber auch die heftigen Proteste dagegen: „Die Leute dort haben | |
wirklich Angst vor Russland.“ | |
Andererseits ist er in Polen, der Slowakei, Georgien und Belarus immer auch | |
auf die Beharrungskräfte einer selbstbewussten Zivilgesellschaft gestoßen, | |
die selbst die sozialistischen Jahrzehnte überdauert hat und, wie in Polen, | |
auch rechte Regierungen wieder abwählen kann. Es gibt also durchaus Grund | |
zur Hoffnung, dass auch sie den „Unabhängigkeitsboulevard“, der sich im | |
Inneren von Stephan Wackwitz aufgetan hat, so schnell nicht verlassen wird. | |
21 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Eva Behrendt | |
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