| # taz.de -- Literatur aus Osteuropa: Sprung ins kalte Wasser | |
| > Zehn Schriftsteller:innen aus der Schwarzmeerregion sprechen über | |
| > Literatur in Zeiten russischer Aggression. Hier eine Auswahl ihrer Texte. | |
| Bild: Eine Badeszene am Strand von Sochumi in Abchasien, 2013 | |
| Das Schwarze Meer markiert seit jeher einen kulturell reichen und zugleich | |
| bitter umkämpften Raum zwischen Ost und West. Was aber verbindet die | |
| Menschen über Ländergrenzen hinweg, vor allem nach Beginn des russischen | |
| Angriffskriegs auf die Ukraine? Wie können sie weiter mutig ihre Stimme | |
| erheben, wenn auch das eigene Land Besatzungserfahrungen gemacht hat oder | |
| eine Invasion fürchtet? Und wie erreichen sie mit ihren unterschiedlichen | |
| Perspektiven die Welt? | |
| Auf diese Fragen sucht das transkulturelle Literaturprojekt | |
| [1][„Geschichten vom Schwarzen Meer – Black Sea Lit“] Antworten. Dafür | |
| bringt das Goethe-Institut 2023 und 2024 zehn Autor*innen aus Armenien, | |
| Bulgarien, Georgien, Rumänien und der Ukraine anverschiedenen Orten | |
| zusammen, um gemeinsam ins Gespräch zu kommen. | |
| Zuletzt trafen sich die Autor*innen im Juni zu einer einwöchigen | |
| Residenz am Sewansee in Armenien, in deren Rahmen auch diese Texte | |
| entstanden sind. Als Kuratorinnen begleiten das Projekt die | |
| deutsch-georgische Schriftstellerin Nino Haratischwili (2023) und die | |
| deutsch-armenische Schriftstellerin Laura Cwiertnia (2024). | |
| ## Das Meer, ein runder Tisch | |
| Ich war fünfzehn, als ich erfuhr, dass Fische wandern. Es gibt eine Saison, | |
| in der die Fische ihr Meer verlassen und dabei in andere Meere und Gewässer | |
| ziehen. Und ich war neunzehn, als ich außer Landes reiste und feststellte, | |
| dass meine Sprache am anderen Ufer unbekannt war. | |
| Darin liegt eine Traurigkeit: Die Fische wissen, wie sie in ihre alten | |
| Gewässer zurückkehren können, aber die Menschen sind ständig in Bewegung, | |
| um Identität und Bestätigung zu finden, indem sie erzählen, wer sie sind | |
| und woher und warum sie gekommen sind, denn alle wollen ein sicheres und | |
| friedliches Leben, und das ist das Natürliche, das ist das Wichtige. | |
| Heute, fünfzehn Jahre später und dem Projekt „Black Sea Lit – Geschichten | |
| vom Schwarzen Meer“ sei Dank, trennt uns das Meer nicht länger, sondern es | |
| vereint uns. Seit zwei Jahren ist das Meer ein runder Tisch, an dem wir | |
| sitzen: Armen Hayastantsi und ich aus Armenien, Halyna Kruk und Ostal | |
| Slyvynsky aus der Ukraine, Ina Vultchanova aus Bulgarien, Archil Kikodze | |
| und Ekaterina Kevanishvili aus Georgien, Lisa Weeda aus den Niederlanden | |
| (sie hat ukrainische Wurzeln), Bogdan Coșa und Lavinia Braniște aus | |
| Rumänien. | |
| Hier haben wir die Gelegenheit, einander kennenzulernen und festzustellen, | |
| dass wir aufgrund von Kriegen den gleichen Schmerz empfinden, dass sich in | |
| unserer Vergangenheit Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede entdecken | |
| lassen, dass wir alle unterschiedliche Erfahrungen gemacht und | |
| Schicksalsschläge durchlitten haben und deshalb unterschiedliche | |
| Vorstellungen und Narrative unter uns existieren. | |
| Armenien ist die letzte Station des Projektes, der Abschlussort. Das Meer | |
| Armeniens ist der Sewansee, der einen ins Staunen versetzt, weil er | |
| tatsächlich wie ein Meer aussieht. Deshalb nennen wir Armenier ihn auch das | |
| Gegham-Meer, eine große Wasserfläche inmitten des Gegham-Gebirges. | |
| Das Meer, unser runder Tisch. Hier haben wir einander jene Wörter | |
| beigebracht, die uns bis dahin getrennt hatten, wir haben gelernt, was wem | |
| gefällt und vor allem, was ihm oder ihr nicht gefällt. Hier haben wir uns | |
| selbst davon überzeugen können, dass zumindest in unserem Kreis Pazifismus | |
| überwiegt, aber letztlich ist der Weg dorthin unbekannt oder zumindest hat | |
| er sich sehr gut vor uns versteckt. | |
| An unserem runden Tisch haben wir die Erfahrung gemacht, dass unsere Texte | |
| die Kraft haben, das dreckige Wasser zu klären, aber zuerst mussten sie | |
| übersetzt werden. Wir haben versucht, einander zu übersetzen: am Morgen, am | |
| Abend, sogar in den heißen Mittagsstunden. Diesen Versuch haben wir in | |
| Rumänien, Georgien, Armenien und Schweden unternommen, und sogar beim | |
| Internationalen Literaturfestival Odessa, das in Bukarest stattfand. | |
| Wir haben die übersetzten Fragmente Stück für Stück gelesen und aus unserer | |
| Geschichte heraus über unsere Geschichten gesprochen. Wir haben sogar | |
| versucht, mit unseren kleinen Beispielen über die großen Geschichten zu | |
| sprechen. Ist es uns gelungen? In unserem kleinen Kreis: ganz sicher. | |
| Wir haben untereinander durch Sprache eine Verbindung hergestellt, die von | |
| einem Ufer zum anderen eine Brücke schlägt, wenn auch nur eine kleine. Ich | |
| kenne die Lieder aus Bogdans Land, er kennt die Melodien aus meinem. Ich | |
| sehe Halynas Schmerz und sie weiß, dass ich ihn verstehe. Ich mache Späße | |
| mit Archil und er kennt die Hintergründe der Witze. Inmitten unserer Berge | |
| lese ich jetzt Archils Text auf Armenisch, dazu der Klang der Handvoll | |
| Wasser … | |
| Frieden bedeutet, dass wir einander verstehen und die Kluft zwischen uns | |
| verkleinern. | |
| Es ist Abend. Wir sitzen im Kreis um eine kleine Grube und wollen ein Feuer | |
| machen. Diese uralte Form des Beisammenseins ist in ihrer Vollkommenheit | |
| unübertroffen. Wo es ein Feuer gibt, da versammeln sich Menschen. Wo sich | |
| Schriftsteller:innen versammeln, da erzählen sie. | |
| Gibt es etwas Mächtigeres und Ergreifenderes, als an einem Ort um ein Feuer | |
| herum zu sitzen und zu erzählen? | |
| ## Das Feuer in unserem Inneren | |
| Feuer in der Ukraine, Feuer vor unseren Füßen, Feuer auf Halynas Gesicht, | |
| die am Sewansee einen Sonnenbrand bekam – Feuer in unserem Inneren, damit | |
| unsere Texte herauskommen, von Küste zu Küste reisen und dort weiterleben. | |
| In dieser kleinen Grube dieses große Feuer mit all seinen Bedeutungen vor | |
| unseren Augen, auf unseren Zungen. Hier ist Frieden möglich. Für die | |
| anderen Ufer muss diese Stimme zu hören sein, sie muss existieren. | |
| Morgen schon, wenn unsere gemeinsame Zeit vorüber ist, werden wir an unsere | |
| Ufer zurückkehren und die Erfahrungen von zwei Jahren Austausch mitnehmen. | |
| Vielleicht wird sich das Meer dadurch ein wenig beruhigen. Vielleicht | |
| versteht der zurückkehrende Fisch dann sein altes Gewässer besser. Und | |
| vielleicht beginnt das Wasser dann wieder, etwas schönere Geschichten von | |
| seinen Ufern zu erzählen. | |
| Wasser, dieses wunderbare Element, das nicht weiß, was es bedeutet, | |
| Eigentum zu sein. Anush Kocharyan | |
| Aus dem Armenischen übersetzt von Anahit Avagyan und Wiebke Zollmann. | |
| ## Sonne, Salzwasser und soziale Klasse | |
| Heutzutage klingt das absurd oder zumindest schwer vorstellbar, aber in | |
| meiner Jugend habe ich ernsthaft geglaubt, Leute wie wir könnten das Meer | |
| nur im Fernsehen erleben. Dass dort nur reiche Leute hindürften: Ärzte, | |
| Anwälte, Fußballprofis, Menschen, die es geschafft hatten im Leben. | |
| Noch heute höre ich meinen Vater eher schicksalsergeben als verbittert | |
| sagen: „Wer sind wir denn, ans Meer zu fahren? Ein Bauarbeiter und eine | |
| Verkäuferin. Arme Schlucker!“ | |
| Damit bin ich sicher nicht allein: Ich kannte als Kind zumindest in unserem | |
| Viertel niemanden, der je ans Meer gefahren wäre. | |
| Sicher bekamen viele rumänische Kinder, die Söhne und Töchter von | |
| Proletariern, Ähnliches zu hören, wenn sie – in einem Augenblick der | |
| Träumerei oder des furchtlosen Überschwangs, kurz nach Anfang der Ferien, | |
| wenn der Sommer unendlich und voller Möglichkeiten schien – ihre Eltern | |
| fragten, ob sie nicht auch mal mit ihnen ans Meer fahren könnten; endlich, | |
| denn sonst war für sie ein Sommer wie der andere, den ganzen Tag lang | |
| spielen vor sozialistischen Plattenbauten, herumklettern auf den dicken | |
| Rohren, durch die im Winter der Wärmeträger strömte, um dann abends – | |
| voller Staub und Glaswolle und Rost – auf dem Teppich zwischen Elternbeinen | |
| zu lümmeln, während im Hintergrund ewig der Fernseher lief. | |
| Im Juni aß man Kirschen, verfolgte die Berichte über Badeurlauber, die | |
| verbrannt von der Sonne ins Krankenhaus mussten, und schloss daraus, dass | |
| die Betreffenden dort sowieso nichts verloren gehabt hatten, dass die Sonne | |
| sie aufgespürt und dafür bestraft hatte, dass sie sich als etwas anderes | |
| ausgaben als das, was sie in Wahrheit waren: arme Schlucker. | |
| Im Juli knackte man Aprikosenkerne und entrüstete sich einstimmig mit den | |
| großen Brüdern, wenn man hörte, was am Strand ein Eis kostet – und wenn man | |
| sah, wie fix und fertig die am Meer Gefilmten wirkten, lang hingestreckt | |
| auf Handtüchern und unter Sonnenschirmen schwitzend wie Wächter auf einem | |
| Melonenacker, es schauderte einen bei der Vorstellung, wie viel man | |
| schuften musste, um sich dort auch nur eine winzige Kugel zu leisten. (Kein | |
| Wunder, dass diese Leute gar nicht mal unbedingt glücklicher wirkten als | |
| die zu Hause gebliebenen Faulenzer.) | |
| Im August, das Gesicht halb in Wassermelone vergraben, wurde man ein wenig | |
| rot neben seiner Schwester, wenn man im Fernsehen die Frauen sah, die | |
| halbnackt, ja manchmal sogar oben ohne, im Sonnenaufgang am Strand | |
| herumhopsten, als hätte das Meer sie mit einem bösen Zauber verhext. | |
| Dann, im September, kamen sie wieder zur Besinnung, und Jahr für Jahr | |
| wurden dieselben Rentner an demselben verlassenen Strand interviewt, im | |
| Sonnenuntergang, bei pfeifendem Wind; alte Leute, die das ganze Jahr lang | |
| darauf sparten, sich die entzündeten Zehen in den schmutzigen, von Quallen | |
| und Algen verseuchten Wellen zu kühlen, doch vor allem, um sich daran zu | |
| erinnern, dass sie auch mal jung gewesen waren. Manche waren Ärzte gewesen, | |
| andere Anwälte – Menschen, die es im Leben geschafft hatten eben. | |
| ## Die wilden Neunziger | |
| Ja, weil in den wilden Neunzigerjahren – für mich eine Zeit voll trister | |
| Erinnerungen –, nun einmal alles eine Frage des Status war, war auch das | |
| Meer eine Frage des Status, so hatte ich es zumindest verstanden, so war es | |
| von Vater zu Sohn übermittelt worden, weshalb ich es bis ins Alter von | |
| neunzehn Jahren für bare Münze nahm. | |
| Erst dann, mit 19, an dem Tag, als ich meinen ersten Lohn kassierte, fasste | |
| ich den Mut, meinem Vater zu sagen, ich sei bereit, die 400 Kilometer | |
| Straße anzupacken, die zwischen unserer Kleinstadt und dem Schwarzen Meer | |
| lagen. | |
| Trotz seines Einspruchs – offiziell weil ich nicht schwimmen konnte, | |
| inoffiziell weil keiner aus unserer Sippe so etwas je getan hatte – brach | |
| ich also auf. | |
| Es war eine Initiationsreise, und die ließ sich nicht mehr aufschieben. Ich | |
| musste um jeden Preis ans Meer, das war mir so klar wie nie zuvor – | |
| allerdings nicht unbedingt, wie man meinen könnte, um es endlich zu sehen, | |
| und auch nicht um überteuertes Eis zu schlecken oder bei Sonnenaufgang wie | |
| verhext am Strand zu tanzen, sondern vor allem, um mich zu vergewissern, | |
| dass auch ich es schaffen würde im Leben, dass ich einen Studienplatz in | |
| Medizin bekäme oder in Jura. Dass ich kein armer Schlucker bleiben würde. | |
| Wenn ich heute zusehe, wie meine Tochter im Sand tollt und danach ohne | |
| jeden Hauch von Verlegenheit mit schmutzigen Füßen auf ihre Strandliege | |
| steigt, wie sie durch ihre Sonnenbrille mit den kätzchenförmigen Gläsern | |
| aufs Meer hinausschaut, ohne dabei auch nur ein einziges Mal daran zu | |
| denken, dass mindestens die Hälfte der Kinder in ihrem eigenen Land dieses | |
| Meer niemals sehen werden, obwohl es vielleicht nur einen Steinwurf von | |
| ihrem Zuhause liegt, überkommt mich dumpfe, konfuse Traurigkeit, und ich | |
| schwanke den ganzen restlichen Tag hin und her zwischen elender Schwermut | |
| und der rohen, heftigen Freude – die ich verbergen muss, für mich behalten, | |
| weil sie so eigennützig ist –, dass ich es geschafft habe. Dass das Meer | |
| für sie, für meine Tochter, das Natürlichste von der Welt ist und bleiben | |
| wird. Dass sie nie im Leben Strandurlaub an Pfützen spielen muss. Bogdan | |
| Coșa | |
| Aus dem Rumänischen übersetzt von Jan Schönherr. | |
| ## In Francies Reich | |
| Das erste, was ich sah, als wir aus dem Auto stiegen, waren die Möwen. | |
| Unmengen von Möwen, die in einem puren Entzücken am Himmel schwebten, als | |
| hätten sie einen ganzen Fischschwarm entdeckt. Sie schwebten eigentlich um | |
| den Rauch aus dem Schornstein des Fischrestaurants, das an der Autobahn | |
| zwischen den Bussen lag. | |
| Der See war von der Straße aus zu sehen, unten zwischen zwei Blechhütten – | |
| ein kleines Stück Wasser, eine kleine Bucht mit zwei Sonnenschirmen und | |
| einem Jetski. Das Ufer sah schäbig aus und das Wasser schmutzig. Und dann | |
| schaute ich nicht nach unten, sondern nach oben und sah den Sewansee – | |
| riesig, magisch, milchig grün, von allen Seiten von grauen kahlen Gipfeln | |
| und weißen Wolken umgeben. Ich nannte ihn: Francies See. | |
| Denn ich erinnere mich an diesen See, auch wenn ich ihn jetzt zum ersten | |
| Mal sehe. | |
| Ich denke an eine Begegnung mit Francie. In meiner Erinnerung sind Hitze, | |
| Wellen, die gegen das Ufer schlagen, und Sand, der überall am Körper klebt. | |
| Wir stehen nebeneinander am FKK-Strand von Sozopol an der bulgarischen | |
| Küste. Da sind nasse Haare und verbrannte Haut, da sind Freunde, die am | |
| Strand Bier trinken, und Francie, die ein langes weißes Kleid und einen | |
| Strohhut mit einer Schleife trägt. | |
| Francie kleidete sich immer wie eine Dame und ging sogar auf der Straße mit | |
| einem kleinen Sonnenschirm, damit ihr Gesicht nicht braun wurde. Francie | |
| war weiß und mollig und sah aus wie die Mutter der ganzen spindeldürren | |
| Bande in verblichenen Shorts und abgewetzten T-Shirts, die am Strand | |
| herumlungerte. Außerdem war Francie eine Schriftstellerin, das hat sie uns | |
| selbst gesagt. | |
| Ich glaubte ihr nicht so recht, denn ich war Studentin und kannte die Namen | |
| der meisten Schriftsteller, und von einer solchen Autorin hatte ich noch | |
| nie gehört. Aber Francie behauptete, sie habe bereits zwei Romane | |
| geschrieben und schreibe jetzt an einem dritten, über den Sewansee, einen | |
| See, der im Himmel liegt. Sie erzählte uns von dem See und von den | |
| Armeniern, wie sie auf der Flucht waren und wie ihr Volk nach Bulgarien | |
| kam. Sie sagte, sie würde eines Tages sehr reich werden und ein Haus am | |
| Schwarzen Meer bauen. Sie wolle es genau hier bauen, am Strand von Sozopol. | |
| Niemand konnte genau sagen, wann Francie scherzte und wann nicht, denn | |
| manchmal war sie furchtbar ernst und manchmal benahm sie sich wie ein | |
| neckisches Kind. Sie rannte ohne Kleidung am Strand entlang und rief „Guckt | |
| mal, eine nackte Schriftstellerin, guckt mal, eine nackte | |
| Schriftstellerin!“ | |
| Francie ist die erste armenische Schriftstellerin, die ich kenne. Ich bin | |
| sicher, dass sie eine Schriftstellerin war, obwohl sie keine Romane | |
| veröffentlicht hat und ich nie ihren richtigen Namen erfahren habe. Francie | |
| kam im nächsten Sommer nicht mehr nach Sozopol und wir erfuhren, dass sie | |
| im Winter davor gestorben war. Aber von da an nannten wir den Ort, an dem | |
| wir am Strand immer wieder zusammengesessen hatten, Francies Haus, wenn | |
| auch ihr Haus schon irgendwo im Himmel war. | |
| Und jetzt bin ich hierher gekommen, um ihren himmlischen See zu sehen. | |
| Er ist so schön, wie sie ihn beschrieben hat, obwohl ich nicht glaube, dass | |
| sie ihn je gesehen hat. Ina Vultchanova | |
| Aus dem Bulgarischen übersetzt von Gergana Fyrkova. | |
| ## Azurblau, aber auch finster wie die Nacht | |
| Wenn man in den Bergen geboren und aufgewachsen ist, wird einem das Meer, | |
| die Erholung am Meer immer wieder zum Wunschtraum. Vielleicht bin ich aber | |
| in so einer Zeit oder so einer Familie aufgewachsen, wo in den Ferien nicht | |
| wir irgendwohin verreist, sondern immer nur die anderen zu uns gekommen | |
| sind – mein Vater meinte dazu, es gebe doch keinen besseren Ort zur | |
| Erholung! | |
| Keinen besseren Ort als in Radscha – der westlichen Gebirgsregion von | |
| Georgien. | |
| Also blieben wir zu Hause. Dort gab es immer viele Gäste und viel zu tun, | |
| dort gab es Berge und Wälder, eiskalte Flüsse und die Freundschaften mit | |
| den „Tbilisser Kindern“ – für uns die wichtigste Abwechslung. Diese Kind… | |
| verbrachten ihre Ferien zuerst am Meer und anschließend bei uns im Dorf | |
| oder umgekehrt, erst in den Bergen und dann am Meer. Ich aber blieb immer | |
| am gleichen Ort und dachte, das müsste so sein. Sogar, dass dies der beste | |
| Ort zur Erholung war. | |
| Ich wusste aber auch, dass es irgendwo in einer anderen Ecke unseres Landes | |
| das Meer gibt – das Schwarze Meer und in meiner Einbildung war es so | |
| schwarz wie die finstere Nacht. | |
| ## Und dann erblickte ich es | |
| So war das, bis ich das Meer eines Tages mit eigenen Augen erblickte. | |
| Von meiner Begegnung mit dem Schwarze Meer kommen mir drei Episoden in den | |
| Sinn, die mir alle erzählungswürdig scheinen. | |
| Die erste Begegnung war in Abchasien – am Strand von Sochumi. Ich erinnere | |
| mich, wie wir aus Tbilissi mit dem Zug hingefahren sind und sehr lange | |
| unterwegs waren. Das war ein Nachtzug und am frühen Morgen weckte mich die | |
| Stimme meiner Mutter. Ich sprang sofort zum Fenster und dieses Bild blieb | |
| so in meinem Gedächtnis haften – der Zug fährt auf einer Anhöhe entlang der | |
| Küste und unten schimmern das azurblaue Meer und das goldene Ufer. | |
| Mein Cousin, so alt wie ich, zeigt auf eine Bude am Strand und schreit: Da | |
| ist Opas Schießbude, da ist Opas Schießbude! Später waren wir öfter in der | |
| Schießbude zum Zielscheiben schießen und Plüschtiere gewinnen. Bis dahin | |
| schaute ich aber wie gebannt aufs Meer, das gar nicht schwarz und damals | |
| noch unser war. | |
| Ich wusste bereits, dass sich meine Eltern, ein Jahr vor meiner Geburt eben | |
| dort kennengelernt hatten und habe nun, nach Jahren, immer wieder das | |
| Gefühl, damals dort hingekommen zu sein, wo mein Ich „begonnen hat“. | |
| Nach diesen Sommerferien, die ich das einzige Mal am Meer verbrachte, bin | |
| ich nie wieder in Sochumi gewesen. Einige Jahre später brach der Krieg aus | |
| und wir verloren Abchasien – heutzutage ist dieses Stück Land von Russland | |
| besetzt und es leben dort keine Georgier mehr. | |
| Das zweite Mal musste ich eben in den Tagen des Kriegsausbruchs an das | |
| Schwarze Meer denken. Im Dorf erzählte man sich, das Kriegsecho halle durch | |
| die Berge bis zu uns hoch und diese Stimmen seien auf dem höchsten Berg | |
| sehr deutlich zu hören. Ich weiß nicht mehr, in wie vielen Nächten ich | |
| damals in die Dunkelheit hinein gelauscht habe, um dieses Geräusch zu | |
| vernehmen. Das war eine Illusion, aber wenn ich an den Krieg in Abchasien | |
| denke, taucht in meiner Vorstellung immer das Ufer auf, an dem wir damals | |
| unsere Sandburgen gebaut haben. | |
| Danach verstrichen mehrere Jahre und mit achtzehn begegnete ich dem | |
| Schwarzen Meer erneut, nur in einer anderen Stadt, an einem anderen Ufer in | |
| Batumi. Das Schwarze Meer verwandelte sich zu einem Kurort, wo ich nun | |
| jeden Sommer wenigstens ein paar Tage verbringe – das Meer wurde zu etwas | |
| Banalem, das seitdem weder in meinen Gedichten, noch in meinen Erzählungen | |
| aufgetaucht ist. Und so verblieben wir – ich für mich und das Meer für | |
| sich. | |
| Nun vergingen erneut viele Jahre und ich treffe im Rahmen des „Black See | |
| Lit“-Projekts mit fremden Menschen zusammen. Die einen kommen aus | |
| Bulgarien, die anderen aus der Ukraine oder Rumänien – das Meer verbindet | |
| uns alle mit seinen so unterschiedlichen Küsten und es trennt uns auch | |
| wiederum. Es sind auch Kolleginnen und Kollegen aus Armenien dabei – wir | |
| schmunzeln ein wenig: Aber ihr seid doch gar nicht am Schwarzen Meer? | |
| Darüber lächeln wir zwar, aber fühlen uns dennoch einem Raum zugehörig und | |
| kommen beim Kennenlernen so langsam ins Gespräch. | |
| So ein sonderbares Treffen – wir sollen miteinander reden, vor allem über | |
| Literatur, über unsere Kontakte, wir sollen Berührungspunkte und Wege | |
| finden, die uns verbinden. In diesem Kontext geht es aber auch um das | |
| Schwarze Meer, darum wie es uns trennt und verbindet. | |
| Was haben wir denn bisher voneinander gewusst? Ich glaube gar nicht mal so | |
| viel – Wie ist Das bei euch? Und war Das und Jenes bei euch auch so oder | |
| so? Also bei uns ist Das so… Genau an diese Sätze kann ich mich aus den | |
| ersten Tagen unserer Begegnung entsinnen. Wir haben wohl alle das erste Mal | |
| darüber nachgedacht. | |
| Das ist ein echt interkultureller Dialog, zuerst das gegenseitige | |
| Kennenlernen, danach das Finden gemeinsamer und unterschiedlicher Merkmale | |
| und zuletzt das Schließen von Freundschaften. In diesen Tagen hat wohl | |
| keiner von uns etwas zu Papier gebracht, sondern nur miteinander geredet | |
| und da begriff ich, wie sehr uns dieses Miteinander fehlt – das | |
| unmittelbare Miteinander, ohne besondere Vorschriften und Aufgaben – wenn | |
| man sich einfach nur befreundet. Das Gefühl, dass diese Menschen, egal wie | |
| lange wir uns nicht mehr treffen sollten, für immer „die Meinigen“ bleiben, | |
| werde ich wohl für immer in mir tragen … | |
| In diesen Tagen der Annäherung an das Schwarze Meer kommen uns noch ganz | |
| andere Gedanken – die Georgier und Ukrainer hatten ähnliche Empfindungen – | |
| das Meer wird eher als Bedrohung, als ein Synonym von nahender Gefahr | |
| gesehen; selbstverständlich hat das seine Gründe. Beide haben einen | |
| gemeinsamen Feind – ein riesengroßes Land, Russland, das heutzutage auch | |
| noch unser Meer an sich gerissen hat und genau wegen diesem Meer unsere | |
| beiden Länder durch Kriege führt. In der Ukraine ist der Krieg immer noch | |
| nicht zu Ende – in Georgien ist dieses Gebiet immer noch besetzt. | |
| Unser Treffen, jawohl, ich würde das „Black Sea Lit“ als ein Treffen | |
| bezeichnen, gibt uns nochmals zu bedenken, wie nötig es ist, miteinander | |
| mittels der Bücher zu kommunizieren. Aber hier stoßen wir an unsere Grenzen | |
| – die Übersetzungen. Es gibt nur sehr wenig gegenseitige Übersetzungen in | |
| unseren Sprachen. Deshalb erzählen wir uns nur die Inhalte, das worüber wir | |
| schreiben. Dabei ist das eine der dümmsten Fragen, die man einem Autor | |
| gewöhnlich stellt – wovon handelt Ihr Buch? | |
| Die englischen Übersetzungen haben uns ein wenig ausgeholfen, denen, die | |
| darüber verfügen. Ansonsten beäugten wir die Buchcover von einander und | |
| erzählten, erzählten und erzählten, wovon unsere Bücher handeln. | |
| So war das. Wir vernahmen gegenseitig unsere Stimmen und aus irgend einem | |
| Grund glaube ich, dass wir uns nun aufeinander verlassen können. Eka | |
| Kevanishvili | |
| Aus dem Georgischen übersetzt von Natia Mikeladse-Bachsoliani. | |
| 3 Sep 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.goethe.de/ins/ge/de/kul/gsm.html | |
| ## AUTOREN | |
| Anush Kocharyan | |
| Bogdan Coșa | |
| Ina Vultchanova | |
| Eka Kevanishvili | |
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