# taz.de -- Roman über Vater-Tochter-Beziehung: Ganoven werden zu Mördern | |
> Oxana Wassjakina ist eine neue, kraftvolle Stimme in der russischen | |
> Gegenwartsliteratur. Ihr zweiter Roman, „Die Steppe“, führt ins raue | |
> Sibirien. | |
Bild: Die Steppe ist unendlich, fast nicht auszuhalten | |
Mutter, Vater, Kind: Hat Oxana Wassjakina im ersten Buch ihrer | |
Romantrilogie „Die Wunde“, nominiert für den größten russischen | |
Literaturpreis, den Big Book Award, die Beziehung zur Mutter autofiktional | |
verarbeitet, so stehen jetzt in „Die Steppe“ die Erinnerungen an den Vater | |
im Mittelpunkt: „Du schaust in die Weite, und dir bleibt nur, zu staunen – | |
über die Unendlichkeit der Steppe und darüber, dass sie dir ständig, | |
ständig in die Augen kriecht. Da ist kein Ort, an dem man ihr entkommen | |
könnte, du musst sie aushalten, begreifen, akzeptieren, wie sie ist: groß, | |
etwas verwaist und eintönig.“ | |
Die Protagonistin in „Die Steppe“ ist ähnlich wie im ersten Roman eng | |
verbunden mit der Natur, die sie auf ihrer Reise durchquert und die ihr | |
Innerstes widerspiegelt. Während draußen die leeren Landschaften der rauen | |
weiten Steppe vorbeiziehen, findet sie sich nun nach zehn Jahren Funkstille | |
mit dem Vater im engen Führerhaus eines Lkws wieder. | |
Gemeinsam reisen sie durch die Landschaften Russlands zwischen Wolgograd | |
und Astrachan: Die Steppe ist unendlich, fast nicht auszuhalten, | |
vereinnahmend und sie absorbiert alles – und dennoch ist sie keine Wüste. | |
Da ist Leben, sind Gräser, Blumen, zirpende Insekten, Nattern. | |
Vor dieser Kulisse kommen in Oxana Kindheitserinnerungen hoch, Erinnerungen | |
an einen heiteren Vater, den sie erst später als das erkennen kann, was er | |
ist: ein drogensüchtiger Vergewaltiger. Wassjakinas Auseinandersetzung mit | |
dem Vater ist autobiografisch motiviert, der tatsächlich an Aids erkrankte | |
und starb, eine [1][in Russland bis heute sehr verbreitete Erkrankung], mit | |
über 100.000 HIV-Neuinfektionen pro Jahr. | |
Wichtige Vertreterin der jungen Literaturszene | |
Nachdem Oxana Wassjakina zunächst Lyrik veröffentlichte, erlangte die in | |
der sibirischen Industriestadt Ust-Ilimsk geborene Autorin (vor 2022) mit | |
ihren autofiktionalen Romanen Aufmerksamkeit und wurde zu einer wichtigen | |
Vertreterin der jungen, experimentellen Literaturszene Russlands. Ihre | |
Werke sind sowohl intime Seelenschau als auch Spiegel der | |
gesellschaftlichen Umbrüche, die ihre Generation prägen. | |
Die 34-Jährige lebt heute in Moskau, doch ihre Texte tragen die | |
nostalgische Sehnsucht nach Sibirien und dem Osten sowie der vor allem im | |
Süden gelegenen Steppe in sich, die dem Erwachsenwerden im postsowjetischen | |
Russland vor dem Hintergrund dieser rauen Naturräume einen magischen | |
Anstrich gibt. | |
Wassjakina gibt sich als studierte Literaturwissenschaftlerin zu erkennen, | |
wenn sie das typische Motiv der Steppe aus der russischen Literatur – zu | |
finden etwa bei Iwan Turgenjew, Michail Scholochow, Iwan Bunin, Nikolai | |
Gogol oder Alexander Puschkin – adaptiert. Sie schreibt sich in diese | |
Literaturgeschichte ein; doch statt der männlichen Protagonisten ist es nun | |
eine lesbische Hauptfigur, die die Weiten des Landes durchquert; an die | |
Stelle eines Vater-Sohn- oder Onkel-Neffe-Konflikts tritt der | |
Vater-Tochter-Konflikt. | |
Wassjakinas Steppenliteratur erinnert besonders an die gleichnamige | |
Erzählung von Anton Tschechow (1888), in der der neunjährige Jegoruschka | |
von seiner Mutter in die Stadt geschickt wird, um eine bessere Bildung zu | |
erhalten, und in Begleitung seines Onkels und anderer Verwandter durch die | |
weite, endlose Steppe Südrusslands reist. | |
Unbarmherzigkeit des Lebens | |
Der innere Reifungsprozess des reisenden Jungen wird mit der äußeren Welt, | |
einer rauen, wilden Natur, konfrontiert. Ähnlich schön und bedrohlich | |
avanciert auch die Steppe bei Wassjakina zum Symbol für die | |
Unbarmherzigkeit des Lebens. | |
Doch es ist nicht nur der Übergang in die Erwachsenenwelt, den die junge | |
Frau analog zu Jegoruschka durchlebt, sondern auch Wassjakinas engagierte | |
Stimme – ähnlich dem Gesellschaftskritiker Anton Tschechow –, die das | |
gesellschaftliche System der Gewalt als im eigenen Vater gespiegelt | |
beschreibt. | |
Der Vater-Tochter-Konflikt steht symbolisch für die Herausforderungen und | |
den existenziellen Kampf, der mit der Natur und dem Leben in der Steppe | |
einhergeht. Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit ihrem Vater, so | |
schreibt die Autorin, ist dessen Tod. | |
Wassjakinas Heldin reist zurück in die eigenen Erinnerungen und entdeckt in | |
dem lustig, cool und clever daherkommenden Vater nun den | |
unverantwortlichen, der sie als kleines Kind mit auf Partys zu seinen | |
Banditenfreunden (oder sollte man besser sagen: zu Verbrechern und | |
Mördern?) nahm, auf die sich häufenden Beerdigungen der Kumpel, auf die | |
Abenteuer der Straße. | |
Verharmlosung von Schwerstverbrechern | |
Hier ein geklauter Fernseher, da eine gezockte Pelzmütze: Für die | |
Protagonistin aus den Kindertagen war das Alltag, ab und an sogar | |
willkommenes Abenteuer. Die nun erwachsene Frau reflektiert aktuelle | |
russische Banditenserien über die 1990er Jahre und muss zunehmend | |
eingestehen, dass auch sie die eigentlichen Schwerstverbrecher als coole | |
„Banditen“ oder gar „Ganoven“ verharmlost hat. | |
Ihr Vater, so reflektiert die Autorin, stünde auch heute auf der Seite der | |
Vergangenheit, aufseiten der staatlichen Kriegsrhetorik. Ganoven werden zu | |
Kriegern. | |
Wassjakina entromantisiert die organisierte Kriminalität in „Die Steppe“ | |
gehörig und macht den Ursprung der heutigen „Kultur der Gewalt“, wie sie es | |
nennt, in den 1990er Jahren aus. | |
Sie geht sogar so weit, das Recht des Stärkeren auf der Straße in den | |
1990er Jahren auf die sowjetischen Straflager zurückzuführen: „In den | |
Achtzigern verließ das Werte- und Hierarchiesystem, das in den sowjetischen | |
Straflagern entstanden war, die Grenzen des Lagers und trat an die Stelle | |
der geschwächten Regierung.“ | |
Post-Lager-Gesellschaft | |
Die Protagonistin erinnert sich an einen Bandenkumpel ihres Vaters, der in | |
Ust-Kut einsaß: „Ust-Ilimsk ist umgeben von Gefängnissen. In den | |
Nachbarstädten Bratsk, Ust-Kut und Angarsk sind jeweils drei. Geh mal auf | |
die Webseite der Strafvollzugsbehörde der Region Irkutsk“ – spricht sie die | |
Lesenden direkt an – „und du wirst sehen, dass da ein Gefängnis neben dem | |
anderen ist. Früher gehörten sie zum Gulag-System, seitdem hat sich nicht | |
viel verändert.“ Das postsowjetische Russland als Post-Lager-Gesellschaft. | |
Mit im Lkw, neben Oxana und ihrem Vater, ist noch eine dritte Person: | |
Oxanas Geliebte. Man fragt sich: Wie kann eine Autorin, [2][die sich offen | |
als queer positioniert, im heutigen autoritären Russland leben und | |
publizieren?] | |
„Russland – das ist meine Arbeit“, sagt Wassjakina unerschrocken in einem | |
Interview im Mai 2022. Arbeiten als Sich-Abarbeiten? Sie muss nicht weiter | |
dechiffrieren, was sie eigentlich meint, wenn sie von einer „Kultur der | |
Gewalt“ spricht, die sie – ähnlich wie [3][Maria Stepanova, die allerdings | |
mittlerweile im Exil lebt,] und andere zeitgenössische russische | |
Schriftsteller:innen – schon lange vor der russischen Totalinvasion in | |
die Ukraine 2022 beobachtet und literarisch reflektiert hat. | |
17 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Philine Bickhardt | |
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