# taz.de -- Roman über Leben auf dem Dorf: Nicht da, aber dageblieben | |
> Wie steht es um die westdeutsche Provinz? Nach den Autoren der | |
> Baseballschlägerjahre im Osten gibt nun Markus Thielemann Einblick ins | |
> Heideland. | |
Bild: Rechtes Gedankengut gibt es auch in der lieblichen Landschaft der Südhei… | |
Die Grenze ist wieder da. Diesen Eindruck gewinnt man zumindest, wenn man | |
die Berichterstattung über die jüngsten Wahlen in Ostdeutschland verfolgt. | |
Blau, blau, blau sind Sachsen, Thüringen, Brandenburg. Viel wurde | |
geschrieben auch über die Jungwähler:innen und ihre Beziehung zu rechts | |
außen. | |
Doch womöglich sind es gerade die Jüngeren, die mit ihrem Wahlverhalten die | |
alte Mauer zwischen Ost und West zum Schwanken bringen. Noch im April kam | |
die (durchaus kritikwürdige) Studie „Jugend in Deutschland“ zu dem | |
Ergebnis, dass eine Mehrzahl der 14- bis 29-Jährigen in ganz Deutschland | |
die AfD wählt – oder wählen würde, so sie schon dürfte. | |
Statt den größten Gegensatz in Ost- und Westdeutschland auszumachen, kam | |
der diesjährige Kinder- und Jugendbericht zu einem anderen, wenig | |
überraschenden Ergebnis: Die AfD ist besonders bei jungen Menschen mit | |
niedrigem Bildungsstand und in ländlichen Gebieten beliebt. | |
Auch der Politologe Lukas Haffert warnt: Der Stadt-Land-Konflikt werde zum | |
prägendsten Konflikt werden. In seinem Buch „Stadt, Land, Frust“ von 2022 | |
belegt er, dass sich politische Einstellungen bei jungen Menschen in Stadt | |
und Land stärker unterscheiden als noch bei früheren Generationen. | |
Wie denkt also die Jugend auf dem Land? Eine Ahnung bekommt man davon im | |
neuen Roman von Markus Thielemann. Der stellt in „Von Norden rollt ein | |
Donner“ einen 19-jährigen Nachwuchsschäfer vor, der bei seinen Eltern auf | |
einem Hof in der Lüneburger Heide lebt. | |
Typisch deutsches Stillleben | |
In nur wenigen Sätzen schafft es Thielemann ein so typisch deutsches | |
Stillleben zu zeichnen, dass man die Schritte des Cellesche Zeitung | |
lesenden Großvaters ganz deutlich auf dem Vinylfußboden quietschen hört. | |
Wie Jannes sein Mittagessen in einem der hölzernen Unterstände für | |
Wandernde, im Herbst, im Regen, einnimmt, hat was Hoffnungsloses; während | |
die Urlauber:innen längst wieder weg sind, hockt Jannes immer weiter im | |
kargen Land. | |
Doch es gibt sie auch, die romantischen Momente, auf der sturmumtösten | |
Heide Theodor Storms; wo brauende Nebel geistern umher, schwarz ist das | |
Kraut und der Himmel so leer. Einsamkeit kennt der wortkarge Jannes nicht, | |
doch die Sorge ist seit einiger Zeit sein ständiger Begleiter. Sorge wegen | |
des Vaters, der immer häufiger Wichtiges vergisst – und wegen des Wolfs, | |
der auch in der Heide wieder heimisch wird. | |
Jannes und seine Umgebung befinden sich zunehmend im (Kultur-)Kampfmodus. | |
Auf einmal nehmen „die da oben“ Einfluss auf sein Leben. Es gibt keine | |
Skinheads in der Südheide, keine „Wendeverlierer“, aber Angst gibt es, die | |
sich langsam in Wut übersetzt. Denn der Wolf, den die Städter so gerne | |
schützen wollen, da sind sich alle zwischen Unterlüß und Fassberg einig, | |
gehört einfach nicht in die deutsche Kulturlandschaft. | |
Wolfsangel als Handyhintergrund | |
Auch der neue Nachbar Karl Röder findet im Diskurs schnell seinen Platz. | |
Immerhin hat der die Wolfsangel bereits als Handyhintergrund eingestellt. | |
Von Jannes darauf angesprochen, spielt er deren Bedeutung herunter. „Ein | |
altes Zeichen für Widerstand und Kampf gegen die Bedrohung, Heimatschutz“, | |
sagt Röder. „Passt aber ja auch heute sehr gut in die Zeit, wenn man sich | |
mal umschaut in diesem Land.“ Er sei übrigens wegen des „Urwüchsigen“ in | |
die Heidegegend gezogen. | |
Man denkt jetzt an Björn Höcke, an Götz Kubitschek, die das Urdeutsche nur | |
noch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR finden konnten. Doch die Südheide | |
ist nicht Thüringen; irgendwer attackiert Röders Haus regelmäßig mit Farbe | |
und von rechtem Gedankengut ist bei Jannes’ Freunden auch wenig zu merken. | |
Kein Vergleich also mit den literarischen Bestandsaufnahmen, die etwa | |
[1][Lukas Rietzschel,] Daniel Schulz oder zuletzt [2][Domenico | |
Müllensiefen] über das Aufwachsen in der ostdeutschen Provinz anstellten, | |
wo rechtsradikal längst keine Protesthaltung mehr bezeichnet, sondern | |
scheinbar alternativlos geworden ist. | |
Was die westdeutsche Provinz betrifft, steht Thielemanns Roman ziemlich | |
allein da. Haben in der Vergangenheit Autoren wie [3][Peter Kurzeck] das | |
Leben in Dorf und Kleinstadt minutiös vermessen, scheint das Landleben in | |
den sogenannten alten Bundesländern heute nur noch auf wenig Interesse zu | |
stoßen. | |
Ostdeutsches Dorfleben häufiger in der Literatur | |
Dabei fand das ostdeutsche Dorfleben in der Literatur zuletzt eher | |
überproportional häufig statt. Juli Zeh, [4][Saša Stanišić] oder [5][Lola | |
Randl] liefern quasi die Folgeerzählung zu den Romanen über die | |
Baseballschlägerjahre. Oft hat darin eine Berlinerin genug vom Trubel der | |
großen Stadt und sucht ihr Heil in Brandenburg. Das sie meist auch findet; | |
neben rechtem Gedankengut zuhauf. | |
Es ist wohl eher diese Ausgangslage, die Interesse weckt; der Osten und | |
seine Probleme, nicht unbedingt das Dorf an sich. Denn die Provinz taugt | |
meist lediglich als Kontrastfolie zur Großstadt. Es braucht scheinbar den | |
Städter, um vom Dorf polyphon im Bachtin’schen Sinne zu erzählen – oder | |
denken hier nicht alle insgeheim das Gleiche? | |
Was Jannes denkt, ist nicht immer ganz klar. Das ganze Gerede um den Wolf | |
jedenfalls geht ihm zunehmend auf die Nerven. Thielemann stellt es gut an, | |
dass der Diskursraum, in den der Wolf und die Diskrepanz zwischen Stadt und | |
Land eingebettet sind, nur im Kopf der Leserin aufgeschlossen wird und sich | |
im Roman kaum politisch ausbuchstabiert. | |
Doch bloß, weil in der Südheide keine Flüchtlingsheime, sondern Osterfeuer | |
brennen, ist die Region nicht frei von rechtem Gedankengut, das sich jedoch | |
statt in scharfe Rhetorik eher in Tradition kleidet. So lässt Jannes’ | |
Großvater auf den antisemitischen Heidedichter Hermann Löns nichts kommen, | |
obwohl der in seinen Romanen – wie ihn eine Kamerafrau aus Hamburg belehrt | |
– von „urdeutschen Heidebauern, die ausländisches Gesindel abschlachten“, | |
schreibt. | |
NS-Bestseller neben dem Waffenschrank | |
Jenen Roman, den „Wehrwolf“ von 1910, der während der NS-Zeit zum | |
Bestseller avancierte, hat auch Jannes’ Onkel im Keller, neben seinem | |
Waffenschrank. Gelesen habe er den nicht, aber er „kenne eine Menge Leute, | |
die würden unschöne Sachen machen für so Zeug aus der alten Zeit“. Der | |
Onkel ist Bundeswehrsoldat. | |
Die Region, in der Jannes wohnt, ist politisch denkbar aufgeladen. Auf dem | |
NS-Truppenübungsplatz sind heute Bundeswehrbataillone stationiert. | |
Detonationen schallen vom benachbarten Rheinmetall-Gelände regelmäßig | |
herüber. Auch ein KZ-Außenlager befand sich einst dort. Doch darüber, und | |
auch über die Zwangsarbeiter:innen, die auf den Höfen schuften mussten, | |
redet man heute nicht so gern. | |
Dabei hängt an einer der Zwangsarbeiterinnen ein Familiengeheimnis, dem | |
Jannes durch Visionen auf die Spur kommt. Er trifft im Wald auf eine | |
Heidehexe, die allerdings nichts Unheimliches tut, außer ihn anzustarren. | |
Was soll sie auch sonst machen? Hexen gibt es nur im Märchen und | |
bekanntlich fressen sie ausschließlich Kinder. Doch Jannes ist kein Kind | |
mehr und vielleicht liegt hier auch das Problem. | |
Nicht nur sind seine Freunde entweder weggezogen oder ihm entfremdet. Auf | |
einmal ist Jannes nicht bloß da, sondern dageblieben. Gemäß der Einteilung | |
des britischen Autors David Goodhart, der zwischen „Anywheres“ und | |
„Somewheres“ unterscheidet, also zwischen gebildeten, mobilen Kosmopoliten | |
und den oft unfreiwillig an einem Ort Verbliebenen, gehört Jannes eindeutig | |
zum zweiten Lager. | |
Es stimmt zwar, durch das Internet hat sich in jedem noch so kleinen Dorf | |
ein Fenster zur Welt geöffnet. Doch die Sicht verschwimmt, das Fensterglas | |
ist meistens schmutzig. Es sind auch die sozialen Medien, die den Jungen | |
rechtes Gedankengut über Jahre in leicht konsumierbaren Häppchen gefüttert | |
haben. | |
16 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Julia Hubernagel | |
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