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# taz.de -- Gespräche über Ost und West: Trinken und reden
> Der Buchtitel ist Programm. Die Ost-Autorinnen Annett Gröschner, Peggy
> Mädler und Wenke Seemann betrinken sich und gründen den idealen Staat.
Bild: Freie Entfaltung für alle: Peggy Mädler, Annett Gröschner, Wenke Seema…
Der erste Teil dieses langen und irgendwie entwaffnenden Buchtitels ist
ganz wörtlich zu nehmen. Tatsächlich geht es in diesem Gesprächsband nicht
zuletzt darum, dass drei ostdeutsche Frauen sich betrinken.
Siebenmal treffen sich die Schriftstellerinnen [1][Annett Gröschner] und
Peggy Mädler sowie die Künstlerin Wenke Seemann und nehmen alkoholische
Getränke zu sich – beim ersten Treffen Bier und Rotkäppchen-Sekt, ein
anderes Mal Wodka, dann auch Bowle und beim letzten Treffen Gin-Tonic –,
und dabei unterhalten sie sich. Das Buch besteht aus den bearbeiteten und
mit ergänzenden Fußnoten sowie erläuternden Übergangstexten versehenen
Gesprächen.
Eine Schnapsidee? Sagen wir es so: Dieses Buch ist auch eine
Lockerungsübung. Der Ansatz war offenbar, den gegenwärtig eher mit
Kollektividentitäten geführten Ost-West-Diskursen – von einer
„Oschmann-Hoyer-Welle“ ist explizit die Rede – die Souveränität von
handfesten, individuellen Frauenleben entgegenzuhalten. Ein
Selbstverständigungsdiskurs also, mit allen tastenden Bewegungen, die damit
verbunden sind.
So sendet die zweite Hälfte des Titels denn auch Ironiesignale. Gegründet
wird hier nämlich gar nichts. Was die Gespräche stattdessen anbieten, sind
Erinnerungen und Anekdoten, kleine und größere Bekenntnisse und sowohl
zielführende als auch abschweifende Gedanken, ein seitliches Vorübergehen
am eigenen Leben samt zugehörigen Selbstreflexionen. Dabei darf es
streckenweise durchaus beschwipst und albern zugehen, doch auf relevante
Punkte der Gegenwartsdiskurse kommen die drei Autorinnen immer wieder
zurück.
Mit Klischees über die Ostfrau läuft sich das erste Gespräch warm. Die drei
Autorinnen zählen einige auf: Ostfrauen lassen ihre Kinder weinen, haben
ein unverkrampftes Verhältnis zur Sexualität, außerdem unrasierte Beine
usw. [2][Bert Papenfuß,] der Undergrounddichter vom Prenzlauer Berg, und
sein Gedicht „Die Ostfrau an sich“ – „sind fidele Häuser, mit denen man
Pferde stehlen kann“ – kommen dabei nicht gut weg.
## Erst die Norm, plötzlich „anders“
Dass sich die Autorinnen nicht über dazu noch mit dem männlichen Blick
gesehene Klischees verstehen wollen, ist nicht überraschend. Wie aber dann?
Dass es in puncto Selbstverständnis ein Problem gibt, macht Wenke Seemann
früh im Buch klar: „Ostdeutsche sind mit einer starken Normierung
aufgewachsen. Und dann waren sie plötzlich nicht mehr die Norm. Sondern
anders.“
Dieses Zitat könnte noch ungefähr auf einer Linie mit Dirk Oschmanns These
gesehen werden, nach der die ostdeutsche Identität als Abweichung eine
westdeutsche Erfindung ist. Zugleich bietet es eine Erklärung dafür an,
warum sich Ostdeutsche diese westdeutsche Erfindung so sehr zu eigen
machen: Das Selbstverständnis mit einer normierten Identität ist weiterhin
virulent.
Es dauert einige Dutzend Seiten, bevor explizit wird, was die drei
Autorinnen dem entgegenhalten. In einem der kurzen Erläuterungstexte heißt
es: „Wir sprechen lieber von ostdeutschen Erfahrungen als von einer
ostdeutschen Identität, denn Letzteres klingt gleich wieder so fest und
nicht mehr nach einem fluiden, sich ständig verändernden Konstrukt, das uns
übergestülpt wird und das wir herbeireden, das wir aus Erinnerungen und
Prägungen immer wieder zusammensetzen.“
Die Identität als Konstrukt, gleichzeitig fluide und, wenn man nicht
aufpasst, allzu massiv, dabei so veränderlich wie übergestülpt, sie wird
hier herbeigeredet und aufgebrochen zugleich, indem diese drei Frauen sich
selbstverständlich Raum nehmen, um ostdeutsche Erfahrungen einzubringen.
## Wie tickt der Osten?
Das liest sich gut und locker, manchmal hübsch selbstironisch und oft auch
sehr klug und ist ein ganz eigener Beitrag zur Gegenwartsanalyse.
Spreewaldgurken und Wutbürger-Ost, Transformationserfahrungen und
DDR-Sozialisation, Feminismusgeschichte und AfD-Hoch, Erinnerungen an
Begriffe wie Dialektik und Völkerfreundschaft sowie deren erst mal gut
klingende Theorie und allerdings missliche Praxis in der DDR, das alles
kommt dabei zur Sprache.
Wie tickt der Osten? Diese Frage, die gerade in diesem Jahr mit ihren
einschneidenden Landtagswahlen in gleich drei ostdeutschen Bundesländern,
bei denen die AfD erschreckend gut abschneiden könnte, einige Dringlichkeit
mit sich bringt, wird hier keineswegs abschließend beantwortet, wie auch!
Ein Plädoyer dafür, beim Nachdenken über diese Frage immer auch die eigenen
Wahrnehmungsfilter zu überdenken, ist das Buch insgesamt.
Dass das leicht ist, behaupten die drei Autorinnen keineswegs. An einer
Stelle attestiert Annett Gröschner ihrer Generation die Anfälligkeit für
eine, so ihr Begriff, „Verbitterungsstörung“. Sich von ihr nicht vom
differenzierenden Hinsehen ablenken zu lassen, ist auch eines der Anliegen
dieses Buchs.
Daraus ergibt sich die Frage: „Wie überwinden wir unsere Kränkung und
werden stattdessen produktiv?“ Im Umfeld zum gegenwärtigen Wählerzustrom
zur AfD, die sie selbstverständlich ablehnen, fragen sich die drei
Autorinnen auch: „Wie sieht ein solidarischer Umgang mit Ängsten vor dem
Abstieg aus, der ja tatsächlich passieren kann?“ Eine abschließende Lösung
haben auch sie nicht.
## Immerhin gibt es Fortschritte
Immerhin können sie neben der Schwerkraft der Verhältnisse auch
Fortschritte wahrnehmen. Die [3][Ausdifferenzierung von Sprecherpositionen]
über ostdeutsche Erfahrungen, die sich etwa in den vielfältigen Romanen zum
Thema zeigt, die in den vergangenen Jahren veröffentlicht wurden, werten
die drei Autorinnen als positives Zeichen. Manja Präkels, Clemens Meyer,
Lukas Rietzschel, Olivia Wenzel, Daniel Schulz und so weiter – eine Fußnote
zählt einschlägige Autor*innennamen auf. Auf dieser literarischen Spur
ist noch interessant, dass Christa Wolf in diesen Gesprächen sehr gut
wegkommt. Ihr Klassiker „Nachdenken über Christa T.“ steht für die – vom
DDR-Apparat selbst in die Tonne getretene – Möglichkeit einer offeneren
ostdeutschen Gesellschaft.
Bei alledem kommt keineswegs eine Verklärung der DDR auf. Wie eng und
repressiv die Realität der DDR war und dass sie auch den sozialistischen
Grundideen widersprach, macht eine Stelle in der Gesprächen schlagend
deutlich. Sie erinnert an den Satz aus dem „Kommunistischen Manifest“, nach
dem „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie
Entwicklung aller ist“. Diese freie Entwicklung „eines jeden“ war in den
Kollektivträumen der DDR nicht möglich.
Aber es geht hier keineswegs nur um ostdeutsche Erfahrungen. Ganz nebenbei
ist es auch ein Porträt eines gegenwärtigen gesamtdeutschen Alltags im
Zeichen der Multikrisen vom Klimawandel bis hin zum russischen Überfall auf
die Ukraine.
In diesem Porträt in Gesprächsform sind die Herausforderungen der Gegenwart
ebenso eingetragen wie die utopischen Splitter, die man wahrnehmen kann –
öffentliche Schwimmbäder und Bibliotheken etwa oder ein freierer Umgang mit
den eigenen Gefühlen bei jüngeren Jahrgängen. Und der Trost kleiner
Fluchten, etwa in die Datschen im Oderbruch, wird auch erwähnt.
20 Mar 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Dirk Knipphals
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