| # taz.de -- Die Seitenwende der taz: Drei ostdeutsche Frauen besiegen den Kapit… | |
| > Annett Gröschner, Peggy Mädler und Wenke Seemann denken für die taz eine | |
| > Nacht lang über den Zustand der Solidarität nach. Und sie würfeln dabei. | |
| Bild: Annett Gröschner, Peggy Mädler, Wenke Seemann | |
| Im Jahr 2024 haben Annett Gröschner, Peggy Mädler und Wenke Seemann für ihr | |
| Buch [1][„Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen | |
| Staat“] sieben Nächte lang mit sieben alkoholischen Getränken über den | |
| Zustand der Welt nachgedacht. Nun denken sie für die taz eine weitere Nacht | |
| über den Zustand der Solidarität nach. Sie treffen sich dafür in Chemnitz, | |
| wo gerade ein Theatertext von Peggy inszeniert wird. | |
| Wenke: Heute ist der 24. August 2025. Wir sind in einer Chemnitzer | |
| Ferienwohnung, die sich in einem Q6-Bau1 befindet. Wir trinken Prosecco. | |
| Peggy: Zu essen gibt es Brot, Gurken, Zwiebeln, Oliven und Käse. Und ich | |
| habe ein Spiel mitgebracht, das passenderweise Solidaritäts-Monopoly2 | |
| heißt. | |
| Annett: Peggy, kannst du, bevor wir mit dem Spiel anfangen, mal kurz sagen, | |
| ob sich das Konzept der Kulturhauptstadt Chemnitz mit dem Begriff der | |
| Solidarität verbinden lässt? | |
| Peggy: Ich finde, das ist eigentlich der Grundgedanke. Die Idee ist, | |
| sämtliche Aktionen und Akteur*innen, die über die Stadt und Region des | |
| Erzgebirges verteilt sind, miteinander zu vernetzen. Es gibt hier so viele | |
| Menschen, die etwas bewegen. Die Frage ist natürlich: Wie gelingt eine gute | |
| Kommunikation untereinander – auch über 2025 hinaus? Wie kann die | |
| Verbindung zwischen Menschen gehalten werden … | |
| Wenke: … die ja oft in einem stressigen, auch prekären Alltag verortet | |
| sind. Oder zwischen ihnen liegen weite Wege. | |
| Peggy: Vielleicht kann man Solidarität in dem Sinne als ein dringend | |
| benötigtes Gefühl der Nähe zwischen Menschen beschreiben, um sich | |
| gegenseitig wahrzunehmen und zu unterstützen, ob nun im globalen Sinne oder | |
| eben in einer Region – dass man eine Verbindung zueinander hat und hält. | |
| Annett summt: Vorwärts und nicht vergessen, worin unsere Stärke besteht … | |
| beim Hungern und beim Essen: die Solidarität. | |
| Peggy: Wollen wir mit dem Spiel anfangen? Das haben Studierende der Freien | |
| Universität entwickelt – auf Basis von Monopoly3. Ich lese mal die | |
| Anleitung vor. „Mische die Aktions- und Rollenkarten gut durch und lege sie | |
| verdeckt. Alle Spielenden stellen ihre Figur auf Los!“ | |
| Wenke: Ich nehme Grün … | |
| Annett: Ich Rot … | |
| Peggy: Dann nehme ich Lila. Es gibt einen Großkonzern im Spiel, der bekommt | |
| auch eine Figur. Wir haben mehrere Auswahlmöglichkeiten: Ein silbernes | |
| Auto, das für die Automobillobby steht. Eine Waffe für die Waffenlobby oder | |
| einfach den Zylinder für unsere altmodische Vorstellung des Kapitalisten | |
| aus dem Schulbuch. | |
| Annett: Bei der Waffenlobby sind die Widersprüche am größten. Wir müssen | |
| uns verteidigen, sind aber gegen Rüstungskonzerne. | |
| Wenke: Lass uns das Auto nehmen, da sind die Widersprüche auch groß genug. | |
| Wer spielt den Großkonzern? | |
| Peggy: Niemand. Wir müssen lediglich für ihn würfeln. | |
| Annett: Niemand hier am Tisch muss den oder die Böse spielen? | |
| Peggy: Nein. Es ist so angelegt, dass niemand von uns es sein muss. Wir | |
| dürfen solidarisch handeln. Hier unsere Rollenkarten. | |
| Wenke: Oh. Ich bin Bildungsaktivistin. „Aktivisti sind Menschen, die sich | |
| öffentlich für eine Sache einsetzen und versuchen, etwas zu verändern. Du | |
| kämpfst für eine Stadt, in der alle Kinder und Erwachsene das lernen | |
| können, was sie wollen. Zum Beispiel in der Schule oder in der Uni.“ | |
| Peggy: Ich bin Verkehrsaktivistin. „Du kämpfst für eine Stadt, in der sich | |
| alle Menschen sicher, frei und kostenlos von einem Ort zum anderen bewegen | |
| können.“ | |
| Annett: Ich bin Gemeinschaftsaktivistin. „Du kämpfst für eine Stadt, in der | |
| es allen Menschen gut geht. In der alle genug zu essen haben und in einer | |
| Wohnung leben können.“4 | |
| Peggy: Dann können wir ja losspielen. Es gibt zwei Möglichkeiten, zu | |
| gewinnen. Individueller Sieg: Die erste Person, die drei Straßen mit | |
| jeweils drei Markern vollständig entwickelt hat, gewinnt alleine. Oder | |
| kooperativer Sieg: Wenn mindestens zwei Personen ihre drei Straßen fertig | |
| entwickeln, bevor der Großkonzern das schafft, gewinnen alle Aktivisti | |
| gemeinsam, dann haben wir die Stadt zusammen umgestaltet. | |
| Wenke: Warte mal. Und wann gewinnt der Großkonzern? | |
| Peggy: Der Großkonzern gewinnt, wenn er drei Straßen vollständig entwickelt | |
| oder auf allen sechs Infrastrukturfeldern seine Marker hat. | |
| Wenke: Mit Infrastruktur sind die Wasserwerke gemeint? | |
| Annett: Und der Bahnhof. Das Elektrizitätswerk. | |
| Wenke: Und das Feld Einkommensteuer oder Zusatzsteuer sind dann Ereignisse? | |
| Peggy: Ich denke, ja. Das verstehen wir alles beim Spielen. Ich bin immer | |
| so ungeduldig bei Spielanleitungen. | |
| Wenke: Aber wenn der Großkonzern jetzt auf eine Straße kommt, dann muss | |
| doch irgendjemand von uns für ihn die Straße kaufen. | |
| Peggy: Das habe ich vergessen zu sagen: Es gibt hier kein Geld. | |
| Wenke: Ach so. | |
| Peggy: Und wir dürfen uns jederzeit helfen, Absprachen treffen und | |
| Aktionskarten tauschen, wenn alle einverstanden sind. | |
| Die drei ostdeutschen Frauen fangen an zu spielen. Annett würfelt mehrere | |
| Paschs hintereinander und setzt ihre Marker auf die Chausseestraße. Peggy | |
| bekommt die Elisenstraße. Wenke zieht eine Aktionskarte. „Der älteste Club | |
| der Stadt, Roswitha, hat seine Klage gegen einen Großkonzern gewonnen, der | |
| ein teures Bürogebäude darauf errichten wollte. Das wird gebührend | |
| gefeiert.“ Sie vergessen gleich in der ersten Runde, für den Großkonzern zu | |
| würfeln. Das wird nachgeholt. Annett landet im Gefängnis. Sie muss eine | |
| Runde aussetzen. | |
| Annett: Fängt ja gut an. | |
| Peggy: Kann ich euch ein Geständnis machen? Ich spiele überhaupt nicht | |
| gern. | |
| Annett: Ich auch nicht. | |
| Peggy: Ich glaube, viele Westdeutsche spielen ganz gern, die haben schon in | |
| ihrer Kindheit sämtliche Spiele des Jahres durchprobiert. Ist das ein | |
| Klischee? Wir waren eher draußen spielen. | |
| Annett: Mein 1983er-Freund hatte ein selbstgemachtes Monopoly. Getreu dem | |
| ostdeutschen Motto: Alles, was wir nicht aus dem Westen kriegen können, | |
| machen wir selbst. Ich wusste aber damals wie heute nicht, warum mir | |
| persönlich eine ganze Straße gehören soll. Ich hatte andere Interessen, ich | |
| habe lieber Bücher von Ulrike Meinhof und Frantz Fanon abgeschrieben. | |
| Peggy: Bei Monopoly scheißt der Teufel immer auf den größten Haufen: Je | |
| mehr Geld und Straßen man hat, desto mehr Geld und Straßen kriegt man | |
| automatisch. | |
| Wenke: Hier gibt es noch Begriffserklärungen in der Spielanleitung. Was | |
| heißt Obdachlosigkeit? Was ist eine Petition? Was ist Diskriminierung? | |
| Annett: Was steht da bei Solidarität? | |
| Wenke: „Solidarität. Zusammenhalten. Sich gegenseitig helfen und | |
| füreinander da sein. Beispiel: Freundinnen helfen einander bei einer | |
| Hausaufgabe oder Menschen spenden für Betroffene einer Flut.“ Das ist ein | |
| ganz schöner Unterschied, oder? | |
| Peggy: Was ist überhaupt der Unterschied zwischen Hilfsbereitschaft und | |
| Solidarität? | |
| Wenke: Na ja, Hilfsbereitschaft ist konkreter. Wir haben zum Beispiel heute | |
| einem Mann, der ziemlich betrunken und umgefallen war und sich im Gesicht | |
| verletzt hat, hochgeholfen und einen Krankenwagen gerufen. | |
| Hilfsbereitschaft heißt: nicht wegzugehen, wegzugucken. Solidarisch bist du | |
| eher mit einer Gruppe oder mit Menschen, denen du dich aufgrund deiner | |
| Gesinnung zugehörig fühlst, zu denen du eine eigene Verbindung aufbaust. | |
| Peggy: Aber du musst doch auch eine Verbindung zu dem betrunkenen Mann | |
| aufbauen, um zu sagen, ich schaue da hin und gehe nicht einfach weiter. | |
| Wenke: Ja, aber ich würde nicht sagen, dass das solidarisch ist, das hat | |
| eher mit Empathie zu tun. | |
| Annett: Solidarität ist was Größeres als Hilfsbereitschaft. Mit dem Mann | |
| heute war ich nicht solidarisch, denn der Mann, das muss man ja dazu sagen, | |
| wollte, wenn die AfD an die Macht kommt, alle ausrotten. | |
| Wenke: Und er meinte uns damit. Huch, jetzt ist uns das Großkonzernauto vom | |
| Brett gerutscht. | |
| Annett: Müssen wir Erste Hilfe leisten? Solidarität ist ein moralisches | |
| oder soziales oder gesellschaftliches Konzept. Ich finde eh, Freiheit, | |
| Gleichheit, Solidarität ist besser als Freiheit, Gleichheit, | |
| Brüderlichkeit. Solidarität umfasst mehr als Brüderlichkeit. | |
| Wenke: Ja, und es sollte nicht nur eine Proklamation sein. Also zum | |
| Beispiel das Profilbild bei Insta zu ändern oder so was. Oder Marken zu | |
| kaufen für die Solidarität und die in ein Buch zu kleben, das ist für mich | |
| noch kein solidarisches Handeln. | |
| Peggy: Also ist Solidarität eine Unterstützung einer Idee oder eines | |
| Kampfes, eines Engagements von anderen? | |
| Wenke: Ja. | |
| Peggy: Und wenn ich an die Welthungerhilfe spende? | |
| Wenke: Das ist auch solidarisch, oder nein – hilfsbereit? | |
| Annett: Manchmal ist es eben auch deckungsgleich. Ich hatte neulich eine | |
| ziemlich interessante Diskussion mit einer belarussischen Journalistin, | |
| Katja Artsiomenka, die ein Feature macht über Solidarität. Ihr war | |
| aufgefallen, dass die meisten, die sie nach dem Begriff gefragt hat, unter | |
| Solidarität Unterstützung von Schwächeren oder Ausgebeuteten verstehen, die | |
| unsere Hilfe brauchen, und nicht mit denen, die souverän und selbstbestimmt | |
| um eine Freiheit kämpfen, die wir schon haben. Also dass wir nicht | |
| solidarisch gewesen sind mit den Menschen in Belarus, weil die eben halt | |
| nicht die armen Unterdrückten waren, sondern selbstbewusste Citoyens. Das | |
| hat mir schon zu denken gegeben. Welche Definition von Solidarität haben | |
| wir eigentlich? | |
| Peggy: Es ist so ein christliches Gebot, solidarisch mit den Armen zu sein. | |
| Und im Kommunismus hieß es, solidarisch mit den Entrechteten und | |
| Unterdrückten zu sein. | |
| Annett: Ich glaube, da ist auch ein großer Unterschied zwischen uns und | |
| Leuten, die im Westen sozialisiert worden sind. Wir sind ja mit diesem | |
| staatlichen Solidaritätsbegriff aufgewachsen, den es ja im Westen nicht | |
| gab5. | |
| Wenke: Also Solidaritätsmarken kaufen … | |
| Peggy: … oder Solidaritätsbasare organisieren. | |
| Annett: Diese Forderung nach Solidarität mit Vietnam, mit Chile, mit dem | |
| palästinensischen Volk hatte natürlich auch immer was Geopolitisches … | |
| Wenke: Und Ideologisches. | |
| Annett: Aber wenn man dahintergeguckt hat, waren es immer Blöcke, die sich | |
| gegenüberstanden und ihre Interessen verteidigten. Ich habe mich daran | |
| wieder erinnert, als es in der letzten Regierung unter der Außenministerin | |
| Annalena Baerbock dieses Credo der feministischen Außenpolitik gab, was für | |
| mich krachend gescheitert ist, weil es noch nicht mal dafür gereicht hat, | |
| solidarisch mit den protestierenden Frauen im Iran zu sein. Ja, da wurde es | |
| genauso ideologisch wie das, was ich kannte. Gut gemeint, aber am Ende | |
| siegt doch wieder die Geopolitik. Und dann sind die Frauen, die kein | |
| Kopftuch tragen wollen und im Gefängnis landen, halt so ein | |
| Kollateralschaden, weil man es sich im Westen doch nicht mit dem Iran | |
| verderben will. | |
| Peggy: In letzter Zeit habe ich viel an den Prager Frühling gedacht. Da gab | |
| es auch die Hoffnung, dass sich die westlichen Länder solidarisch mit der | |
| Tschechoslowakei erklären – und auch entsprechend handeln. Und dann ist die | |
| Sowjetunion mit den Panzern in Prag einmarschiert. Die Proteste waren da, | |
| aber gering. Das war genauso mit dem Mauerbau. | |
| Wenke: Das sind immer gleich so weltpolitische Konflikte. Da wünsche ich | |
| mir eine Aktionskarte „Solidarische Massenproteste gegen …“ | |
| Annett: Die sind dringend notwendig angesichts dieser unsolidarischen | |
| Regierung, die wir gerade haben. Ich denke da an die Journalistin, die für | |
| uns aus Afghanistan berichtet hat und aufgeflogen ist und dringend aus dem | |
| Land rausmusste und jetzt in Pakistan festsitzt und wieder nach Afghanistan | |
| abgeschoben werden soll, weil alle Zusagen Deutschlands auf Ausreise vom | |
| Bundesinnenministerium blockiert werden. Das ist ja auch so eine Frage der | |
| Solidarität: Sind wir solidarisch mit denen in Afghanistan, die eine | |
| Hoffnung darauf gesetzt haben, als der Westen mit seinen Truppen | |
| einmarschiert ist. Jetzt werden alle Versprechen gebrochen und die Leute | |
| den Taliban zum Fraß vorgeworfen. | |
| Wenke: Das ist das Drama des Abzugs gewesen – nach dem kompletten Rückzug | |
| der USA 2021. Die Frage ist, was kannst du als Einzelperson tun, wie kannst | |
| du solidarisch sein? Du kannst alle Kontakte aktivieren und versuchen, | |
| größtmögliche Aufmerksamkeit und Druck zu erzeugen, all deinen | |
| Wahlkreisabgeordneten schreiben. Aber im Grunde ist es eine Frage des | |
| staatlichen Selbstverständnisses, von außenpolitischer Integrität: | |
| Ausbeutung und Verrat oder Anerkennung und Respekt auf Augenhöhe. | |
| Peggy: Und dann hast du aber auch in aktivistischen Gruppen noch die | |
| Streitereien um Prioritäten oder darum, mit wem man solidarisch sein | |
| sollte, das kommt ja dann auch noch dazu6. | |
| Annett: Na gut, das lässt sich nicht vermeiden, dass es da Diskussionen | |
| gibt, dass man sich nicht immer einig ist, das finde ich auch in Ordnung. | |
| Aber was ich sehe, ist, dass diese Regierung, die wir jetzt haben, | |
| grundsätzlich unsolidarisch ist, weil alles, was sie bis jetzt machen oder | |
| was sie als Begründung dafür angeben, dass es diesem Land nicht gut geht, | |
| hat immer was mit Armen, Geflüchteten oder Leuten zu tun, die halt nicht so | |
| funktionieren, wie der Kapitalismus das fordert. Ich finde, hier wird | |
| versucht, eine Entsolidarisierung zu schaffen, indem … | |
| Wenke: … Arme und Geflüchtete diffamiert werden, als diejenigen, die den | |
| Steuerzahler*innen auf der Tasche liegen. Das ist fatal, weil es | |
| funktioniert. Die letzten 30 Jahre Neoliberalismus haben das Blame Game | |
| „soziale Spaltung“ perfektioniert. | |
| Annett: Es wird nicht einmal kritisch hinterfragt, dass man die | |
| Daseinsvorsorge privatisiert hat und einige wenige damit richtig viel Geld | |
| verdienen. Oder dass Brücken nicht kaputt sein müssten. Aber Instandsetzung | |
| verspricht halt keinen Profit. | |
| Peggy: Man hätte auch vor Jahren vorausschauend sagen können: Nein, wir | |
| schließen jetzt keine Schulen, denn wir brauchen Zuwanderung, wir brauchen | |
| mehr Menschen hier, deren Kinder dann die Schulen besuchen. | |
| Wenke: Es wird nicht gesagt, dass Konzerne, die Mindestlohn oder weniger | |
| bezahlen, im Prinzip diejenigen sind, die vom Staat alimentiert werden, | |
| weil deren Geschäftsmodell darauf basiert, keinen existenzsichernden Lohn | |
| zahlen zu müssen, da dieser durch staatliche Transferleistungen aufgestockt | |
| wird. Und das bei aktuell [2][20 Prozent aller erwerbsfähigen | |
| Bürgergeldempfänger*innen!] | |
| Annett: Dasselbe bei Wohnungseigentümer*innen, die immer wieder | |
| Schlupflöcher finden, um die Miete zu erhöhen. Und das Wohngeld zahlt dann | |
| der Staat und alimentiert sie damit. | |
| Wenke: Wer ist dran? | |
| Wenke erwürfelt sich die Hauptstraße. Danach muss sie fürs Kapital würfeln. | |
| Dann ist Annett dran, sie bekommt die Theaterstraße. Peggy geht über Los | |
| und bekommt eine Aktionskarte: „Ihr habt jetzt Sommerferien und endlich | |
| mehr Zeit, euch gegen den Großkonzern zu wehren.“ | |
| Peggy: Wie bitte? Moment, Moment. Ich würde ja gern mal eine Woche wirklich | |
| nur Urlaub machen und mich in der Zeit auch nicht um Politik kümmern. | |
| Wenke zieht eine Aktionskarte für die Erweiterung der Öffis: „Du baust | |
| Tramschienen auf die Wiener Straße, setze deinen Marker drauf.“ Annett | |
| erwürfelt sich die Badstraße. Da liegt schon ein Marker von ihr. Fehlt also | |
| nur noch ein dritter Marker – dann ist die erste Straße schon in | |
| aktivistischer Hand. Natürlich spielen wir auf einen gemeinschaftlichen | |
| Sieg. Wenke summt Ton Steine Scherben: „Aus dem Weg, Kapitalisten, die | |
| letzte Schlacht gewinnen wir.“ | |
| Annett: Mist, schon wieder vergessen, für den Großkonzern zu würfeln. Oh | |
| nein! Er bekommt die Museumsstraße. | |
| Peggy: Ist das jetzt die erste Straße, die der Kapitalist besitzt? Ich | |
| glaube, das richtige Monopoly ist realistischer. | |
| Annett: Die Gier wird in diesem Spiel hier überhaupt nicht geweckt. | |
| Peggy: Es ist ja kein Geld da. Nur diese Marker, die uns nichts bedeuten. | |
| Das heißt, wir haben auch keinen Neid untereinander. Es geht auch nicht | |
| darum, wer seine Miete morgen noch zahlen kann. Du musst dich nicht fragen, | |
| ob du das Eigentum, das du vielleicht erarbeitet oder mit Glück erwürfelt | |
| hast, solidarisch teilst oder ob du es für deine individuelle | |
| Altersabsicherung brauchst. In der Realität bist du ja ganz oft in diesem | |
| Dilemma: Gemeinschaftsinteresse oder persönliches Interesse. | |
| Annett: Die Frage ist ja, gibt man der Gemeinschaft was durch das Zahlen | |
| von Steuern, zum Beispiel für Erbschaften oder Vermögen? Was ich eigentlich | |
| immer besser finde als durch Spenden, wo man dann irgendwie eine Erwartung | |
| hat an die, denen man spendet. | |
| Wenke: Und wo ist die Macht des Kapitals? Es hockt auf der Museumstraße. | |
| Was ist denn das für ein Kapitalist? | |
| Peggy: Na, ein gebildeter Kapitalist. Ich darf eine Aktionskarte ziehen: | |
| „Die Stadtregierung hat beschlossen, den Stadtpark auszubauen.“ Ein | |
| Träumchen. Platz für ein Fußballfeld, eine Hochbeetanlage und ein | |
| Freilichtkino. Haben wir schon die Gesetze zur Dachbegrünung beschlossen? | |
| Annett: Die Aktionskarte habe ich, das passt doch gut. | |
| Wenke würfelt und zieht: So, jetzt haben wir auch den Opernplatz. Gut. | |
| Weiter geht’s. Annett hat die Berliner Straße. Prima. Entwickeln wir mal | |
| gleich die ganze Gegend hier. | |
| Peggy: Bei dem Tempo haben wir bald gewonnen. Ich finde übrigens, dass | |
| Chemnitz eine sehr grüne Stadt ist – mit einem schlechten Verkehrskonzept. | |
| Wenke: Jetzt kommt das Feld Steuern. „Wer auf eines der beiden Steuerfelder | |
| kommt, muss seinen nächstgelegenen Marker vom Spielfeld entfernen.“ Diese | |
| Regel gilt nur für die Aktivisti. Na, das ist schon realistischer: Der | |
| Großkonzern muss keine Steuern zahlen. | |
| Peggy: Oder sie stehen in keinem Verhältnis: Ich habe neulich gehört, dass | |
| Tesla in Brandenburg etwa 30 Millionen im Jahr an Gewerbesteuer zahlt und | |
| an öffentlichen Steuergeldern wurden schon 940 Millionen für die Ansiedlung | |
| der Gigafabrik ausgegeben. | |
| Annett: Und dann kommt noch die Verlegung des Bahnhofs dazu, die das Land | |
| Brandenburg voraussichtlich 59 Millionen Euro kostet und für die | |
| Anwohner*innen längere Wege bedeutet. | |
| Wenke: Von den ökologischen Folgekosten mal ganz abgesehen. Leider ein | |
| wirtschaftspolitischer Klassiker – Privatisierung von Gewinnen und | |
| Vergemeinschaftung von Risiko und Folgekosten. | |
| Annett: Es geht nur auf, wenn du denkst, dass die dann 100 Jahre bleiben | |
| und ordentlich ihre Gewerbesteuern zahlen. Und unser Spiel hier geht nur | |
| auf, weil niemand von uns abtrünnig wird und sich mit dem Großkonzern | |
| gemeinmacht. Aber in der Realität sieht es ja oft so aus, dass | |
| Gegenbewegungen aus irgendwelchen Zwängen heraus schließlich doch mit | |
| Konzernen kooperieren. | |
| Wenke: In unserem Spiel hier gibt es kein lukratives Jobangebot oder | |
| Sponsoring, keine finanziellen Abhängigkeiten, keine Existenz- oder | |
| Abstiegsängste. Dafür eine „Aktionskarten-Regierung“ mit ausgeprägtem | |
| Gemeinwohlinteresse. | |
| Peggy: Du musst auch nicht entscheiden, verwendest du jetzt deine Zeit für | |
| politisches Engagement oder für die Familie. Und: Solidarität tut hier | |
| überhaupt nicht weh. Manchmal unterstütze ich Aktionen, auch wenn ich mich | |
| nicht mit allen Punkten vollständig identifizieren kann. | |
| Annett: Ja, ist Abwägungssache. | |
| Wenke: Der Konzern ist dran. Wo ist er? Ah, er hat die Turmstraße. Und | |
| zieht eine Kapitalkarte, weil er über Los gegangen ist: „Capital Defensive | |
| Architecture. Der Großkonzern möchte nicht mehr, dass sich obdachlose | |
| Menschen in der Nähe seines Eigentums aufhalten. Deswegen baut er die | |
| überdachte Bank in mehrere Stühle um, damit dann niemand mehr darauf | |
| schlafen kann.“ | |
| Peggy: Das ist das erste Mal, finde ich, dass der Konzern ein bisschen | |
| gemein wird. | |
| Wenke: Es ist so ein bisschen wie Häuser besetzen ohne Widerstand und | |
| Räumung. | |
| Peggy: Ich muss sagen, es ist schön, mal wieder einen Abend mit euch zu | |
| verbringen … Oh, passt mal auf, ich habe anscheinend gerade die Gefängnisse | |
| abgeschafft. „Anstatt Menschen mit Haftstrafen im Gefängnis einzusperren, | |
| wird der Fokus nun auf die Bekämpfung von Armut und auf die Erweiterung von | |
| Hilfsangeboten gelegt.“ | |
| Annett: Und der Großkapitalist, der alles unterschlägt, kommt auch frei. | |
| Also die Cum-Ex-Leute, die kommen dann auch nicht mehr ins Gefängnis. | |
| Wenke: Das halte ich wieder für realistisch. | |
| Peggy: Und was ist mit Mord und Totschlag? | |
| Wenke: Wir sind in Rio Reisers Traum: „Alle Türen waren offen, die | |
| Gefängnisse leer. Keine Waffen, keine Kriege, mehr …“ Du bist dran, Annett. | |
| Annett: Wieder eine Aktionskarte: Gerechte Steuerreform. „Das lange | |
| geforderte Gesetz, Superreiche entsprechend ihrem Wohlstand zu besteuern, | |
| wird endlich verabschiedet.“ | |
| Peggy: Der Traum ist aus! Darüber haben wir ja schon gesprochen, dass sich | |
| zum Beispiel in Bezug auf die Vermögenssteuer viele Menschen in der Mitte | |
| eher solidarisch mit den Reicheren zeigen, weil sie sich potenziell in der | |
| Zukunft da sehen oder hoffen, dass ihre Kinder eines Tages da sind, statt | |
| solidarisch mit den Ärmeren zu sein. | |
| Wenke: Die Mehrheit der Deutschen kann von der Steuerpolitik systematisch | |
| bevorteilte Superreiche [3][besser ertragen oder ausblenden] als die | |
| maximal [4][2 Prozent der erwerbsfähigen Bürgergeldempfänger*innen], | |
| die nicht arbeiten wollen. Statt „wir arbeiten doch auch“ möchte ich | |
| endlich “wir zahlen doch auch unsere Steuern“ hören. | |
| Annett: Okay, dann jetzt noch: „Deutsche Wohnen & Co. enteignen. Das Gesetz | |
| wird beschlossen. Dank dir und deiner Aktivisti-Freundinnen wird der | |
| Großkonzern gezwungen, seine Wohnung an den Staat zu verkaufen, wodurch die | |
| Mietpreise wieder sinken und bezahlbar werden.“ Jetzt haben wir gleich | |
| gewonnen. | |
| Peggy: Das reale Monopoly ist das Spiel, das ich wirklich am wenigsten gern | |
| spiele. Es ist zutiefst frustrierend. Das Verlieren zieht sich so lange | |
| hin. Du siehst es kommen, dass du keine Chance mehr hast, weil so viele | |
| Straßen anderen gehören und du immer nur bezahlen musst. | |
| Annett: Aber das ist ja die Realität. Ich habe das Gefühl, dass Trump, | |
| Putin und Co. gegen die Welt Monopoly spielen. Mariupol und der | |
| Gazastreifen als 1-A-Lage. | |
| Peggy: Ja, genau. Diese Frustration will ich doch nicht noch in meiner | |
| Freizeit haben. | |
| Wenke: Es gibt auch Leute, die gewinnen. | |
| Annett: Streng dich mal an. | |
| Wenke: In dem Spiel hier gewinnen wir alle, wir sind hier in einem anderen | |
| Gesellschaftssystem. | |
| Peggy: Genau. Wir haben keine Frustrationserlebnisse. | |
| Wenke: Die Gefängnisse sind leer. | |
| Peggy: Keine Waffen und keine Kriege mehr. Das ist … | |
| Wenke: … das Paradies. Der Traum ist aus. Düdüdüdüdüdüdü. | |
| ALLE: Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird. | |
| Wenke: Ich denke bei Ton Steine Scherben an Claudia Roth. | |
| Annett: Gibt es ein Land auf der Erde … | |
| Peggy: … in dem der Traum Wirklichkeit ist. Und jetzt stehen wir in der | |
| Werner Seelenbinder-Halle. 1988, Ost-Berlin. Und alle singen mit: „Dieses | |
| Land ist es nicht.“ | |
| Annett: Aber das andere ist es auch nicht. … Jetzt muss ich wieder für den | |
| Kapitalismus würfeln. Mist: Deutsche Wohnen enteignen wird wieder | |
| zurückgenommen. | |
| Wenke: Achtung! Dafür gehört die Schlossallee jetzt uns. | |
| Peggy: Hier in Chemnitz läuft gerade eine Edvard-Munch-Ausstellung und dort | |
| ist auch eine Videoinstallation der polnischen Künstlerin Karolina Bregula | |
| aufgebaut: „Der Sturm“ (2024). Auf fünf Bildschirmen sind fünf Personen zu | |
| sehen, die an einer Küste stehen. Sie schauen auf einen Punkt in der Ferne | |
| und beschreiben, was sie sehen – einen Sturm, der über einer Insel aufzieht | |
| und immer stärker wird. Sie sagen: „Ich bin sicher, dass der Sturm bald | |
| hier ankommen wird. … Bin ich in Gefahr? … Im Radio sagen sie, dass der | |
| Sturm gefährlich ist. … Wer hat den Sturm verursacht? … Ich habe den Sturm | |
| nicht verursacht. … Obwohl ich den Sturm nicht verursacht habe, fühle ich | |
| mich schuldig.“ Bei Wikipedia habe ich gelesen, dass Solidarität im | |
| römischen Recht meinte, dass man als Einzelne*r haftbar ist – auch wenn | |
| man einen Vertrag mit vielen anderen abschließt. Die Frage: Bin ich als | |
| Einzelne haftbar für das Ganze, finde ich tatsächlich in Bezug auf die | |
| Klimakrise einen wichtigen Gedanken. In der Installation heißt es weiter: | |
| „Ich denke, jetzt dort zu sein, muss schrecklich sein. … Die Wahrheit ist, | |
| dass ich die Bewohner der Insel noch nie mochte. … Es tut mir nicht leid, | |
| ich habe mit den Menschen nichts zu tun.“ Wie viel Solidarität hat man, | |
| wenn die Insel weit weg ist … | |
| Wenke: Oder es ist eine Privatinsel von einem Superreichen. | |
| Peggy: … der deutlich mehr für den Sturm verantwortlich ist als ich. | |
| Annett: Das ist die Frage: Wo gerät Solidarität an Grenzen? Die Leute, die | |
| im Luftschutzkeller zusammengesessen haben, waren auch solidarisch und | |
| haben gemeinsam gekocht. Aber sie hätten jeden rausgeschmissen, der einen | |
| gelben Stern am Mantel trug. Echte Solidarität hieße ja, dass du auch | |
| solidarisch bist mit Leuten, die nicht zur eigenen Gruppe gehören. | |
| Peggy: Heißt es das wirklich? Solidarität entsteht doch oft unter | |
| Gleichgesinnten: „Arbeiter aller Länder, vereinigt Euch.“ | |
| Wenke: Ich finde schon, dass Solidarität darüber hinaus reichen sollte. | |
| Sinthujan Varathrajah formuliert das ziemlich treffend: „Ich glaube | |
| wirklich daran, dass dieser Zwang zu Nähe und Ähnlichkeit als Grundlage für | |
| jegliche Form von Mitgefühl verkürzt und irreführend ist. Solidarische | |
| Beziehungen sollten unabhängig davon existieren.“7 | |
| Peggy: Ich schließe manchmal meine Augen, weil mich das, was ich sehe, | |
| erschreckt und verstört. Es gibt Tage, an denen ich denke, ich ertrage | |
| keine einzige Nachricht mehr. Ich ertrage meine Ohnmacht nicht. Ich habe | |
| auch Angst. In der Videoinstallation heißt es: „Ich denke daran zu helfen.“ | |
| Und: „Ich muss mich jetzt vor allem um mich selbst kümmern. … Wenn der | |
| Sturm da drüben alles zerstört hat, wird er hierherkommen. … Und ich frage | |
| mich, wer wird mir dann helfen?“ Jürgen Habermas hat mal gesagt, dass | |
| Solidarität im Vertrauen darauf entsteht, dass umgekehrt dir diese | |
| Solidarität auch zuteil wird. | |
| Wenke: Ja, dass sie auf Reziprozität beruht. | |
| Peggy: Genau. Deshalb hat mich die Installation so traurig gemacht. Weil | |
| ich dachte: Dieses Vertrauen, dass andere solidarisch mit dir sind oder | |
| sein werden, ist auf breiter Ebene nicht mehr da. Es fehlt eine positive | |
| Zukunftsvision, wie sie zum Beispiel mit der frühen Arbeiterbewegung | |
| einherging: Wir solidarisieren uns international, denn wir wollen eine | |
| Welt, in der die Arbeiter*innen nicht mehr die Ausgebeuteten sind. Das | |
| ist das positive Ziel. Im Moment dient die Solidarisierung eher dazu, die | |
| Katastrophen abzumildern. | |
| Wenke: Was wäre denn eine neue Internationale, die breit genug wäre, um | |
| Menschen, die ähnlich denken, zu vereinen? Das sind ja sicherlich nicht | |
| wenige, die sich mehr öffentliche Daseinsfürsorge, ein gerechteres | |
| Steuersystem, überhaupt eine lebbare Zukunft wünschen. Womit könnte man | |
| Menschen dazu bringen, sich in ihrem Umfeld, im Land, international zu | |
| verbinden? Occupy Wall Street, wie viele Jahre ist das her? | |
| Annett: Im Moment kämpfen wir ja eigentlich nur darum, das zu bewahren, was | |
| wir schon haben. Der Sturm … | |
| Peggy: ist … | |
| Wenke: … überall. | |
| Annett: Heißt das, dass wir eigentlich die Konservativen sind? Nehmen wir | |
| die UNO. Wir sehen, dass sie in allen Belangen geschwächt wird. Es gibt | |
| natürlich immer Defizite, die solche Organisationen haben. Aber nur die | |
| Defizite zu sehen, hieße, dass eine Weltgemeinschaft wie die UNO in | |
| absehbarer Zeit scheitern wird. | |
| Wenke: Und dann fangen wir wieder von vorne an. Aber warum beharren wir | |
| nicht trotzdem auf den positiven Visionen und Grundideen dieser | |
| Organisationen und kämpfen für eine konsequente Umsetzung von Völkerrecht, | |
| für ein solidarisches Europa oder für eine auf echter Teilhabe gründende | |
| Kommunalpolitik? | |
| Annett: Viele von uns fragen sich ja, warum in den USA nur sehr zaghaft | |
| gegen den sich ausbreitenden Autoritarismus protestiert wird. In den | |
| letzten 20 oder 30 Jahren sind viele dermaßen in eine Abhängigkeit geraten, | |
| dass ein Protest zwar nicht das Leben, aber die Existenz gefährdet. Die | |
| sind jetzt in der Defensive, die, die jetzt aufstehen müssten, können es | |
| nicht, weil sie Kredite haben. | |
| Wenke: Ich frage noch mal: Was wäre eine positive Zukunftsvision, die dem | |
| neoliberalen Autokratismus entgegensteht, der sich gerade in rasender | |
| Geschwindigkeit über den Erdball ausbreitet? | |
| Peggy: Ich weiß, ich bin morgen wieder zuversichtlicher. Aber angesichts | |
| der Installation habe ich gedacht: Krass, ich bin auch eine Person, die | |
| gerade wie gelähmt auf den Sturm schaut, auf Kriege, auf die Klimakrise, | |
| auf die vielen anderen großen Probleme, auf die nächsten Wahlen. Ich glaube | |
| auch nicht mehr an eine globale Arbeiter*innenbewegung. Mein letztes | |
| Vertrauen setze ich auf Frauen*, da spüre ich noch am meisten Solidarität. | |
| Annett: Ich glaube, dass eine globale Frauen*bewegung die einzige | |
| Bewegung ist, die noch vorstellbar ist als weltverändernde progressive | |
| Kraft. | |
| Wenke: Also eine neue Frauen*bewegung, mit einer Stärke, wie sie Emmeline | |
| Pankhurst beschrieben hat: „Wir tragen keine Kennzeichen, wir dringen in | |
| alle Klassen, ihr könnt uns nicht ausfindig machen, und ihr könnt uns nicht | |
| aufhalten.“8 | |
| Peggy: Da sind wir wieder beim Anfang: Der Kunst, Verbindungen und Nähe | |
| innerhalb von weiten Räumen und in einem eh schon überfüllten und prekären | |
| Alltag zu schaffen. Ich meine, wir sind alle kurz vorm Burnout. Und wir | |
| müssen direkt in den Sturm hineinschauen, um die andere Frau darin auch | |
| wirklich zu sehen. | |
| Wenke: Wir brauchen eine gemeinsame Aktionskarte. „Demokratie, Rechtsstaat, | |
| die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und Abschaffung des | |
| Patriarchats werden konsequent Grundlage jeden politischen Handelns“. | |
| Annett: Ja, das wären alles Lieblingsaktionen. | |
| Peggy: Und wo ist jetzt der Kapitalismus abgeblieben? | |
| Wenke: Der hat hier eh keine Chance. Die letzte Schlacht gewinnen wir. | |
| Annett: Hier in der Ferienwohnung darf man übrigens ab 22 Uhr nicht mehr | |
| laut singen. Kostet 250 € Strafe. | |
| Peggy: Nein, ehrlich, steht das in den Hausregeln? | |
| Annett: Ja, das steht am Kühlschrank. | |
| Peggy: Ist nicht wahr. | |
| Annett: Aus dem … | |
| Wenke: … Weg | |
| Peggy: … Kapitalisten. Achtung, hier ist wieder eine Kapitalkarte: „Der | |
| Großkonzern hat sich drei neue Grundstücke in der Theaterstraße gekauft, um | |
| dort ein großes Luxusgebäude zu errichten. Entfernt dort alle von Aktivisti | |
| gesetzten Marker, ersetzt sie durch einen Marker des Großkonzerns.“ | |
| Wenke: Nein. | |
| Annett: Warum das Theater? Es gehört uns. | |
| Peggy: Habt ihr jetzt einfach Nein gesagt und die Kapitalkarte verschwinden | |
| lassen? | |
| Wenke würfelt: Genau. Die Theaterstraße bleibt bei uns. Aus dem Weg, | |
| Kapitalisten. | |
| Annett würfelt: Dieses Spiel gewinnen wir. | |
| Peggy: Schaut mal, jetzt habt ihr beide schon jeweils drei Straßen | |
| vollständig entwickelt. Damit haben wir tatsächlich gegen den Kapitalismus | |
| gewonnen. | |
| Wenke: War ein bisschen einfach. Anderthalb Stunden und nur drei | |
| Aktivistinnen nötig. Das wäre dann auch die Überschrift für unseren Text: | |
| „Drei Ostdeutsche Frauen besiegen den Kapitalismus. In einer Wohnung in | |
| Karl-Marx-Stadt.“ Mission accomplished. Das ist das Ende. | |
| Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes stand, dass | |
| Peggy gerade ein Theaterstück in Chemnitz inszeniert. Richtig ist, dass | |
| dort gerade ein Theatertext von Peggy inszeniert wird. | |
| Fußnoten: | |
| 1 Q-Serie: Vier- bis fünfgeschossiger Typenbau des DDR-Bauwesens in den | |
| 1950er und 1960er Jahren vor dem Übergang zum Plattenbau. | |
| 2 Das Spiel ist im Rahmen eines Seminars am Otto-Suhr-Institut unter der | |
| Leitung von Dr. Bianca Schemel entstanden, das sich mit Spielen als Methode | |
| der politischen Bildung beschäftigte. Die Autor*innen sind Nelli | |
| Brucker, Katharina Schilcher, Manuel Tapia und Jonas Fink. | |
| 3 Monopoly: Brettspiel. Viele Jahrzehnte wurde die Erfindung | |
| fälschlicherweise einem Mann zugeschrieben, erfunden hat es aber 1904 | |
| Elisabeth Magie. Mit dem „Landlord’s Game“ wollte sie eigentlich auf die | |
| Gefahren des monopolitischen Grundstücksbesitzes hinweisen. | |
| 4 Es gab auch die Rollenkarte „Umweltaktivisti“, die aber keine von uns | |
| gezogen hat. Das passt zu den aktuellen Kürzungen im Land und dazu, dass in | |
| der jetzigen Regierung kaum eine*r mehr über Klimapolitik spricht. | |
| 5 Im Philosophischen Wörterbuch der DDR steht unter Solidarität | |
| sozialistischer Internationalismus, Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2, | |
| hrsg. V. Georg Klaus und Manfred Buhr, Leipzig, 10. Neu bearbeitete und | |
| erweiterte Auflage, 1974. | |
| 6 „Vielleicht basiert Solidarität darauf, manchmal auch die Beschmutzung | |
| anzunehmen: durch diametral entgegengesetzte Meinungen, durch | |
| Ausgeblendetes, durch das, was meine Verbündeten und mich ideologisch | |
| trennt.“ Sivan Ben Yishai in Theater heute, Spielzeitheft 2025/2026. | |
| 7 Sinthujan Varatharajah & Moshtari Hilal: „Hierarchien der Solidarität“, | |
| 2024 | |
| 8 Emmeline Pankhurst, britische Suffragette, aus einer Rede 1913 in | |
| Hartford, zitiert nach: Bude, Solidarität, S. 145 | |
| 17 Oct 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Gespraeche-ueber-Ost-und-West/!5996421 | |
| [2] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1391180/umfrage/aufstocker-v… | |
| [3] https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/soziale-ungleichheit-354/520845/… | |
| [4] https://de.statista.com/infografik/31959/erbwerbsfaehige-leistungsberechtig… | |
| ## AUTOREN | |
| Annett Gröschner | |
| Peggy Mädler | |
| Wenke Seemann | |
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