# taz.de -- Neuer Roman von Paula Irmschler: Zwei Frauen, kein Drama | |
> Paula Irmschler erzählt von Mutter und Tochter, mit Liebe für Neurosen. | |
> „Alles immer wegen damals“ setzt einen neuen Ton in der ostdeutschen | |
> Literatur. | |
Bild: Seit „Superbusen“ Bestseller-Autorin: Paula Irmschler | |
Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter ist aufgeladen – psychologisch | |
und popkulturell. Aber könnte man diese Beziehung auch einfach als die | |
Geschichte zweier Frauen erzählen, die auf eine Art zufällig durch Geburt | |
miteinander verbunden sind? Und könnte man darüber hinaus eine ostdeutsche | |
Geschichte erzählen, die nicht jede Regung mit der DDR oder den | |
Transformationserfahrungen der 1990er Jahre erklärt? Genau das versucht | |
Paula Irmschler in ihrem neuen Roman „Alles immer wegen damals“. | |
Im zweiten literarischen Werk der gebürtigen Dresdnerin sprechen Mutter und | |
Tochter seit zwei Jahren nicht mehr miteinander. Der Grund scheint kein | |
besonderer zu sein. Zumindest erfährt man ihn als Leser*in nicht. Tochter | |
Karla, 30 Jahre alt, ist der Liebe wegen nach Köln gezogen. Mutter Gerda, | |
60 Jahre alt, lebt noch immer in Leipzig, wo Karla aufgewachsen ist. | |
Beide bekommen von Karlas anderen Geschwistern – Gerdas drei weiteren | |
Kindern – zum Geburtstag ein gemeinsames Wochenende in Hamburg geschenkt, | |
inklusive Eintrittskarten für den „König der Löwen“. | |
Schon die Reaktion auf das Geschenk charakterisiert die beiden Frauen recht | |
gut. Karla ist überfordert, verdrängt den Ausflug sofort, drückt sich lange | |
um eine Zu- oder Absage. Auch Gerda verspürt keine Lust auf den Ausflug, | |
aber sie packt es an. Die eine verkriecht sich am liebsten in ihrer | |
Wohnung, will Kinder haben, mit ihrer Partnerin eine Familie gründen. Die | |
andere ist froh, die Kinder endlich durchgebracht zu haben, will etwas | |
unternehmen, sich ins sogenannte Wuling begeben. Die eine ist „eine | |
Boomerin im Körper eines Millennials“ – bei der anderen ist es umgekehrt. | |
Paula Irmschler, Jahrgang 1989, kennt sich aus mit Millennials. Mit ihrem | |
[1][Debütroman „Superbusen“] wurde die Wahl-Kölnerin 2020 zur | |
Bestsellerautorin. Darin erzählt sie vom Erwachsenwerden einer jungen Frau, | |
deren Eckdaten ihren eigenen ähneln: in Dresden geboren, in Chemnitz | |
studiert. In „Alles immer wegen damals“ taucht Irmschler nun ausführlich in | |
die Lebenswelt ihrer Elterngeneration ein. | |
## Komik kann Irmschler | |
Das sind die, die 1989 mit kleinen Kindern dastanden und sich in einer | |
neuen Welt zurechtfinden und funktionieren mussten. Und die in der alten | |
Welt nicht wahnsinnig unzufrieden waren. Ganz im Gegenteil. Kurz vor Karlas | |
Geburt und dem Mauerfall war Gerda sogar am glücklichsten. Aber dann kam | |
alles anders. Ob das zu dem distanzierten Verhältnis zwischen Mutter und | |
Tochter geführt hat? Davon steht nichts im Buch. | |
Der Roman „Alles immer wegen damals“ ist das Porträt zweier Frauen. | |
Irmschler widmet Karla und Gerda jeweils eigene Kapitel, zeichnet sie sehr | |
liebevoll, jede für sich, als eigenständige Personen mit eigenen Gedanken | |
und eben nicht in ständiger Reibung miteinander. Natürlich gibt es | |
Gemeinsamkeiten. Zum Beispiel den Humor gegenüber ihrer Situation. Komik | |
kann Irmschler. Eine Zeit lang war sie Redakteurin der Titanic, derzeit | |
arbeitet sie als Autorin für das „Neo Magazin Royale“. | |
Die junge Karla beschreibt Irmschler etwas ausführlicher mit ihrer | |
Zwangsstörung, alles muss immer weiter reduziert oder aufgeräumt werden, in | |
der Welt ist sie noch recht verloren. Aber auch Gerda hat ihre Dramen. | |
Gerade ist erst wieder eine Beziehung vorübergegangen, darauf zündet sie | |
sich leicht theatralisch eine Zigarette an, will noch mal was Neues | |
anfangen, interessiert sich natürlich für ihre Kinder, aber manchmal gehen | |
sie ihr eben auf den Keks. | |
Ist dieses Nebeneinander, dieses Nichtfixieren aufeinander ostdeutsch? Von | |
ihrer neuen Nachbarin Aylin weiß Gerda, dass Mütter im Westen ihre Kinder | |
mit kürzerer Leine erzogen haben. Für Gerda war es normal, gleichzeitig zu | |
arbeiten und vier Kinder großzuziehen. Für Karla war es normal, genau so | |
aufzuwachsen. | |
## Verdrängung! Fehlende Ich-Wahrnehmung! | |
Im Buch [2][„Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich] und gründen den | |
idealen Staat“ erzählt Mitautorin Annett Gröschner von einer Veranstaltung | |
mit dem Psychotherapeuten Hannes Uhlemann: „Der meinte, wenn Leute aus dem | |
Westen in seine Praxis kommen, fangen sie als Erstes an, ihre Mutter zu | |
kritisieren. Und wenn es Leute aus dem Osten sind, sagen sie: Meine | |
Kindheit war normal, ich war viel draußen.“ | |
Freund*innen der Psychoanalyse werden hierbei die Hände über dem Kopf | |
zusammenschlagen. Verdrängung! Fehlende Ich-Wahrnehmung! Und natürlich: | |
fehlende Vergangenheitsbewältigung! Auch Paula Irmschler beschreibt die | |
Kindheit von Karla mit einem Grundton von „normal“, auch das Leben von | |
Gerda in der DDR oder die Gewalterfahrungen beider. Was passiert ist, war | |
nicht immer gut, aber es ist passiert. Das zeugt von einer sehr | |
[3][pragmatischen Lebenseinstellung,] viel Hier und Jetzt mit ostdeutscher | |
Prägung, die in Teilen gar nicht so ausschließlich ostdeutsch ist. | |
Themen wie Wohnungsnot und Geldknappheit durch fehlendes Eigentum und Erbe | |
sind auch für Westdeutsche ein Anknüpfungspunkt. Wie übrigens auch das | |
Thema der berufstätigen Mütter. Denn Hausfrau zu sein, konnte und kann sich | |
auch in Westdeutschland längst nicht jede leisten. | |
Mit ihrem genauen Blick auf die Sehnsüchte und Ängste ihrer | |
Protagonistinnen gelingt es Paula Irmschler, einen eigenen Ton im Reigen | |
der neueren ostdeutschen Literatur zu setzen. Hier erzählt eine Autorin von | |
Menschen, die nicht für eine große Geschichte herhalten müssen. DDR, Wende, | |
Transformation – alles kommt vor in diesem Roman. Auch Ausdrücke wie | |
„runtergemährt“ oder „abkindern“, die ohne sächsische Herkunft oder | |
DDR-Vergangenheit nicht auf Anhieb zu verstehen sind. | |
## Die Versöhnung bleibt aus | |
Das alles kommt aber ohne Pathos und pädagogischen Anspruch aus, sondern | |
als nüchterne biografische Komponente. Letztlich ist „alles immer wegen | |
damals“ – wir sind, wer wir sind, wegen damals. Das wird sich in | |
Ostdeutschland über Generationen nicht ändern, im Westen auch nicht. | |
Die große Versöhnung zwischen Mutter und Tochter gibt es in diesem Buch | |
fast logischerweise nicht. Sie teilen ein paar Geschichten mehr | |
miteinander, und das ist schon versöhnlich. Vielleicht ist das ja auch der | |
erstrebenswerte Status der innerdeutschen Ost-West-Beziehungen: eine | |
faktische Verbundenheit mit saisonalem Ärger. | |
18 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Gottschalk | |
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