# taz.de -- Roman „Intermezzo“ von Sally Rooney: Wenn der Teekessel pfeift | |
> Die Autorin Sally Rooney beschreibt Menschen, die auf ihre Hoffnungen und | |
> Verletzungen konzentriert sind – auch in ihrem neuen Roman „Intermezzo“. | |
Bild: Wovon träumen Mitdreißigjährige? Bestsellerautorin Sally Rooney | |
Es mag Zufall sein, aber seit „Normale Menschen“, dem zweiten Roman von | |
Sally Rooney, erschienen alle neuen Romane der irischen Autorin in der Zeit | |
zwischen Herbst und Sommer, wenn die Tage wieder kürzer und die Abende | |
kühler werden und die Nachmittage noch manchmal ein wenig Restwärme mit | |
sich bringen. Dann setzt man sich ins letzte warme Sonnenlicht des Jahres | |
oder kuschelt sich beim ersten Herbstregen auf das Bett und beginnt zu | |
lesen. | |
Ungefähr so muss sich Sally Rooney die Rezeption vorstellen. Es sind | |
Romane, für die man etwas Ruhe braucht, weil sie offensichtlich zum | |
Nachdenken anregen sollen, manchmal zu offensichtlich. Gleichzeitig sind es | |
auch Romane, die einen treffen können wie ein kühler Herbstnachmittag: Man | |
traut sich nicht ganz raus in das schwere Wetter und ist dann doch froh, | |
sich dieser Stimmung ausgesetzt zu haben. | |
Aber es sind auch Romane, bei denen man sich zeitweise wünscht, sie wären | |
nicht ganz so melancholisch träge, nachdenklich und voller tiefer | |
Gespräche. Manchmal würde man gern das gesamte Personal schütteln, damit es | |
endlich aufhört, so viel nachzudenken und immer die perfekte Sentenz parat | |
zu haben. Vor allem aber sind es Romane, die gefühlt immer wiederkommen – | |
wie der Herbst. | |
Es ist auffällig, dass sich diese Aussagen über alle Romane der | |
Bestsellerautorin treffen lassen. Natürlich haben die meisten | |
Autor*innen ihre Themen und ihren eigenen Stil, Sally Rooney aber hat | |
sich mit ihren bisher vier Romanen, [1][„Gespräche mit Freunden“], | |
[2][„Normale Menschen“], [3][„Schöne Welt, wo bist du“] und dem neuen, | |
„Intermezzo“, ihr eigenes Genre geschaffen. Genreliteratur zeichnet sich | |
dadurch aus, dass sich bestimmte Motive und Erzählmuster stets wiederholen | |
und die Leser*innen dadurch wissen, was sie erwartet. | |
In Rooneys Fall sind das die Schauplätze Dublin und/oder eine Kleinstadt | |
auf dem irischen Land, zwei bis fünf Figuren, mehr oder weniger gleich | |
aufgeteilt in Männer und Frauen, im Alter von Anfang zwanzig bis Mitte | |
dreißig, meistens in einem akademisch-künstlerischen Milieu, die zueinander | |
in Beziehung stehen, wobei es um ein oder zwei romantische Verhältnisse | |
geht. | |
## Suche nach dem einfachen Glück | |
Sie reden sehr viel miteinander, diskutieren ihre Beziehungen und ihr | |
Leben, haben stets sehr guten Sex und behindern und helfen sich gegenseitig | |
bei der Suche nach dem einfachen Glück. Am Ende ist nicht alles gut, aber | |
das ist in Ordnung, weil Rooneys Romane immer mit der Hoffnung in | |
Sichtweite enden – ein verzögertes Happy End. | |
Das alles gilt auch für den neuen Roman, „Intermezzo“, der von Zoë Beck | |
stilsicher ins Deutsche übertragen wurde. Er beginnt kurz nach der | |
Beerdigung des Vaters der beiden zentralen Figuren: Peter, ein junger | |
Anwalt Anfang 30, und Ivan, zehn Jahre jünger als Peter und ein Schachgenie | |
mit neurodiversen Zügen. | |
Peter befindet sich in einer romantischen Dreieckkonstellation mit der | |
22-jährigen Naomi, die als Studentin in prekären Umständen lebt, und | |
Sylvia, Dozentin für englische Literatur Anfang 30. Sie war (und ist) | |
Peters große Liebe, aber nach einem schweren Unfall, seitdem sie unter | |
chronischen Schmerzen leidet und sexuell eingeschränkt ist, hat sie Peter | |
offiziell verlassen. | |
Ivan wiederum lernt zu Beginn der Romanhandlung die fast 15 Jahre ältere | |
Margaret kennen, die auf dem Land lebt, ihren alkoholkranken Mann verlassen | |
hat und ein Kulturzentrum leitet. Nach wenigen Seiten sind damit die | |
Figuren aufgestellt und das Spiel beginnt. Nicht zufällig ist einer der | |
Protagonisten ein begnadeter Schachspieler und der Titel „Intermezzo“ | |
beschreibt – unter anderem – eine Schachstrategie, bei der ein Spieler | |
einen unerwarteten Zug macht. | |
## Wie groß darf der Altersunterschied sein? | |
Was sich in der Folge entfaltet, ist dementsprechend ein dramatisches | |
Beziehungsgeflecht mit Wendungen – oder Zügen –, die ungewöhnlich, aber | |
erwartbar sind. Ausgelotet werden dabei große Fragen zwischenmenschlicher | |
Verhältnisse: Was passiert mit einer Familie, wenn die Eltern alt werden, | |
können Brüder zwischen Zuneigung und Konkurrenz ein gutes Verhältnis haben, | |
wie groß darf der Altersunterschied in einer Beziehung sein, kann man eine | |
Liebe ohne Sex leben, und wie geht eine Beziehung zu dritt? | |
Auch wenn sich das Alter der Figuren von 22 bis 36 erstreckt und die beiden | |
zentralen Protagonisten Peter und Ivan an unterschiedlichen Enden dieses | |
Spektrums stehen, kann man sagen, dass Rooneys Figuren mit ihrer Autorin | |
älter geworden sind. Das liegt auch daran, dass Ivan trotz seiner 22 Jahre | |
sehr reif ist und eine tiefgehende Beziehung mit einer wesentlichen älteren | |
Frau eingeht. | |
Auch sein Verhalten und seine Wünsche entsprechen eher denen eines | |
bürgerlichen Mannes Mitte 30. In den wenigen Szenen, in denen Ivan und | |
Naomi allein miteinander reden, hat man deswegen auch kaum den Eindruck, | |
dass hier zwei Gleichaltrige miteinander sprechen. Naomi selbst bleibt als | |
Figur eher blass. | |
Auch mit „Intermezzo“ ist Rooney, selbst inzwischen 33 Jahre alt, den | |
Erwartungen ihrer Leser*innenschaft treu geblieben, die seit dem ersten | |
Roman vor sieben Jahren auch älter geworden ist und sich von den Romanen | |
stets ein Spiegelbild ihrer eigenen Lebensrealität erhofft, das aber etwas | |
dramatischer ist und dabei sehr gut aussieht. Das Älterwerden der Figuren | |
offenbart sich vor allem in den Träumen, Hoffnungen und Kämpfen der | |
Protagonist*innen. „Intermezzo“ ist vielleicht Rooneys existenziell | |
drängendster Roman. | |
## Sehnsucht nach ruhigen Abenden | |
Konnte man die Herausforderungen, denen sich ihre Figuren bisher stellen | |
mussten, noch unter Identitätssuche von adoleszenten Erwachsenen verbuchen | |
– ohne die Dramatik dieser Lebensphase abzuschwächen –, hat das Personal in | |
„Intermezzo“ bereits Phasen durchlebt, die es traumatisiert zurückgelassen | |
hat. | |
Vor allem Peter, Sylvia und Margaret, die drei Älteren in „Intermezzo“, | |
haben ihre Träume am Ende ihrer Lebensrealität angepasst. Ihr bisheriges | |
Leben hat ihnen tiefe Verletzungen zugefügt und sie erhoffen sich ihre | |
Zukunft in einer ruhigen, beinahe biedermeierlichen Zufriedenheit, in der | |
morgens der Teekessel pfeift, der Garten durch die Jahreszeiten geht und | |
die Wochenenden aus langen Spaziergängen und ruhigen Abenden bestehen. | |
Damit ist auch „Intermezzo“ – wie bei Sally Rooney stets der Fall – ein | |
gegenwarts- und weltarmer Roman geworden, in dem sich Menschen stets um | |
sich und ihren engen Bekanntenkreis drehen und sich dank einiger | |
Privilegien vor allem um sich selbst kümmern können. Margaret wohnt in | |
einem Cottage auf dem Land, Peter und Sylvia haben ausreichend große | |
Wohnungen in Dublin, und Ivan lebt bald im vom Vater geerbten Haus. Naomi | |
wird zwar aus ihrer Wohnung geworfen, kommt aber bei Peter und später im | |
Haus der Familie unter. Irgendjemand hat immer zufällig Geld übrig, ein | |
Haus auf dem Land herumstehen oder noch ein Zimmer frei. Rooney braucht | |
diese Gegebenheiten, damit sich ihre Figuren ganz auf ihre Beziehungen und | |
Hoffnungen konzentrieren können. Viele Leser*innen dürften sich | |
wünschen, ihre Sorgen auch auf dem irischen Land aussitzen zu können. | |
## Autorin der Millennials | |
Das alles macht „Intermezzo“ nicht zu einem schlechten Roman, aber | |
inzwischen hat man den Eindruck, dass Rooney ihr Muster gefunden hat und es | |
mit kleinen Abweichungen immer wieder neu durchspielt, und man fragt sich, | |
ob da noch einmal etwas Neues kommt. Doch dazu müsste Rooney der Sprung in | |
die Lebenswelt von den Menschen gelingen, die nicht noch immer darauf | |
warten, dass ihr Leben beginnt, obwohl es schon längst über sie | |
hereingebrochen ist. | |
Rooney wurde stets als die [4][Autorin der Millennials] bezeichnet, doch | |
viele derjenigen, die dieser Generationskohorte zugerechnet werden, leben | |
inzwischen ein ganz anderes Leben: haben Familie mit Kindern, haben feste | |
Jobs oder haben ihre Träume aufgegeben oder leben sie. Sie steuern auf die | |
Mitte des Lebens zu, während Rooneys Figuren zwar älter geworden sind und | |
andere Sorgen haben, aber letztlich weiterhin darauf warten, dass ihr Leben | |
beginnt. | |
Vielleicht ist das auch die zentrale Aussage von Rooneys gesamten Werk: Das | |
Leben ist das, was passiert, während man darauf wartet, dass es beginnt. | |
Das wäre keine schlechte Pointe, aber so langsam ist sie auserzählt. | |
7 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Simon Sahner | |
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