# taz.de -- Roman „Schöne Welt, wo bist du“: Macht des Banalen | |
> Die irische Autorin Sally Rooney hat ihren dritten Roman veröffentlicht. | |
> Das Buch besticht durch seine Alltäglichkeit – und gibt dem Hype recht. | |
Bild: Rooney hält in ihren Romanen die Banalität des Alltags fest | |
Es gibt Romane, bei denen es schwerfällt, dem Leser in wenigen Sätzen eine | |
Vorstellung von der Story zu geben. Im Falle von [1][Sally Rooneys] „Schöne | |
Welt, wo bist du“ könnte es nicht einfacher sein: Es geht um zwei junge | |
Frauen im selben Alter – Anfang Dreißig –, die ihr Leben nach einer | |
persönlichen Krise um eine mögliche Beziehung mit einem Mann neu | |
strukturieren müssen. Alice, eine junge Erfolgsautorin, die, nebenbei | |
gesagt, einige Ähnlichkeiten mit Rooney selbst hat, trifft Felix, einen | |
Lagerarbeiter. Ihre Freundin Eileen geht eine zunächst unverbindlich | |
wirkende Beziehung zu ihrem Kindheitsfreund Simon ein. | |
Rooney spielt nun das typische Beziehungs-Hickhack mit ihren Protagonisten | |
durch. Soll man eine exklusive Beziehung führen? Liebt man sich wirklich? | |
Soll man irgendwann Kinder haben? Auch die anderen Themenfelder, die Alice | |
und Eileen beschäftigen, kennen Frauen ihres Alters zur Genüge: Am Rande | |
dräut die Hochzeit der Schwester, geschwisterliche Eifersucht und [2][die | |
Klimaapokalypse.] | |
Es ist kein Zufall, dass beide Frauen im Grunde wie ein und dieselbe Frau | |
wirken. Eileen ist, jedenfalls an äußeren Maßstäben des Erfolgs gemessen, | |
die weniger erfolgreiche Version von Alice. Alice hatte das Glück, für | |
ihren ersten Roman eine unvorstellbar große Geldsumme zu erhalten und von | |
da an als literarische Entdeckung gepriesen zu werden. Auch Eileen wurde | |
von einer Agentin angesprochen, fühlte sich aber nicht im Stande, | |
tatsächlich ein Buch zu schreiben. In Eileens Leben scheinen | |
Beziehungsaspekte eine wichtigere Rolle zu spielen, während für Alice die | |
erzwungene Einsamkeit und die Befreiung von intimen Beziehungen die | |
Bedingung der Möglichkeit des Schreibens ist. | |
Der Roman besteht zu einer Hälfte aus dem E-Mail-Briefwechsel zwischen den | |
Freundinnen, zur anderen Hälfte aus deren Interaktionen mit ihren | |
jeweiligen Partnern. Die Freundschaft der Frauen, und das ist durchaus | |
bedeutsam, scheint nur auf dem Papier (respektive auf dem Mailserver) zu | |
bestehen. Auch andere Personen treten nur am Rande, meist in Form von | |
Kurznachrichten, auf. Den [3][klassischen Bechdel-Test] würde der Roman | |
nicht unbedingt bestehen, da die Frauen nie in Gespräche verwickelt sind, | |
die nicht direkt oder indirekt um die Männer in ihrem Leben kreisen. | |
## Wie philosophisch sind schon E-Mails? | |
Ihre E-Mail-Konversationen sind streng genommen natürlich Monologe. Neben | |
Beziehungsproblemen verhandeln die Frauen auch den Kapitalismus, das Ende | |
der Geschichte und Fragen der Ästhetik. Man könnte nun böse sein und sagen, | |
dass die Tiefe und Ernsthaftigkeit, mit der Alice und Eileen über den | |
Untergang von Kulturen und den Verfall des Sinns für Ästhetik nachdenken, | |
auf Instagram-Bildkachel-Format geschrumpfte Philosophie ist, obwohl sie | |
durchaus große Begriffe bemühen. Dass der Text also vorgibt, deep zu sein, | |
wo er eigentlich eher flach dahinplätschert. | |
Dieses Problem ergibt sich aber aus der Ebene des Formalen – wie | |
philosophisch wird man schon im Rahmen einer E-Mail an eine Freundin? Und | |
weil Rooney all die genannten gesellschaftspolitischen Fragen entlang des | |
Beziehungsthemas abhandelt, findet das Gespräch über das Politische keinen | |
angemessenen Darstellungsrahmen. Das sieht auch Alice ein: „Und während die | |
Welt so ist, wie sie ist, und die Menschheit sich an der Schwelle ihrer | |
Auslöschung befindet, mittendrin in alldem, sitze ich hier und schreibe | |
schon wieder eine Mail über Sex und Freundschaft. Aber wofür sonst soll man | |
leben?“ | |
Um dieses Problem kreist die Autorin mit ihrem Text: Beziehungsfragen sind | |
banal. Die Lage der Welt ist katastrophal. Wer kann die Frage beantworten, | |
wie sich da noch ein höherer Sinn finden lassen soll? Ganz klar, die | |
Literatur. Sie tritt an die Stelle einer göttlichen Autorität, auf die sich | |
Simon, Eileens Freund, im Text beruft. | |
In Gestalt von Alice aber spricht Rooney über die Gegenwartsliteratur ein | |
vernichtendes Urteil aus, eben weil sie normale Menschen abwerte. Am Rande | |
gesagt geht es dabei nicht etwa nur um die Abwertung gewöhnlicher Leute, | |
sondern auch um die Abwertung des Rooney-Bestsellers „Normale Menschen“ | |
durch Teile des literarischen Establishments. | |
## Anklage an die Gegenwartsliteratur | |
Alice wird nicht müde zu betonen, „wie zutiefst philosophisch falsch das | |
derzeitige System der literarischen Produktion wirklich ist“. Und sie wird | |
noch deutlicher: „Das Problem des euro-amerikanischen Gegenwartsromans | |
besteht darin, dass die Grundlage seiner strukturellen Integrität die | |
Verdrängung der gelebten Realität der meisten Menschen auf der Erde ist.“ | |
Man kann das als poetologische Ansage lesen, oder auch als Versuch, von | |
vornherein die erwartbare Kritik am Roman, dass er schon wieder von | |
letztlich lapidaren Beziehungsfragen handelt, zu parieren. | |
Die Banalität auch von „Schöne Welt, wo bist du“ besteht tatsächlich dar… | |
dass wir Geschichten wie diese hundertfach gelesen haben. Andererseits | |
könnte man sagen – und genau das tut Rooney –, dass es im Leben normaler | |
Menschen kaum etwas Bedeutsameres gibt, als die Frage nach dem guten Leben | |
mit einem guten Menschen. | |
Eine Literaturkritik, die das per se als banal und literaturunwürdig oder | |
gar kitschig abtut, muss sich zu Recht den Vorwurf gefallen lassen, dass | |
sie dünkelhaft urteilt. Zumal hier womöglich eine Gender-Bias hineinwirkt – | |
wenn eine Frau über Beziehungsfragen schreibt, dann ist das banal. Wenn ein | |
Mann es tut, ist es Anna Karenina, mindestens. | |
Man kann nüchtern anerkennen, dass Rooney großartige Dialoge und | |
Liebesszenen schreibt. Ihre Figuren sind sound, wie der Engländer sagt. | |
Stimmig, sie fühlen sich richtig an. Es gibt ja nichts Schlimmeres, als | |
Romane über normale Menschen, in denen man das Gefühl bekommt, eines dieser | |
Kleinstadt-Wachsfigurenkabinette zu besuchen, in denen Hitler und Tom | |
Cruise dasselbe Synthetik-Haarteil tragen. Man also überall vor Augen | |
geführt bekommt, dass nichts echt und stimmig ist. Man kann einwenden, dass | |
das Kriterium der Stimmigkeit nur auf die „reale“ Welt verweist und keine | |
genuine literarisch-ästhetische Kategorie ist. Es ist aber für diese Art | |
der Literatur ein entscheidendes Kriterium. | |
## Herrlich gewöhnlich | |
Rooney Dialoge enthalten kein Wort zu viel, die Gesten am Rande sind exakt | |
platziert – die Kaffeetasse wird im richtigen Moment auf den Boden | |
geworfen, und das Klackern der Nägel der Hundepfoten erfüllt die Stille des | |
Raumes zur rechten Zeit. In gewisser Weise sind die Dialoge sogar zu gut | |
choreografiert, so als spiegelten sie die Seegewohnheiten der Generation | |
Netflix eins zu eins – die Szenen stehen einem so deutlich vor Augen, weil | |
man sie schon einmal gesehen hat. Es verwundert nicht, dass „Normale | |
Menschen“ zur Vorlage für eine Serie wurde. Es braucht keine | |
Übersetzungsleistung mehr. So erklärt sich Rooneys Erfolg auch damit, dass | |
uns bestimmte Seh- und Lesegewohnheiten serienmäßig eingebläut wurden. | |
In diesem Sinne erinnert Rooney an jene Hip-Hop-Produzenten, die | |
zuverlässig neue Hits landen, indem sie die minimal veränderte Version des | |
mit Autotunes überfrachteten Vorgängersongs reproduzieren. Wenn eine Masche | |
funktioniert, warum sollte man sie dann ändern? Insofern könnte es ein | |
Fehler sein, dass Rooney mit den Verteidigungen aus dem Munde Alices ihr | |
Erfolgsrezept rechtfertigt, statt es selbstbewusst zu reproduzieren. | |
Viel wichtiger ist die Frage, warum man diese Bücher, trotz ihrer banalen | |
Figuren- und Versuchsanordnung, gerne zu Ende liest. Und das gilt längst | |
nicht nur für die Generation der Zwanzig- oder Dreißigjährigen. Neulich | |
staunte ich, als mir der 85-jährige Großvater meines Mannes erläuterte, er | |
lese auf die Empfehlung einiger Bekannten (im selben Alter) nun Sally | |
Rooney und sei entgegen seiner Erwartung sehr angetan. Er könne das Buch | |
auch einmal eine Zeit lang beiseitelegen, er finde sich immer wieder | |
hinein und könne gut folgen. | |
Rooneys Literatur ist barrierefrei, was sehr böse klingt, aber nicht böse | |
gemeint ist. Rooneys Roman leistet, was ein Roman, gemessen an ihren | |
eigenen Maßstäben, leisten muss: von gewöhnlichen Menschen mit gewöhnlichen | |
Problemen zu erzählen. Auf angenehm gewöhnliche Art. | |
12 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Marlen Hobrack | |
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