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# taz.de -- Sally Rooneys Roman „Normale Menschen“: Lass uns über Klasse r…
> Der für den Man-Booker-Preis nominierte Roman ist voll von Millennials,
> die politisch denken, aber nicht handeln. Warum eigentlich nicht?
Bild: Ihr Roman wurde auch erfolgreich als Serie verfilmt: Autorin Sally Rooney
Semesterferien am Trinity College, Irlands renommiertester Uni. Connell,
Literaturstudent und Arbeiterkind, kann es sich nicht leisten, den Sommer
über seine Miete in Dublin zu bezahlen. Eigentlich will er gern bei seiner
besten Freundin und On-Off-Affäre Marianne wohnen, deren
Mittelschichtfamilie ihre Wohnung mietet. Doch weil er sich nicht traut,
sie zu fragen, gehen die beiden getrennter Wege – und legen ihre Romanze
erst einmal aufs Eis.
Das ist symptomatisch: Den Plot in Sally Rooneys für den Man-Booker-Preis
nominierten Roman “Normale Menschen“ treibt die Scham ihrer
Protagonist*innen an. “Normale Menschen“ ist voll von der Unfähigkeit eines
brainy Paares, trotz oder wegen der vielen Bücher, die sie gelesen haben,
auszudrücken, was sie eigentlich voneinander wollen.
Dabei ist das ziemlich viel. Das Zweitwerk der 29-jährigen irischen Autorin
begleitet Marianne und Connell von ihrer Jugend im ländlichen Sligo nach
Dublin. Ihre Romanze beginnt, als Connell ein beliebter schweigsamer
Fußballstar ist und Marianne ihre Außenseiterrolle durch Proust-Lektüre
vorm Spind sublimiert.
Sie schämt sich, dass seine Mutter bei ihr zu Hause putzt, er schämt sich,
dass er ausgerechnet mit ihr seinen “[1][verdorbenen und geheimen
Begierden] nachgeht“ und sie “am helllichten Tag“ fragt: “Ist es okay, …
ich in deinem Mund komme?“
Später treffen sie sich beim Studium in Dublin wieder. Einander los lassen
sie sich in den nächsten Jahren nie ganz, dazu funktioniert sie zu gut,
ihre Intimität, ob im Bett oder per Mail: Sie sind “wie Eiskunstläufer“,
schreibt Rooney, “ihre Gespräche so versiert und so perfekt synchron, dass
es sie beide erstaunt“.
## Orientierungslos in der Klassengesellschaft
Und doch halten sie etwas zurück voreinander, führt Connell lieber eine
angemessene Beziehung mit einer Frau, deren Freundinnen ihn nicht dafür
runtermachen, dass er nur ein einziges Paar Schuhe besitzt: “Mit Helen
empfindet er keine Scham.“
Als wären sie persönlich verantwortlich für ihr Privileg (oder den Mangel
daran), zeigt Rooney gekonnt auf, wie Klassenscham nicht nur von unten nach
oben, sondern auch von oben nach unten verläuft. Diese vielseitige
Beschämung hat hierzulande zuletzt Daniela Dröscher in ihrem biografischen
Essay [2][“Zeige deine Klasse“] unter die Lupe genommen.
In “Normale Menschen“ lässt sie die Hauptfiguren orientierungslos zurück.
Denn obschon sie es besser wissen, landen sie angesichts der Erniedrigung
durch das Patriarchat oder die Klassengesellschaft am Ende doch wieder bei
sich selbst.
## Schwere Themen und Adverb-Reigen
Da passt es nur ins Bild, dass Marianne den emotionalen und physischen
Missbrauch durch Mutter und älteren Bruder über sich ergehen lässt und
sadomasochistische Beziehungen nicht aus Lustgewinn, sondern zur
Selbsterniedrigung eingeht: „Manchmal glaube ich, ich verdiene etwas
Schlechtes, weil ich ein schlechter Mensch bin.“
“Normale Menschen“ ist voll von schweren Themen, von Essstörung und
häuslicher Gewalt, von Suizid und Depression. Und dennoch liest sich das
bemerkenswert leicht, auch weil Rooney diese Felder eher streift, als dass
sie sie festhält.
Der Adverb-Reigen – der Himmel ist “delierend blau“, Augen “kalt deuten…
und die ohne Anführungszeichen versehenen Dialoge ziehen das Tempo an.
Rooney lesen ist, wie schon bei ihrem Debütroman “Gespräche mit Freunden“,
so vergnüglich und flüchtig, wie im Sommer schnell mit dem Fahrrad einen
Abhang herunterfahren.
## Dann wärst du der Hengst
Leider bringt einen Zoë Becks Übersetzung dabei stellenweise aus dem Tritt.
Da steht dann: „Es werden lauter Mädchen in deinen Kursen sein, du wärst
dann total der Hengst“ oder: „Er könnte mit schräg aussehenden Mädchen
vögeln.“ Irritierend ist auch, dass die Figuren an keiner Stelle englische
Begriffe verwenden – undenkbar für deutschsprachige Millennials.
Rooneys Ruhm – zuletzt i[3][n Form der Serienverfilmung von “Normale
Menschen“] – basiert auch auf ihrer Vermarktung als Millennial par
excellence, als Vertreterin einer Kohorte, die bestens ausgebildet ist und
trotzdem nie so viel Wohlstand erlangen wird wie die Elterngeneration.
Gesellschaftliche Verhältnisse abbilden zu wollen ist genau das, was die
bekennende Marxistin immer wieder erklärt hat.
## Eine Generation hält die Luft an
Aber will sie die Welt nicht nur interpretieren, sondern auch verändern?
“Vielleicht kann Literatur Teil des sozialen Wandels sein“, sagt die
Autorin, die sich ihre öffentlichen Auftritte mit 25.000 bis 50.000
US-Dollar vergüten lässt. Doch warum sind ihre Charaktere, die sich keine
Illusion darüber machen, jemals einen guten Job zu bekommen, nicht
wütender? Könnten sie ihrer Scham ein Schnippchen schlagen, wenn Rooney
ihnen die Gelegenheit dazu gäbe?
“Normale Menschen“ erfasst einen historischen Moment, in dem eine
Generation die Luft anhält.
16 Aug 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Eva Tepest
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