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# taz.de -- Avni Doshis Roman „Burnt Sugar“: Unter emotionaler Dauerspannung
> Gibt es dafür eine angemessene Sprache? Avni Doshis Debütroman „Burnt
> Sugar“ erzählt von einer toxischen Mutter-Tochter-Beziehung.
Bild: Mütter können die seltsamsten Wesen bleiben, die wir treffen, schrieb M…
I would be lying if I said my mother's misery has never given me pleasure.“
– „Zu sagen, dass das Elend meiner Mutter mich nie gefreut hat, wäre eine
Lüge.“ Ich wünschte, ich könnte solche ersten Sätze schreiben. Das
Eingangsstatement der Ich-Erzählerin in Avni Doshis Debütroman „Burnt
Sugar“ ist wie ein Paukenschlag. Und was er einläutet, ist ein
literarischer Tabubruch: Wie kann ein Buch umgehen mit der Hassliebe zu
einer schlechten Mutter?
Der bisher nur auf Englisch erschienene und für den renommierten britischen
Booker-Preis nominierte Roman spielt in der westindischen Metropole Pune.
Die Künstlerin Antara ist frisch verheiratet, als ihre Mutter Tara beginnt,
dement zu werden.
Der Gedächtnisverlust ihrer Mutter ist für die Tochter Anlass, sich an die
turbulente gemeinsame Vergangenheit zu erinnern: Als kleines Mädchen nimmt
ihre Mutter sie mit in den Ashram eines Sektenführers (angelehnt an Bhagwan
Shree Rajneesh, Gegenstand der Netflix-Dokuserie „Wild Wild Country“). Dort
ist das Kind sich selbst überlassen.
Während Tara ihrer Beziehung zum Guru „Baba“ nachgeht, verwahrlost Antara.
Mit sieben Jahren kann sie weder schreiben noch sich auf eine fürsorgliche
oder auch nur okaye Mutter verlassen. Den Absprung schafft das Duo erst,
als Baba eine neue, jüngere Bettgenossin erkürt. Doch die Odyssee des Kinds
setzt sich fort, weg von der depressiven Mutter schicken ihre Großeltern
sie in ein katholisches Internat, wo sie wieder misshandelt und als „dirty
Hindu“ beschimpft wird.
So messy die Geschichte zwischen Mutter und Tocher ist, so nüchtern ist
Antaras Blick auf die Welt und ihre verfallenden Bewohner, auf „the aged
Parsi spinster with marshmallow arms“, „stray dogs … with mangled paws and
chewed ears“ und auf ihren eigenen Körper, „resembling an overripe pear“.
## Scharfzüngige Gedanken
Die Erzählerin hält die Welt mit ihrer Schonungslosigkeit auf Distanz. Als
Mittdreißigigjährige verbringt sie ihre Zeit damit, jahrelange dasselbe
Foto zu kopieren und ihre scharfzüngigen Gedanken für sich zu behalten –
„for fear of sounding careless with words“.
Manchmal zeitigt dieser innere Monolog einen sehr komischen Effekt, etwa
wenn sie die Begegnung eines befreundeten Paares mit ihrer Mutter
beschreibt: „A bisexual, a power-monger and a demented lady walk into a
bar.“ Doch farblos bleibt etwa die Beziehung zwischen Antara und ihrem
namenlosen Mann; die Schilderungen ihres Middle-Class-Lebens zwischen dem
seit Kolonialzeiten bestehendem Social Club, Kokspartys und den nonchalant
mitgemeinten Hausangestellten gehören zu den schwächeren Passagen des
Buchs.
Männer sind in „Burnt Sugar“ ohnehin bloße Randfiguren, im Zentrum steht
die ambivalente Beziehung zwischen Mutter und Tochter.
## Mütter sind seltsam
Die steht unter dauerhafter emotionaler Spannung – und droht ständig zu
explodieren. „Unsere Mütter“, schrieb die Schriftstellerin [1][Marguerite
Duras] einmal, „werden immer die seltsamsten, verrücktesten Menschen
bleiben, die wir jemals getroffen haben.“
„Burnt Sugar“ ist über die konkret abgebildete toxischen Beziehung hinaus
eine Studie dieser universalen Sprengkraft von Mutter-Kind-Beziehungen.
Jeder Konflikt, jedes Problem mit der eigenen Mutter bedrohe das Ich mit
der Selbstauflösung, beschreibt das Doshi. In einem Essay für Harpers
Bazaar India zweifelte sie daran, jemals Kinder haben zu wollen.
Kritiker*innen stellten das Buch bereits in eine Reihe mit großen
Mutterschaftsversuchen wie Sheila Hetis „Motherhood“ und [2][Rachel Cusks]
„Aftermath“.
Tara ist objektiv betrachtet eine schlechte Mutter, sie schlägt ihr Kind,
erniedrigt sie und lässt sie physisch und psychisch verkümmern. Antara
ihrerseits hintergeht ihre Mutter über Jahre. Als sich deren Zustand
vorübergehend verbessert, sabotiert sie gar den gesundheitlichen
Fortschritt. Doch da ist auch die Sorgearbeit, die Antara leistet, und die
Erinnerung an lichtere Momente, die vertraute Präsenz des mütterlichen
Körpers, die Gerichte, die Tara meisterhaft zubereitete.
## Erinnerung ist ein geteiltes Projekt
„Dies ist eine Liebesgeschichte und eine Geschichte des Betrugs“, heißt es
in der Begründung der Booker-Preis-Jury, auf dessen Shortlist das Buch
steht. „Aber nicht zwischen Liebenden – zwischen Mutter und Tochter.“ Die
beiden Frauen können nicht voneinander lassen, auch wenn die mentalen
Irrwege der Mutter den töchterlichen Zugriff auf die Realität zunehmend
gefährden.
Erinnerung, demonstriert Doshi eindrucksvoll, ist immer ein geteiltes
Projekt. Da, wo Antara vermutet, dass ihre Mutter „is leaking, all over and
from everywhere“, wirkt ihre Umnachtung ansteckend. „Burnt Sugar“ ist auch
ein Roman noir, in dem zwei zynische Antiheldinnen die Leserin auf ein
Verwirrspiel zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit mitnehmen. Spielt
Tara ihre Erkrankung nur vor? Hat Antara tatsächlich eine innovative
Heilung für Alzheimer entdeckt? Können wir der Perspektive der Tochter
wirklich vertrauen?
Am Ende schließt sich der Kreis. Antara wird selbst Mutter und fantasiert,
postnatal depressiv, zwischen knallharten Beobachtungen ihrer
dysfunktionalen Patchworkfamilie darüber, ihre Tochter aus dem Fenster zu
stürzen. Tara und Antara stehen auf derselben Seite, als Frauen, deren Wert
in ihrer unweigerlich verfallenden jugendlichen Schönheit liegt, als
Mütter, die liebende Eltern, Ehefrauen und Gastgeberinnen sein sollten und
doch nicht können. Und als verlassene Geliebte desselben Mannes.
## Acht Entwürfe in sieben Jahren
Noch schmerzhafter, als eine schlechte Mutter zu haben, ist die Angst
davor, so zu werden wie sie. Dass sich die Beziehung der beiden Frauen auf
diese Weise, wenn nicht in Wohlgefallen, so doch in analoges Leid auflöst,
ist etwas schade.
Schuld an dieser gleichnishaften Abgeschlossenheit könnte der
Entstehungsprozess des Buchs sein: Nachdem Doshi 2013 für ihr Manuskript
den britischen Tibor-Jones-Preis erhielt, ordnete ihre Agentur umfassende
Überarbeitungen an. Das Ergebnis: acht unterschiedliche Entwürfe in sieben
Jahren. „It was a big mess“, so Doshi.
Ein Glück, dass auch die etwas zu geglättete Endversion so viel Scheiße zu
bieten hat – buchstäblich. „Burnt Sugar“ ist voll von Körperfunktionen,…
Durchfall und Erschöpfung, von Schweißausbrüchen und tropfenden Brüsten. �…
always smell like milk now“, erklärt Antara gegen Ende der Erzählung. „Li…
milk, shit and vomit.“ Mutter und Tochter sind nun beide „leaking out“.
Doshi trägt den schlampigen Körper, die unkontrollierbare Physis in die
Literatur.
Ob die in Dubai lebende Autorin dafür mit dem Booker-Preis geehrt wird,
entscheidet sich am 19. November.
13 Oct 2020
## LINKS
[1] /Workshop-zu-Marguerite-Duras/!5030599
[2] /Buch-Ueber-Ehe-und-Trennung/!5688576
## AUTOREN
Eva Tepest
## TAGS
Literatur
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