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# taz.de -- Krankheit, Pflege und Geschlecht: Die Versorgung ist weiblich
> Und der Tod männlich? Über systemrelevante Berufe und die Rolle der Frau.
> Mit Hinweisen zu Anne Boyer, Katherine Anne Porter und Susan Sontag.
Bild: Zwei Krankenschwestern des US-amerikanischen Roten Kreuzes während der S…
Einerseits sind es mehr Männer als Frauen, die derzeit schwer an Covid-19
erkranken. In Deutschland sind 65 Prozent der daran Verstorbenen Männer.
Andererseits sind es meist Frauen, die sich um sie kümmern und auch dafür
sorgen, dass unser Alltag weiterläuft. Ob in der Betreuung von Kindern,
Kranken und älteren Angehörigen, im Krankenhaus oder an der
Supermarktkasse: [1][Systemrelevante Berufe] werden in Deutschland zu rund
75 Prozent von Frauen ausgeübt. Und sie sind [2][unterdurchschnittlich
schlecht bezahlt.]
Wir stehen vermutlich noch ganz am Anfang einer beispiellosen Krise. Doch
schon jetzt rückt Covid-19 die Geschlechterverhältnisse in den Fokus. „Die
Zeit, in der das Unsichtbare sichtbar wird, ist gekommen“, schreibt die
US-amerikanische Lyrikerin und Essayistin Anne Boyer in ihrem Newsletter
über die Corona-Pandemie.
Was sie damit meint, wird in ihrem Buch „The Undying“ (2019) klar, in dem
sie sich Gedanken über den Zusammenhang von Geschlecht und gesundheitlicher
Versorgung macht. In Zeiten schwerer Krankheit ist „Sorge“, so schreibt sie
da, plötzlich kein abstraktes, intuitives Gut mehr. Stattdessen erscheint
die Care-Arbeit, die allzu häufig von Frauen verrichtet wird und die daher
unbemerkt bleiben kann, „greifbar und grundlegend“.
Vor dem Hintergrund der Brustkrebserkrankung der Autorin und deren
Erfahrungen mit dem US-Gesundheitssystem lehrt uns „The Undying“, dass
Krankheit niemals singulär, sondern immer relational, also in Beziehungen
stehend ist. Boyer beschreibt, wie Pflegehelferinnen ihre Daten erheben,
Krankenschwestern ihr beim Blutabnehmen einen Witz erzählen und Frauen die
Formulare ihrer Ehemänner, Mütter die ihrer Kinder ausfüllen: „Kranke
Frauen“, so schreibt sie lakonisch, „füllen ihr eigenes Formular aus.“
## Die Zwei-Klassen-Pandemie
Jede Kranke und jede Pflegerin hat ein Geschlecht und eine Klasse, viele
sind Rassismus ausgesetzt. Ihre Analyse findet ihren Nachhall in der
pandemischen Gegenwart, in der häufig die Reichen und Mächtigen getestet
werden, Staaten und Privatpersonen auf Schutzausrüstung bieten und Hessen
75 Intensivpflegekräfte aus den Philippinen einfliegen will.
Autorinnen wie Boyer beschreiben den Umgang mit ihren persönlichen und
damit immer auch kollektiven gesundheitlichen Krisen rückblickend. Ein
frühes Beispiel für den feministischen Blick auf eine vergangene globale
Pandemie liefert die US-amerikanische Schriftstellerin Katherine Anne
Porter, und es lohnt sich, diese historischen Erfahrungen in ein aktuelles
Nachdenken über Krankheit, Pflege und Geschlecht einzubeziehen. „Mein Leben
wurde zweigeteilt“, erklärt Porter im Jahr 1963 in einem Interview über die
Spanische Grippe 1918/19. „Alles davor war nur eine Vorbereitung.“
Beinahe wäre Porter an der Krankheit gestorben, die mehr Opfer forderte als
der gesamte Erste Weltkrieg. Ihre Erkrankung verarbeitet sie in der 1939
erschienenen Novelle „Fahles Pferd, fahler Reiter“. Darin arbeitet die
24-jährige Miranda Gray 1918 als Journalistin in Denver.
Schon vor dem Beginn der Erzählung war sie von ihrem Posten als „echte
Reporterin“ auf den „typisch weiblichen Job“ als Theaterkritikerin
degradiert worden. Während sie sich fragt, wie sie davon ihre Miete
bezahlen soll, spürt sie den zunehmenden sozialen Druck, ihrer
vermeintlichen Rolle als Frau gerecht zu werden.
## Süßigkeiten, Blumen und Zigaretten zur Genesung
„Du weißt genau, dass du nicht stricken kannst“, nimmt sie ihr Geliebter
Adam aufs Korn. „Noch schlimmer“, antwortet sie ihm lakonisch. „Ich
schreibe Artikel, in denen ich anderen jungen Frauen rate, Verbände zu
stricken.“ In ihrer Freizeit versucht sie widerwillig, Süßigkeiten, Blumen
und Zigaretten an genesende Soldaten zu verteilen – erfolglos. Die
Ablehnung durch die Männer im Militärspital führt ihr halbherziges Bemühen
um Anpassung ad absurdum.
Das Propagandabild von der mütterlichen Krankenschwester ist nicht das
Einzige, was der erfrischenden Unsentimentalität der Novelle zum Opfer
fällt. Trotz der widrigen äußeren Umstände bändelt Miranda mit dem
Rekruten Adam an.
Doch bald erkrankt sie an der Grippe. Hier verkehren sich die
traditionellen Rollenbilder: Es ist ihr Geliebter, der sie pflegt, ihr
Medizin, Kaffee und Eiscreme bringt. Als sie nach über einem Monat im
Delirium im Krankenhaus aufwacht, erfährt sie, dass Adam, der sich seines
Todes auf dem Schlachtfeld sicher wähnte, selbst an der Grippe gestorben
ist.
Auch das hat die Influenza 1918/19 mit Covid-19 gemein: Die Infektion
erfolgt durch den banalen physischen Kontakt. Der Tod folgt einer
Krankheit, die ganz ohne Patriotismus, Narben oder Heldentum auskommt – und
an der übrigens, wie bisher an Covid-19, mehr Männer als Frauen verstarben.
## Zwischen Humor und Pragmatismus
Miranda überlebt. Das ist kein Triumph. Sie bleibt am Leben, um
weiterzuschreiben und Zeugnis abzulegen: „Lazarus, komm heraus!“ Aber
zuallererst erstellt sie eine Einkaufsliste von Dingen, die sie sich
eigentlich nicht leisten kann: „ein mittelgroßer Lippenstift, ein
Bois-d’Hiver-Parfüm … Sahne“.
Porter zeichnet das Bild einer Frau, die die an sie gestellten Erwartungen
mit Humor und Pragmatismus pariert. Ziemlich ungewöhnlich für die damalige
Zeit ist nicht nur, dass das Buch ohne Heirat endet. Die Überlebende blickt
ihrer Zukunft trotz der allgegenwärtigen Verwüstung auch dezent
optimistisch entgegen. „Jetzt gibt es genug Zeit für alles“, schließt
Miranda in Porters Novelle.
Ähnlich ihrer Protagonistin erlebte die Autorin ihre Influenza-Erkrankung
als einschneidende Erfahrung. 1920 geht sie ins postrevolutionäre Mexiko
und arbeitet dort mit Mitgliedern der linken Bewegung wie Diego Rivera
zusammen. Möglich wurde das auch durch die kollektive Erfahrung von Krieg
und Krankheit und die damit einhergehenden sozialen Umstürze, die, so
Porter, „seltsame und nicht klassifizierbare Geschlechterrollen“
ermöglichten.
Der Nachgang der Spanischen Grippe ist ein Lehrstück im Vergessen einer
Pandemie, die zu allgegenwärtig und zugleich zu traumatisch war, um tiefe
Spuren im kulturellen Gedächtnis zu hinterlassen. Die US-amerikanische
Autorin Susan Sontag attestiert der Menschheit in ihrem im Jahr 1978
erschienenen bahnbrechenden Essay „Krankheit als Metapher“ in Bezug auf die
Influenza-Pandemie gar einen „nahezu vollständigen historischen
Gedächtnisverlust“.
## Die Corona-Pandemie ist eine Zäsur
Dabei entstanden im Kontext dieser Krankheit neue Möglichkeitsräume an der
Schnittstelle von Geschlechterrollen, Medizin und Sozialpolitik. So wurde
der professionelle Krankenpflegedienst in den USA auch auf das Drängen von
Pflegerinnen hin ausgebaut. Die hohen Infektions- und Sterberaten unter
Arbeiter*innen trugen in Schweden zur Entstehung des Wohlfahrtsstaats bei,
und auch die junge Sowjetunion installierte ein öffentliches
Gesundheitssystem.
Die Corona-Pandemie ist eine Zäsur. Sie könnte feministische Interventionen
ermöglichen, der Pflege größere Aufmerksamkeit und Bedeutung verschaffen,
und womöglich tatsächlich auch neue, „seltsame und nicht klassifizierbare
Geschlechterrollen“ mit sich bringen. Das historische Beispiel der
Spanischen Grippe zeigt aber auch, wie gefährdet auf diesem Gebiet
Fortschritte immer sind. Vieles von dem emanzipativen Potenzial der neuen
Geschlechterrollen war spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg wieder
vergessen.
15 Apr 2020
## LINKS
[1] /Beschaeftigte-im-Supermarkt-und-Corona/!5675167
[2] /Linken-Politikerin-ueber-Soziale-Berufe/!5675822
## AUTOREN
Eva Tepest
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