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# taz.de -- Bücher über Ferien ohne verreisen: Denk dir, es wäre freiwillig
> Ein Buch wie gemacht für die Kontaktsperre: Harriet Köhlers vergnügliche
> „Gebrauchsanweisung fürs Daheimbleiben“.
Bild: In den Himmel schauen, Wolkentiere lesen, ist das Stichwort für einen Ta…
Am dritten Tag ist das „Nichts tun“ dran und das beginnt mit der Empfehlung
„Widerstehen Sie dem Drang aufzustehen“. „Der Lauf der Welt hängt nicht
davon ab, ob wir uns jetzt oder erst in zwei Stunden über ihn informieren“,
das Netz kann also ruhig noch eine Zeit lang abgeschaltet bleiben. Morgens
noch eine Weile länger im Bett zu liegen, sabotiere den Kapitalismus, so
meint [1][Harriet Köhler] in ihrem Buch „Gebrauchsanweisung fürs
Daheimbleiben“.
Sie attackiert charmant Leistungsdruck, protestantisches Arbeitsethos und
Selbstoptimierungswahn, wenn sie feststellt: „Vielleicht konnte sich die
Redensart vom Müßiggang und den Lastern nur deshalb so lange halten: weil
unser kapitalistisches System zusammenbräche, wenn die Menschen plötzlich
liegen bleiben und sich fragen würden, wie sinnvoll es ist, weiter an der
Herstellung von Dingen mitzuwirken, die so überflüssig sind, dass ein
enormer Marketingaufwand nötig ist, um überhaupt ein paar Käufer dafür zu
finden.“ Man merkt, dass es der Autorin diebischen Spaß macht, eine kleine
Faulheit gegen das große System Produktion, Wettbewerb, Wachstum, Konsum in
Stellung zu bringen.
„Gebrauchsanweisung fürs Daheimbleiben“, das klingt nach einem Titel wie
erfunden für die jetzigen Zeiten von eingeschränktem Ausgang und
eingeschränkter Mobilität. Tatsächlich aber ist das Buch, Teil einer Reihe
von [2][Reiseführern des Piper Verlags] mit „Gebrauchsanweisungen“ für
verschiedene Städte, Länder, den Wald oder das Campen, aber vor dem Virus
entstanden.
Dennoch ist die Lektüre im Moment besonders nett, weil Harriet Köhler als
freiwillige Übung beschreibt, was wir jetzt notgedrungen tun müssen: nicht
verreisen, in der vertrauten Umgebung neue Optionen entdecken, aus der
Entschleunigung Freiheit gewinnen. Osterferien zu Hause, das ist jetzt das
gewiss ressourcenschonende Szenario.
## Vielfliegerei auf Liste der Sünden
In den ersten sechs Kapiteln ihres Buches wirft Harriet Köhler einen
kritischen Blick auf den Tourismus der Gegenwart, nicht ohne einzugestehen,
selbst auch länger einer Kombination von Fernreisen, Städtekurztrips und
Ferienwohnungen an südlichen Stränden gefolgt zu sein. Was die
Vielfliegerei der Umwelt antut, steht ganz vorne auf der Liste der Sünden,
denen sie mit dem Daheimbleiben während des Urlaubs entkommen will. Aber
auch, wie das unentdeckte Städtchen, der authentische Flecken zu Fiktionen
geworden sind und, was die Tourismusindustrie berührt, zur Kulisse wird.
Wie gehen Ferien ohne umweltbelastenden Aufwand, diese Frage treibt sie an.
Dann folgen 14 kleine Kapitel, die sich für 14 Tage je eine Sache
vornehmen: Zum Beispiel „Offline gehen“, „Ins Grüne fahren“, „Eine e…
Mahlzeit zubereiten“. Zu jedem dieser Stichworte hat die Autorin, die
übrigens in Berlin lebt, sowohl eigene Erfahrungen parat, die oft ihre
eigene Bekehrung beschreiben, als auch viele wissenschaftliche und
kulturhistorische Exkurse.
Zum „Nichts tun“ und „In den Himmel gucken“ gehören da zum Beispiel
neurologische Erkenntnisse, wie bestimmte, für Kreativität verantwortliche
Hirnregionen erst im Modus der Nichtaktivität anspringen, oder wie Lehren
aus dem Yoga, die die Körperposition des zurückgelegten Kopfes für den
Blick in die Sterne mit der Öffnung des Brustraums und der Vertiefung des
Atmens verbinden.
## Freude über Erkenntnisse
Auch wenn man viele dieser Argumente kennt, so wird die Lektüre dennoch
vergnüglich durch den Furor von Harriet Köhlers Vortrag. Ihre Erkenntnisse
machen sie glücklich, das überträgt sich. Möglicherweise muss sie nicht
zuletzt sich selbst überzeugen und freut sich deshalb so über jedes in ihre
Logik passende Steinchen, dass sie entweder bei Autor:innen und
Philosoph:innen vergangener Jahrhunderte entdeckt hat oder in neueren
soziologischen Forschungen.
Ganz ohne Widersprüche ist ihr Text dabei nicht. So knüpfen viele der
erfahrungssatten Alltagsbeobachtungen, mit denen sie einsteigt, bei ihrer
Familie an und ihrem Leben als Mutter zweier kleiner Kinder. Man fragt
sich, wo die Kinder bleiben an ihren Urlaubstagen, für die sie doch eher
ein Konzept für einen erwachsenen Single entwickelt: Zum Beispiel für einen
Tag nur in einem luxuriösen Hotel in der Nähe absteigen, auf dem Zimmer
frühstücken, Zeitungen lesen.
Teilweise überrascht auch, wie sie die aus Vernunftgründen gewählte Haltung
des Verzichts mit leicht hochstaplerischen Gedankenspielen aufpimpt. Tag
12, „Mit dem Herzen reisen“, beginnt einerseits mit der Nacherzählung einer
Geschichte von Joris-Karl Huysmans, aus der zu lernen ist, dass die
Vorfreude auf eine Reise eigentlich das Beste ist und man die Ausführung
genauso gut auch lassen kann. Um daraus eine Strategie für einen virtuellen
Einkaufsbummel abzuleiten, bei dem man alles, was man toll findet, im
Kaufhaus anprobiert, einsammelt, zur Kasse bringt – und dort zurückgibt,
nichts kauft. Keine so tolle Idee, denke ich, die Verkäuferin wird sich
bedanken. So hat das Buch eben bessere und schlechtere Kapitel.
Als ihren Arbeitsplatz erwähnt sie gelegentlich, nein, nicht das
Homeoffice, sondern die Berliner Staatsbibliothek. Tatsächlich bilden ihre
kulturhistorischen Ausführungen oft die schönsten Passagen der Lektüre,
wenn sie alte Geschichten nacherzählt wie die von [3][Xavier de Maistre]
der während eines 42-tägigen Hausarrests „Die Reise um mein Zimmer“
schrieb, einen Bestseller von 1794, vielfach nachgeahmt: Im Vertrauten zu
entdecken, mit welchen noch nicht wahrgenommenen Geschichten es
zusammenhängt. Es gab also schon mal einen Hype der Zimmer-Literatur. Da
würde man jetzt durchaus gerne noch mehr darüber erfahren.
7 Apr 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
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