# taz.de -- Rollenklischees in Frage stellen: Der Pascha in mir | |
> Dazu erzogen, sich bedienen zu lassen. Unser Autor denkt über | |
> Geschlechterbilder in der Türkei nach. Sich von ihnen zu emanzipieren ist | |
> schwer. | |
Bild: Der Autor als junger Pascha | |
Meine Mutter tippt mir auf die Schulter und sagt: „Anıl, du darfst jetzt | |
nicht einschlafen.“ Ich bin müde von den Blicken, die auf mich gerichtet | |
sind. 400 Menschen schauen in einem kleinen Dorf in der Westtürkei gespannt | |
dabei zu, wie Geldscheine auf meine Schärpe gesteckt werden. Die Band, die | |
sich vor dem Dorfhaus aufgestellt hat, spielt das bekannte Festlied | |
„[1][Halkalı Şeker“ von Kubat]. Ich trage einen komplett weißen Anzug mit | |
goldenen Pailletten und einem Hut, der mit weißen Federn beschmückt ist. | |
Eine kleine Locke ragt heraus. | |
Von außen betrachtet sollte ich stolz, erhaben und wie ein Paşa aus der | |
Menge ragen. Innerlich bin ich aber verängstigt. Was danach passiert ist, | |
habe ich vergessen. Kurze Zeit später schlafe ich in den Armen meiner | |
Mutter ein. Sie weckt mich nicht mehr. Es ist 1999, ich bin gerade 7 Jahre | |
alt geworden. Es ist mein Beschneidungsfest. | |
Traditionell werden in der Türkei Jungen im Kindesalter kurz vor oder nach | |
ihrer Einschulung, auf jeden Fall noch vor der Pubertät, beschnitten. Das | |
Ritual, türkisch auch Sünnet genannt, ist oft mit einer großen Feier für | |
Hunderte von Menschen verbunden. Das bedeutet Stress – und viel Geld. Es | |
nicht zu tun war für mich keine Option. Denn die gesellschaftliche (meist | |
sunnitische) Tradition in der Türkei erwartete es. Dem Glauben nach | |
markierte die Beschneidung für mich den Eintritt in die muslimische | |
Glaubensgemeinschaft. | |
An den eigentlichen Akt kann ich mich nicht erinnern. Denn ich wurde mit | |
vier oder fünf Jahren im Krankenhaus beschnitten, nicht wie meine Cousins | |
während der Feierlichkeiten in einem Nebenraum. Mein Beschneidungsfest fand | |
dann erst ein paar Jahre später statt. Am meisten Erinnerungen habe ich | |
noch daran, wie ich in der Geburtsstadt meiner Mutter das Kostüm kaufen | |
ging, es war aufregend | |
## Uneingeschränkt frei | |
Fast zwanzig Jahre später denke ich anders über die Feierlichkeiten. Es war | |
ein Fest, dass Männlichkeit feierte. Das Fest als ein Schritt ins | |
Erwachsenwerden, der gesellschaftlich erwartet wurde. Wenn ich heute mit | |
meinen Freunden darüber spreche, denken sie ähnlich. Viele meiner | |
türkischen Freunde waren auch mal Paschas. Der Ausdruck steht im türkischen | |
Kontext für den Titel des höchsten Zivilbeamten und Militärs während des | |
Osmanischen Reiches. Von meinen Verwandten wurde ich bis weit in meine | |
Pubertät auch Pascha, Anıl Paşa, genannt. Was machte das mit unserem | |
Männlichkeitsbild? | |
Ich habe mit Freunden und Bekannten darüber gesprochen. Erdal, ein Lehrer | |
aus Köln, meinte, dass es „uneingeschränkte Freiheit“ gegenüber seinen | |
Schwestern bedeutete. Mehmet, Student, hat ähnliche Erfahrungen gemacht: | |
„In meiner Jugend begann ich mich auch immer häufiger zu fragen, warum | |
meine Schwester das Geschirr machen muss und ich direkt nach dem Essen an | |
die Playstation darf.“ Das kannte ich. Wenn wir wieder einmal Besuch zu | |
Hause hatten und gegessen wurde, wurde im Anschluss immer Çay serviert. Ich | |
brachte den nie zum Tisch. Meine Schwestern wurden in die Küche gerufen, | |
während ich bei den Gästen bleiben durfte. Das Recht, zu genießen, war | |
scheinbar nur mir vorbehalten. Das Privileg, nichts zu tun und nicht dafür | |
bestraft zu werden. | |
Ist das heute noch so? Mittlerweile wohne ich in Berlin. Wenn ich mit Ende | |
zwanzig zu Hause meine Eltern besuche und meine Mama wieder gekocht hat, | |
bringt sie mir das Essen. Wenn ich nachfrage, ob ich helfen soll, sagt sie | |
immer, das kriegt sie schon hin. Ich habe mich an das Gefühl, immer bedient | |
zu werden, seit meiner Kindheit gewöhnt. Ich merke es, wenn ich bei | |
Verwandten in der Türkei bin oder bei befreundeten türkischen Familien. | |
Geht es darum, etwas vorzubereiten, zu kochen, zu kümmern – ich musste | |
nichts machen. Sich von diesem Privileg zu lösen ist schwer, weil das | |
gesellschaftliche System darauf ausgelegt ist, dass Männer davon | |
profitieren. | |
Um mich von diesem Rollenbild zu emanzipieren, musste ich in meinem | |
persönlichen Alltag erst mal von Freundinnen oft kritisiert werden, wenn | |
ich mal wieder beim gemeinsamen Kochen lieber nur kleinere Aufgaben, und | |
nur nach Aufforderung, erledigt hatte. Es war nicht deren Aufgabe, mich | |
darüber aufzuklären, aber leider habe ich nur so gelernt und mein Verhalten | |
ändern können. | |
Meine Erfahrung ist selbstverständlich nicht für alle türkisch gelesenen | |
Männer übertragbar, aber es zeigt eines deutlich ganz: ein | |
Rollenverständnis, das darauf beruht, dass Männer bevorzugt werden. Darüber | |
muss geredet werden, denn dieses Rollenbild manifestiert Ungleichheiten. | |
Vor allem cis Männer sollten sich darüber austauschen, aber das ist | |
manchmal gar nicht so einfach untereinander. | |
So, wie auf eigene Schwächen angesprochen zu werden und diese zu | |
reflektieren nicht immer einfach ist. | |
## Orientalistisches Vorurteil | |
In deutschen Medien, aber auch in persönlichen Gesprächen, habe ich oft vom | |
sogenannten Pascha-Syndrom gehört. So wird das Bild des türkischen Mannes, | |
der faul ist und sich bedienen lässt, fortgeschrieben. Der Begriff bedient | |
eine orientalistische Vorstellung von türkischen Männern: Hier ich, als | |
aufgeklärter weißer Mann, und du dort, als Pascha, der sich immer bedienen | |
lässt und Frauen unterdrückt. Türkisch gelesene Männlichkeit wird als fremd | |
markiert und (rassistisch) abgewertet. Ohne zu wissen, mit welchen | |
Problemen sie vielleicht aufwachsen, welche sozialen Aspekte in und | |
außerhalb der Familie eine Rolle spielen, die diese Form der | |
Männlichkeitserwartung und Rollenbildung begünstigen. | |
Dabei wird vergessen, dass der Begriff aus Unkenntnis und kultureller | |
Generalisierung heraus genutzt wird, um von eigenen Problemen im | |
Rollenverständnis und der Männlichkeit abzulenken. Denn auch in Deutschland | |
herrscht ein ähnlichen Rollenverständnis. Auch hier übernehmen größtenteils | |
Frauen Care-Arbeit, während Männer Lohnarbeit nachgehen. Und sich zu Hause | |
bedienen lassen. Doch als Pascha werden sie trotzdem nicht gelesen. | |
Dass cis Männer sich bis ins 21. Jahrhundert von Frauen bedienen lassen, | |
ist problematisch. Deswegen sollten wir gemeinsam kritisch Rollenbilder | |
reflektieren und die Privilegien, die sie in diesem System haben, ablegen. | |
Doch stattdessen werden Männlichkeiten gegeneinander ausgespielt, wobei | |
(weiße) Männlichkeit über andere gestellt wird. Weiße Männer haben kein | |
Recht, andere als Pascha zu bezeichnen – auch nicht als Scherz. Ich wurde | |
schon oft von Freunden und Bekannten so genannt. In ihnen versteckt sich | |
auch immer eine Haltung und eine Wahrheit, die nicht ausgesprochen wird. | |
Die Blicke auf meinem Beschneidungsfest machten mich müde, das mir | |
anerzogene Männlichkeitsbild möchte ich ablegen, aber die Scherze über mich | |
als Pascha tun auch weh. Auch wenn sie noch so klein und unbedeutend | |
erscheinen, bleibt ihr rassistischer Charakter bestehen. Wir als cis Männer | |
haben Vorteile in diesem System, und es sollte unsere Aufgabe sein, | |
Rollenbilder zu hinterfragen. | |
Manchmal wünsche ich mir, dass genau die cis Männer mir auch auf die | |
Schulter tippen und sagen: „Wir cis Männer haben Privilegien. Darüber | |
müssen wir reden.“ Denn ich will kein Pascha mehr sein, für kein Geld der | |
Welt, für niemanden. Sollen sie mir auch noch so viele Scheine an meine | |
Schärpe stecken. | |
7 Jun 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=3u90SRJo4mM | |
## AUTOREN | |
Fikri Anıl Altıntaş | |
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