# taz.de -- Biografie über Susan Sontag: Von Metaphern umgeben | |
> Historiker Benjamin Moser legt ein tiefes Psychogramm der New Yorker | |
> Intellektuellen vor. Sein Buch zeigt auch, wie gegenwärtig ihr Werk ist. | |
Bild: Susan Sontag, 1995 in ihrem New Yorker Appartement | |
In diesem seltsamen Jahr 2020, in dem Covid-19 in die Welt kam und in dem | |
die Pandemie immer wieder neu ausgedeutet wird – als Mahnmal zur Läuterung | |
der klimasündigenden Menschheit, [1][als Verschwörungskonstrukt], als | |
Wahlkampfhelfer Donald Trumps, als Wahlkampfhelfer Joe Bidens –, kommt | |
einem wohl vor allem ein Aufsatz von Susan Sontag in den Sinn: „Krankheit | |
als Metapher“ aus dem Jahr 1977. | |
Sontag schrieb darin über Krebs. Sie plädierte dafür, Krebs ausschließlich | |
als physiologische Krankheit zu verstehen und nichts in den Befund | |
hineinzuinterpretieren, etwa „daß Krebs eine Krankheit unzureichender | |
Leidenschaft sei, die diejenigen befalle, die sexuell unterdrückt, gehemmt, | |
unspontan sind und unfähig, Wut auszudrücken“. | |
Während der Hochphase von Aids beschrieb Sontag erneut, wie HIV-Infektionen | |
dämonisiert würden, wie sie als Bestrafung für „deviantes“ sexuelles | |
Verhalten oder Drogenkonsum interpretiert würden („Aids und seine | |
Metaphern“). Die Liste der Krankheiten, die von Ideologien in Beschlag | |
genommen wurden, kann man beliebig erweitern: Epilepsie, Schizophrenie, | |
Tuberkulose. Nun Corona. Auch die neue Seuche kann nicht einfach nur die | |
Seuche sein. | |
Die Beziehung zwischen dem „Ding an sich“ und seiner Symbolik, zwischen dem | |
Eigentlichen und dem Uneigentlichen war eines der Lebensthemen von Susan | |
Sontag, als solches zieht es sich auch durch die fast 1.000-seitige | |
Biografie von Benjamin Moser, die nun erstmals auf Deutsch vorliegt. Für | |
das englische Original erhielt der US-amerikanische Historiker den | |
Pulitzer-Preis. | |
## Tiefgreifendste Erfahrung | |
Es ist die bislang ausführlichste Biografie über Sontag, jener so | |
schillernden wie umstrittenen New Yorker Intellektuellen-Diva, die vor | |
allem mit ihren Essays und Kulturkritiken ([2][„Anmerkungen zu Camp“], | |
[3][„Über Fotografie“], [4][„Gegen Interpretation“]) Berühmtheit erla… | |
Moser setzt bei den Großeltern ein, kommt über die Weltreisen ihrer Eltern | |
zur Kindheit Susans, um dann ihre Position in den | |
Linksintellektuellen-Zirkeln New Yorks auszuleuchten. | |
Für dieses hippe New York der 1960er bis 1990er Jahre wurde Sontag selbst | |
zur Symbolfigur. Was sie in „Anmerkungen zu Camp“ geschrieben hat, so | |
Moser, lässt sich auch auf sie münzen. „Camp sieht alles in | |
Anführungsstrichen: Nicht eine Lampe, sondern eine ‚Lampe‘; nicht eine | |
Frau, sondern eine ‚Frau‘“. Anders gesagt: Alles wird ständig zur Metaph… | |
In dem Sinne will Moser beides ergründen: Susan Sontag und „Susan Sontag“. | |
Die Person und das Icon. | |
Moser legt hier ein irre detailversessenes Psychogramm vor. Die Kindheit | |
ist für Susan von der Abwesenheit der Eltern geprägt; ihr Vater Jack | |
Rosenblatt stirbt, als sie fünf ist, ihre Mutter Mildred Rosenblatt ist | |
Alkoholikerin und oft nicht da. Die „tiefgreifendste Erfahrung“ dieser Zeit | |
sei „Gleichgültigkeit“ gewesen, schreibt sie später. Um jeden Funken | |
Beachtung musste sie kämpfen. | |
Einige der Hauptthesen der Biografie basieren auf den Folgen dieser frühen | |
Prägung: Das Gefühl der Unsicherheit und der Unzulänglichkeit habe Sontag | |
nie losgelassen, so Moser, auch nicht, als sie längst eine Autorin von Rang | |
war. „Sie entsprach (…) fast bis zur Karikatur der psychologischen | |
Beschreibung erwachsener Kinder von Alkoholikern, in all ihren Schwächen – | |
wie in all ihren Stärken“, schreibt er. | |
Ihr unempathisches, zum Teil tyrannisches Verhalten (etwa gegenüber ihrer | |
Freundin, der [5][Starfotografin Annie Leibovitz]) erklärt Moser sich so. | |
Auch, dass sie sich als Schriftstellerin nie respektiert gefühlt habe: | |
Sontag war zeitlebens extrem gekränkt, dass sie vor allem als Essayistin | |
gesehen wurde. Im Verhältnis zu ihrem Sohn David Rieff, das zunächst fast | |
symbiotisch, dann distanziert ist, wiederholt sich die eigene Geschichte in | |
der nächsten Generation. | |
Die Susan Sontag ohne Anführungsstriche lernt man sehr gut kennen. Jede | |
Beziehung, die sie mit Männern und Frauen hatte, wird minutiös geschildert, | |
zum Teil in Seitensträngen fast zu ausführlich nachverfolgt. Menschlich | |
kommt Sontag dabei oft so rüber, wie Salman Rushdie sie einmal beschrieben | |
hat: „Eigentlich war sie zwei Susans, die gute und die böse. Die gute | |
Susan war brillant, witzig, loyal und einfach großartig, die böse Susan | |
hingegen konnte ein gnadenloses Biest sein.“ | |
Aber Moser ist auch sehr genau, wenn er über Sontag als öffentliche | |
politische Person schreibt. Einerseits war sie bewundernswert in ihrem | |
Engagement für verfolgte Intellektuelle, etwa als sie besagtem Salman | |
Rushdie 1989 bei Verhängung der Fatwa als PEN-Präsidentin augenblicklich | |
zur Seite sprang. Später inszenierte sie unter Lebensgefahr in Sarajevo im | |
Belagerungszustand „Warten auf Godot“, sie verhalf auch dort Leuten zur | |
Flucht. | |
## Politische Positionen | |
Andererseits blieb sie in ihren Äußerungen teils ein Rätsel. | |
Nachvollziehbar verteidigte sie 1999 den Kosovo-Einsatz der Nato: | |
[6][„Nicht jede Gewalt ist gleichermaßen verwerflich. Nicht jeder Krieg | |
gleichermaßen ungerecht“, schrieb sie da], sie verurteilte da den | |
Antiamerikanismus der Linken: „Die Rechte ist gegen Einwanderer“, schrieb | |
Sontag, „die Linke gegen Amerika.“ Gerade jener antiamerikanische Reflex | |
aber griff bei ihr ausgerechnet nach 9/11, als sie zwei Tage nach den | |
Angriffen im [7][New Yorker einen völlig empathielosen Kommentar schrieb]. | |
Ähnlich erratisch ihre späte Position zu Israel. Lange war die Jüdin Sontag | |
sehr klar solidarisch mit Israel, um sich 2004 von ihrer Freundin Nadine | |
Gordimer dazu hinreißen zu lassen, Israel als „Apartheid-Staat“ zu | |
beschreiben. | |
Kleine Makel gibt es aber auch in „Sontag“. Gerade weil die Biografie | |
angenehm kritisch geraten ist, irritiert es, wenn zwischendurch | |
unvermittelt immer mal wieder auf ihre herausragende Stellung hingewiesen | |
werden muss. Oder wenn beim Lesen der Eindruck entsteht, Sontag umgebe eine | |
Aura. | |
Auch einige nicht nachvollziehbare Wiederholungen finden sich in dieser | |
deutschen Ausgabe. Das fällt deshalb kaum ins Gewicht, weil die Biografie | |
so gut und tief recherchiert ist. | |
Dass Sontag auch als Schriftstellerin teils brillant sein konnte, zeigt der | |
ebenfalls gerade erschienene Erzählungsband „Wie wir jetzt leben“, der | |
zwischen 1984 und 1992 entstandene Prosastücke enthält. Allein die Short | |
Story über den Besuch der jungen Sontag bei Thomas Mann im kalifornischen | |
Exil („Wallfahrt“) lohnt den Kauf – wie die intellektuellen Jungmenschen … | |
der stocksteifen literarischen Majestät Thomas Mann live begegnen, das ist | |
witzig geschrieben, das zeigt auch den Humor Sontags (der in Mosers | |
Biografie eher latent durchschimmert). | |
Stilistisch groß ist die Titelerzählung „Wie wir jetzt leben“ (1986), die | |
von einem Freundeskreis handelt, in dem sich offenbar jemand mit einem | |
Virus infiziert hat. Man ahnt, welches Virus es ist. Genannt wird es nicht. | |
In der Auslassung, so lernt man, wird manchmal sehr viel mehr erzählt als | |
in den Metaphern und Bildern, mit denen wir uns tagtäglich umgeben. | |
13 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Klima-Leugner-entdecken-Corona/!5681653 | |
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Notes_on_%22Camp%22 | |
[3] https://en.wikipedia.org/wiki/On_Photography | |
[4] https://en.wikipedia.org/wiki/Against_Interpretation | |
[5] /Fotografin-Annie-Leibovitz/!5158323 | |
[6] https://www.nytimes.com/1999/05/02/magazine/why-are-we-in-kosovo.html | |
[7] https://www.newyorker.com/magazine/2001/09/24/tuesday-and-after-talk-of-the… | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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