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# taz.de -- Perfektion und Feminismus: Plädoyer für plumpes Denken
> Ohne Team und Coach gelang der Niederösterreicherin Kiesenhofer der
> Olympiasieg beim Radrennen. Bald unterrichtet sie wieder
> Differentialgleichungen.
Bild: Anna Kiesenhofer aus Österreich feiert den Gewinn von Gold
Es sind ja gerade [1][Olympische Sommerspiele], und ich muss gestehen, dass
mich das nicht sonderlich elektrisiert, was aber an Sportarten wie
Tauziehen, Pistolenschießen, Dressurreiten oder Golf liegt. So erfuhr ich
von der Existenz [2][Anna Kiesenhofers] mit ihrem fulminanten Ritt zum
Olympiagold im Fahrradstraßenrennen erst, nachdem es schon – nun ja, die
Metapher hinkt etwas – „gelaufen“ war.
Kiesenhofer ist 30 Jahre alt, stammt aus Niederösterreich und ist schon
eine extrem bemerkenswerte Person. Wahrscheinlich ist sie auch ein wenig
ein Nerd. Es sind ja gerade Olympische Sommerspiele, und ich muss gestehen,
dass mich das nicht sonderlich elektrisiert, was aber an Sportarten wie
Tauziehen, Pistolenschießen, Dressurreiten oder Golf liegt.
Kiesenhofer fährt in keinem Team, hat keinen Coach, ist im allerengsten
Sinne eine „Amateursportlerin“. Sie fährt noch nicht einmal bei
internationalen Rennen mit, weil sie sich das ohne Sponsoren wohl auch gar
nicht so leicht leisten könnte. Daher hatten sie ihre Konkurrentinnen auch
nicht auf dem Zettel. Sie kannten sie schlichtweg nicht.
## Alleingang einer Gewinnerin
Kiesenhofer fuhr bei dem Rennen zunächst im Führungspulk, setzte sich dann
aber sehr schnell ab, eilte allein davon und fuhr den Sieg heim. Das hatte
sie wahrscheinlich alles penibel berechnet, denn in ihrem anderen Leben ist
sie Spitzenmathematikerin, beschäftigt sich mit undurchschaubaren
[3][Differentialgleichungen], bei denen wir Durchschnittsleute wohl nicht
einmal die Fragestellung verstehen würden. Sie hat an der Technischen
Universität in Wien studiert, in Cambridge und Barcelona Master und PhD
gesammelt.
Gegenwärtig forscht und lehrt sie in [4][Lausanne]. Sie gibt auf Englisch
fantastisch gute und sympathische Interviews. Die Frage, wie sie ihren
Triumph jetzt feiern werde, beantwortet sie lachend mit dem Hinweis, dass
sie sich jetzt in Niederösterreich in ihrem ehemaligen Kinderzimmer
intensiv auf die Vorlesungen des Herbstes vorbereiten müsse, da sie im
Vorfeld zu Olympia keine Zeit dafür hatte. Eine Frau, die alles schaffte –
und das komplett auf sich allein gestellt.
Es ist natürlich kein Wunder, dass dieser Sieg sogleich als Metapher für
den Triumph von Frauen benützt wird, die es immer noch sehr viel schwerer
haben als Männer. Wie Olympia junge Frauen inspirieren kann: „Setzt euch
vom Hauptfeld ab“, „reißt aus“, verlasst euch auf niemanden, kommentierte
anderntags der konservative Wiener Kurier.
Meine erste, spontane Reaktion war: „Herrlicher Titel“. Aber dann kam ich
ins Grübeln. Dass wir uns alle – nicht nur Frauen – vom Hauptfeld absetzen
sollen, wir uns niemals auf andere verlassen sollen, als Einzelne zu
Höchstleistungen streben, auf keine Einbettungen in Kollektiv und
Solidarität bauen sollen – das wird uns doch allen seit dreißig Jahren
eingebläut.
Es ist dagegen auch nicht grundsätzlich etwas einzuwenden, wenn Menschen
etwas Besonderes sein wollen, denn gerade dieser innere Antrieb führt zu
Höchstleistungen, nicht nur beim Sport, auch in der Kunst, Literatur, und
im Geistesleben. Aber damit geht auch Druck einher, den man sich selbst
macht, ein Getriebensein, dieser Stress, der sich in unsere Gesellschaften
hineinfrisst, und diese existenzielle Alleinheit.
## Komplex macht schlau
Braucht es wirklich auch noch zusätzliches Getrommle in Richtung
„Höchstleistungsgesellschaft“, mag das auch für eine noch so gute Sache w…
die Frauengleichstellung sein? Da geht es um Perfektion, darum, niemals mit
sich zufrieden zu sein. Auch das ist eine gute Sache, denn
Selbstzufriedenheit führt zu Stagnation. Die amerikanische Autorin und
[5][Intellektuelle Susan Sontag] war – das kann man in ihren Tagebüchern
nachlesen – auch nie mit sich zufrieden, da war sie schon eine der
gefeiertesten Geistesgrößen ihrer Epoche:
„Mein Verstand ist nicht scharf genug, nicht wirklich herausragend. Und
mein Charakter, meine Wahrnehmungsweise sind letztlich zu konventionell.“
Sie hielt sich für ziemlich unfähig. „Ich bin so brav, dass es wehtut.“ W…
Perfektion sein könnte, auch darüber kann man lange grübeln. Sontag sagte
einmal in einem Interview über ein Buch, sie sei sich nicht sicher, ob es
irgendeinen Nutzen entfalte, „außer dass es die Dinge komplizierter macht,
was in meinen Augen immer gut ist“.
Das ist eine interessante Auffassung, der ich sehr viel abgewinnen kann:
Die Dinge sind komplex, und man wird schlauer, wenn man sie in ihrer
Komplexität durchdenkt, von allen Seiten ansieht, aber damit wird die Welt
natürlich komplizierter. Man muss sie dann auch wieder vereinfachen.
Deswegen war George Orwell so ein Anhänger des „Plain Style“, des einfachen
Stils, und Walter Benjamin war stets fasziniert vom „plumpen Denken“.
„[6][Die Hauptsache ist, plump denken lernen. Plumpes Denken, das ist das
Denken der Großen]“, hatte Bertolt Brecht ihn ermahnt, und Benjamin fand
das sehr erstrebenswert. Nun war plumpes Denken bekanntlich keine
Disziplin, in der Walter Benjamin besonders gut war. Aber nobody is
perfect.
31 Jul 2021
## LINKS
[1] /Olympia-als-Reizueberflutung/!5787539
[2] https://www.youtube.com/watch?v=p3HX2aZ_OdY
[3] https://www.youtube.com/watch?v=2qQYxam2QGg
[4] https://people.epfl.ch/anna.kiesenhofer?lang=en
[5] /Biografie-ueber-Susan-Sontag/!5719479
[6] https://www.textlog.de/benjamin-kritik-brecht-plumpes-denken.html
## AUTOREN
Robert Misik
## TAGS
Goldmedaille
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
Kolumne Der rote Faden
Feminismus
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