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# taz.de -- Neues Buch über das Muttersein: Perfektionismus deutscher Mütter
> Die Journalistin Mareice Kaiser hat ein Buch über modernes Muttersein
> geschrieben. Unsere Autorin irritieren die viel zu hohen Ansprüche
> deutscher Mütter an sich selbst.
Bild: Großes Glück mit Schattenseiten: Mutter sein
Als ich Mareice Kaisers Buch „Das Unwohlsein der modernen Mutter“ gelesen
habe, bin ich wütend und traurig geworden. Fast so wütend, fast so traurig
wie das Buch. Kaiser ist Journalistin und Chefredakteurin [1][des
feministischen Onlinemagazins edition f.]
Im Jahr 2018 hat sie für zett.de einen Artikel über den gesellschaftlichen
Druck geschrieben, der auf Frauen lastet, die Mutterschaft und Karriere
unter einen Hut kriegen wollen, und wurde dafür mit dem Deutschen
Reporterpreis ausgezeichnet. Ihr neues Buch basiert auf diesem Artikel.
Ich bin fast eine deutsche Mutter jetzt – wohne seit 20 Jahren in
Deutschland, und für 16 dieser 20 Jahre war ich eine Mutter. Vielleicht
keine deutsche Mutter, aber immerhin eine Mutter in Deutschland. Und für
die meiste Zeit Alleinerziehende. Ich wohne hier, erziehe hier, fühle mich
unwohl hier. Ich hasse meine Kinder manchmal. Auch ich versuche, dass
niemand es mir ansieht, dass ich die Art Mama bin, die manchmal ihre Kinder
schlagen will.
Ich schäme mich dafür: für die Gewalt in mir, für das Unglück, die
Unzufriedenheit, das mit Elternsein in diesem Land, in dieser Gesellschaft
verbunden ist. Ich fühle mich manchmal leer. Wie eine Versagerin.
In Mareice Kaisers Buch habe ich mich erkannt: in der Leere, im Kaputten.
Deutschland ist anders als meine Heimat England, aber auch ähnlich: In
beiden Ländern [2][leben wir Mütter in einer Gesellschaft], die zu viel
verlangt und uns zu oft alleine lässt. Es wird zu viel verlangt und dann,
wenn die Mütter kaputt gehen, wird ihnen die Schuld daran gegeben. Daher
kommt diese Leere und diese Einsamkeit.
## Nie gut genug sein
Man weiß, als Mama kannst du nie gut genug sein. Denn du sollst nie gut
genug sein. Es herrscht Victimblaming und Momshaming und man kann es nie
jemandem recht machen. Man soll es niemanden recht machen. Denn die Idee
der modernen Mutterschaft in Deutschland wie in England ist, dass man
versagen muss – nur die Methodik ist in ihren Details anders.
Kaisers Buch beschreibt sehr genau diese Scham darüber, dass man nur
„rechtzeitig“ die Kinder abholt aus dem Kindergarten oder dem Hort. Ich
kenne diese Scham. Manchmal habe ich beim Rennen von der Straßenbahn zum
Hort gedacht, ich hätte mich nicht mehr geschämt, wenn nun christliche
Fundamentalist*innen mir an der Straße „Du Schlampe, du hättest doch
abtreiben sollen!“ zugerufen hätten. Aber es gibt manches in Mareice
Kaisers Buch, was ich nicht verstanden habe – und das hat mich irritiert.
Ich wohne doch so lange hier und müsste es eigentlich verstehen. Will ich
es einfach nicht verstehen?
An einer Stelle im Buch zum Beispiel steht, dass deutsche Mamas jetzt unter
Druck stehen, wenn [3][ihre Kinder Schnuller benutzen]. Anscheinend sollen
sie keine Schnuller benutzen. Das macht mich fassungslos. Keines meiner
beiden Kinder nutzte Schnuller, aber mit beiden habe ich es lange versucht,
Stunden und Stunden verschwendet, ihnen das Lutschen an einem Schnuller
beizubringen. Beim Großen hat es nie geklappt, der Kleine war nur einen
Nachmittag lang Schnullerkind – und ich stolz.
Es ist deprimierend, zu erkennen, dass etwas, bei dem ich versagt habe, von
deutschen Müttern deklassiert wird. Wie kann es sein, dass ich nie bemerkt
habe, dass wir nicht mehr Schnuller nutzen sollen? Ich kam mir vor wie
diese Ostdeutschen, die plötzlich fragen, wer Cate Blanchett ist: Ich
erinnere mich noch vage daran, dass es schlecht für die Zähne sein soll.
Aber verboten? Seit wann? Was ist los mit mir? Was ist los mit Deutschland?
Es ist einfach: der Perfektionismus. Deutsche Mamas wollen perfekt sein,
und du nicht. Du bist eine ausländische Schlampe, und es ist dir egal, wenn
deine Kinder Schokolade essen. Ich finde, diese Erklärung haut nicht hin.
Ich habe perfekte Kinder, und ich will für sie die perfekteste Mama sein.
Aber irgendwie ist der Perfektionismus der deutschen Mama anders als
meiner: er ist langweiliger, freudloser – deutscher eben.
## Gurkenscheiben und Lustige Taschenbücher
Es hat mich damals genervt, als mein Teenager klein war und eine deutsche
Freundin mir sagte, dass „Lustiges Taschenbuch“ lesen kein „echtes“ Les…
sei. Kaisers Buch hat mich oft daran erinnert. Tagelang dachte ich an die
Stelle, wo sie erzählt, dass sie Gurken auf den Teller machte, obwohl sie
wusste, dass das Kind sie wahrscheinlich nicht essen würde.
Das nervte mich nicht (das mache ich auch) – aber mich nervte ihre
Anerkennung der Tatsache, dass sie diese Gurke nur für das Ansehen
brauchte, nicht für das Kind. Es ging nur um den Akt, eine gesunde Gurke
auf dem Teller zu platzieren, weil es so sein muss. Ich war sehr wütend
darüber – und danach, beim Teller beschmücken, immer noch.
Wer, denkst du, dass du bist, wollte ich das Buch anschreien. Ich dachte an
meine Mama, die immer ein bisschen „Grün“ auf den Teller legte, „nur zur
Deko“, und wenn wir gesagt haben, „Mama, wir essen kein Gemüse“, sagte s…
immer, „ist doch nur Deko“, und hat wie eine Hexe gelacht. Meine Mama
fand’s okay, wenn wir das grüne Zeug nicht aßen, während die deutschen
Mütter sich Vorwürfe machen, nur aus Statusgründen den Teller zu schmücken?
Warum sind deutsche Mütter so hart mit sich?
Die deutschen Eltern von heute, das beschreibt Kaiser sehr genau, finden
die deutsche Kindererziehung, die sie selbst bekamen, besonders
gewalttätig, besonders grausam, sehr deutsch, weil es auch mit der Nazizeit
zu tun habe. Aber ich finde diese Gewalt nicht deutsch. Auch ich bin, wie
alle Kinder damals aus meiner Schule in Großbritannien, zu Hause geschlagen
worden. Was mir eher deutsch vorkommt, ist die Art und Weise, wie man
versucht, die Gewalt in den eigenen Eltern und in sich selbst zu leugnen
und zu verdrängen.
Vielleicht führt das zu dieser Leere, die mir leerer vorkommt als die Leere
in mir? Kann eine ausländische Mama in Deutschland sich jemals so sehr
hassen wie eine deutsche Mama? Vielleicht muss dieser Perfektionismus sich
härter anfühlen, wenn man Teil der Gesellschaft war, bevor man Mutter
geworden ist – und Ambitionen hatte. Die Wahrheit ist, bevor ich Mutter
wurde, war ich nicht Teil der Gesellschaft, und nach zwanzig Jahren hier
bin ich immer noch draußen. Ich soll eigentlich gar keine deutsche Mama
sein. Und jeder weiß das, die AfD weiß das, aber auch die Grünen.
## Mamas sollten weniger ambitioniert sein
Erst, als ich meinen Großen gebar, hatte ich endlich Recht auf Sozialhilfe.
Durch seine Geburt bin ich quasi ein Mensch in Deutschland geworden –
anders als die deutschen Mütter, die so unglücklich sind, weil ihre Kinder
sie Geld und Karriere gekostet haben, hat meins, (erzählt das bitte nicht
Beatrix von Storch) mir Sicherheit und ein Existenzminimum gegeben.
Ich will damit nicht sagen, die deutschen Mamas seien selbst schuld an
ihrem Unwohlsein. Das wäre zu einfach und zu verlockend. „Habt euch nicht
so, ihr Helikopter-Mamas!“, sagen in Deutschland ja oft dieselben Leute,
die, wenn ein Kind später als 21 Uhr ins Bett geht oder seine Mütze
verliert, sofort das Jugendamt anrufen.
Ich finde nicht, dass deutsche Mamas sich ändern müssen, auch wenn ich
keine bin. Ich finde nicht, dass deutsche Mamas weniger ambitioniert sein
sollten. Die deutsche Gesellschaft sollte ambitionierter sein, die Mamas
mit ihrem Unwohlsein nicht alleinzulassen.
21 Apr 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Jacinta Nandi
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