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# taz.de -- Altenheime nach Corona: Bessere Pflege für 17 Euro
> Die Solidarität für die Pfleger in der Pandemie ist eine Chance. Mit
> etwas Verzicht könnten wir die Care-Branche grundlegend verbessern.
Bild: Wär doch mal was: Altenpflege mit Zeit, Würde und Cocktails
Es ist überraschend: Da wird über Lohnhöhen, Sozialbeiträge,
Verbraucherpreise immer wieder erbittert politisch gestritten. Und dann
reicht ein unsichtbares Virus, und schon sind Millionen von Menschen
bereit, eine Weile auf Klamottenkäufe, Urlaubsreisen und Restaurantbesuche
zu verzichten. Alles ist anders, wenn das eigene Leben oder das der
Liebsten bedroht sein könnte. Das kann auch eine gute Nachricht für die
Sozialpolitik sein.
Denn die Coronakrise hat gezeigt: Nichts geht mehr, wenn es nicht genug
Pflegepersonal gibt. Das betrifft auch die Altenpflege. Es existiert in
Deutschland kein Rechtsanspruch auf einen sofortigen Pflegeplatz im Heim
und auch nicht auf schnelle Hilfeleistung durch nahe ambulante Dienste.
Heime führen Wartelisten, ambulante Dienste auf dem Land lehnen wegen
Personalnot Aufträge ab. [1][Pflegende Angehörige] sind an ihrer
Belastungsgrenze angelangt, wie sich erst recht mit den
Corona-Beschränkungen zeigte.
Pflegende benötigen mehr als Applaus auf dem Balkon. Um den Beruf attraktiv
zu machen, brauche es „nachhaltige Entlastung bei den Arbeitsbedingungen“,
erklärte [2][Christel Bienstein], Präsidentin des Deutschen Berufsverbandes
für Pflegeberufe (DBfK).
Aufwertung ja, aber wie?
Ansonsten könnte sich der Mangel an professionellen Pflegekräften
dramatisch verstärken und die Altenbetreuung wieder vor allem an
überlasteten Angehörigen hängen oder alleinstehende Gebrechliche sogar
unterversorgt bleiben. Es ist eine Illusion zu glauben, dass genügend
ausländische Arbeitskräfte das „Ausscheidungsmanagement“, wie der Umgang
mit Fäkalien im Wissenschaftsdeutsch heißt, für die alternden
Wohlstandsnationen schon irgendwie übernehmen werden. Der Spracherwerb ist
eine Hürde, die Zugänge aus dem Ausland in die hiesige Altenpflege sind
begrenzt.
„Es wäre schön, wenn die Kranken- und Altenpflege gesellschaftlich
aufgewertet wird, so wie es jetzt auch durch die Coronakrise der Fall ist.
Das würde auch die Attraktivität des Berufes steigern“, sagt Anja Sakwe
Nakonji, Geschäftsführerin des Consultingunternehmens Terranus, das
Pflegeeinrichtungen berät. Doch wie kann die Aufwertung erfolgen?
Die Lösung liegt vor unserer Nase. Es reicht, sagen wir, der Verzicht auf
zum Beispiel 17 Euro im Monat. Das ist eine Bluse weniger, irgendeins
dieser Stücke mit viel Polyester, die man zwar kauft, aber kaum trägt. 17
Euro, das kann dann im nächsten Monat der Verzicht auf ein Schnitzel samt
Bier im Restaurant sein. Wer den Urlaub billiger gestaltet und dadurch gut
200 Euro spart im Jahr, hat als DurchschnittsverdienerIn die Abgabe quasi
schon in einem Rutsch finanziert.
17 Euro, das ist ein halbes Prozent von einem Bruttolohn von 3.379 Euro.
3.379 Euro brutto: das ist laut Statistik der [3][Rentenversicherung] das
durchschnittliche monatliche Bruttoarbeitsentgelt. Wenn man von den
Bruttoentgelten in Deutschland ein Prozent mehr abgeben würde in die
Pflegeversicherung, wovon der Arbeitgeber die Hälfte übernehmen müsste,
dann käme man auf einen erfreulichen Betrag an Mehreinnahmen. 0,1 Prozent
vom Bruttoentgelt mehr machen 1,6 Milliarden Euro, [4][hat das
Bundesgesundheitsministerium vorgerechnet]. Ein ganzer Prozentpunkt mehr
wären also 16 Milliarden Euro mehr im Jahr für die Pflege. Das ist viel.
Würde man die Summe teilen, könnte man von der einen Hälfte 167.000
PflegehelferInnen mit einjähriger Ausbildung und mehrjähriger
Berufserfahrung bezahlen. Mit der anderen Hälfte könnte man 150.000
examinierte Altenpflegefachkräfte finanzieren. Bei dieser zugegeben etwas
schematischen Rechnung handelt es sich nicht um Billiglöhne, es wurde das
Arbeitgeberbrutto [5][aus dem aktuellen Tarif der Caritas in Bayern und
Baden-Württemberg] zu Grunde gelegt. Eine Pflegehelferin mit mehrjähriger
Berufserfahrung verdient danach 2.800 Euro brutto im Monat, eine
examinierte Pflegerin erhält 3.000 Euro.
317.000 Pflegekräfte mehr, in Vollzeit gerechnet, würden die Branche wie
von Zauberhand verwandeln. Die Altenpflege beschäftigt derzeit im
stationären und ambulanten Bereich etwas über eine Million Menschen, davon
nur ein gutes Viertel in Vollzeit. Mit einem so deutlichen Aufwuchs an
Personal gäbe es mehr Pflegeplätze, bessere Personalschlüssel, mehr Zeit
für jede PatientIn – der Beruf wäre schlagartig attraktiver, vorzeitige
Berufsausstiege gebannt, man könnte hoffen, dass mehr junge Leute den Beruf
ergreifen.
Insgesamt 141 Minuten pro BewohnerIn und Tag müssten eigentlich im Schnitt
an Pflegezeit zur Verfügung stehen, hat [6][ein Bericht der Universität
Bremen] zur Personalbemessung in der stationären Langzeitpflege kürzlich
ergeben. Tatsächlich aber stehen nur 99 Minuten an Pflegezeit zur
Verfügung, wovon 27 Minuten für Organisatons- und Vorbereitungszeit
draufgehen. „Die Einrichtungen arbeiten wahnsinnig gehetzt“, stellte
Studienleiter Heinz Rothgang fest.
Weg vom „Ausscheidungsmanagement“
Mit mehr Zeit könnten die PflegerInnen die BewohnerInnen schon beim Waschen
„basal stimulieren“, also umsichtig berühren und massieren. Sie könnten
rascher die Vorlagen wechseln oder sie zum Toilettengang führen, wenn die
SeniorInnen klingeln. Sie könnten ihnen beim Essen und Trinken mehr helfen,
sie könnten länger mit ihnen reden. Sie könnten sie ins Grüne schieben,
wenn das Wetter schön ist. Die Pflegetätigkeit wäre angenehmer und nicht so
auf das „Ausscheidungsmanagement“ fixiert.
Ein Prozent mehr an Beitrag für die Pflegeversicherung würde eine
Beitragserhöhung von heute 3,05 Prozent (Kinderlose: 3,30 Prozent) auf dann
4,05, beziehungsweise 4,30 Prozent vom Bruttoentgelt bedeuten, die Hälfte
davon finanzieren die Arbeitgeber. Auch Leute in der privaten
Pflegepflichtversicherung müssten mehr zahlen. Nur mal zum Vergleich: Im
Jahre 1995, zu Zeiten der Massenarbeitslosigkeit, stieg der Beitrag zur
Arbeitslosenversicherung für einige Jahre auf 6,5 Prozent.
Ein halbes Prozent weniger Nettolohn im Monat, vielleicht wäre das doch ein
geringes Opfer angesichts des Risikos, das wir haben: Fast jeder vierte der
80- bis 85-Jährigen, fast die Hälfte der 85- bis 90-Jährigen wird zum
Pflegefall, sagt die [7][Pflegestatistik]. Viele von uns erleben die größte
Herausforderung nicht am Anfang oder in der Mitte, sondern erst am Ende
ihres Lebens.
29 Apr 2020
## LINKS
[1] https://www.openpetition.de/petition/online/ein-rettungsring-fuer-pflegende…
[2] https://www.dbfk.de/de/presse/meldungen/2020/Der-kurzfristige-warme-Haended…
[3] https://www.bmas.de/DE/Presse/Meldungen/2019/referentenentwurf-zur-sozialve…
[4] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/pflege/online-ratgeber-p…
[5] https://caritas-dienstgeber.de/publikationen/faktenblaetter-neu/verguetung-…
[6] https://www.gs-qsa-pflege.de/wp-content/uploads/2020/02/2.-Zwischenbericht-…
[7] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Pflege/Pub…
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
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