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# taz.de -- Dilek Güngors Buch „Vater und ich“: Das Schweigen
> Literatur über die Beziehung zwischen Vätern und Töchtern gibt es zu
> wenig. Dilek Güngor hat einen Roman über dieses Verhältnis geschrieben.
Bild: Dilek Güngör: ihr Roman „Vater und ich“ ist für den Deutschen Buch…
Manchmal stellt sich Ipek vor, ihr Vater sei ein Fremder. Ein richtig
Fremder, einer für den sie nichts empfindet. „Dann sehe ich dich vor meinem
inneren Auge beim Zwiebelschälen oder Rasieren, betrachte dich und denke,
wir haben nichts miteinander zu tun. Du ahnst nicht, dass ich dich
verlassen habe, merkst nicht, dass du allein bist, ohne meinen Schutz. Das
ertrage ich nicht lange, es tut mir weh, dich so von mir abzuschneiden.
Stumm nehme ich dich wieder an.“
Um dieses Verhältnis, zwischen zu nah und zu fern, zwischen Schmerz,
Zuneigung und Scham, kreist die Geschichte in „Vater und ich“. [1][Ipek,
als Journalistin] in Berlin lebend, reist darin für einige Tage zu ihrem
Vater. Um zu reden, denn reden, das tun sie seit vielen Jahren eigentlich
kaum miteinander.
Dilek Güngör hat einen Roman über eine [2][Vater-Tochter-Beziehung]
geschrieben (Verbrecher Verlag, 104 Seiten, 19 Euro). Davon gibt es in der
modernen Literatur viel zu wenige, denn die der Beziehung zugrundeliegenden
Gefühle lassen sich nur tastend erkunden, nicht auf Eifersucht oder
Machtfragen herunterbrechen.
Viele traditionelle Vaterbilder funktionieren heute zum Glück nicht mehr.
Was also, wenn der Patriarch am Herrschen gar kein Interesse mehr hat?
Dilek Güngör zeichnet einen Vater, der zwar bereitwillig moderne Luft
atmet, mit den Füßen aber noch durch konservative Gewässer watet. „Dass dir
die Sache mit Steffen nicht gefiel, merkte ich auch so“, schreibt sie. „So
unangenehm dein stummer Protest war, wenn du mich an den Wochenenden zu ihm
fuhrst, war ich froh über unser Schweigen im Auto.“
## Die Beziehung zum Vater
Güngör hat über die eigene Beziehung zum Vater viel nachgedacht. In der
Berliner Zeitung schrieb die Journalistin eine Kolumne über ihre aus der
Türkei eingewanderte Familie. Verändert hat sich dadurch nichts. „Das
Schreiben über meinen Vater verläuft parallel zu unserer Beziehung“, sagt
Güngör. „Wir reden darüber gar nicht.“ Erst kürzlich habe sie jedoch ein
verhältnismäßig langes Telefongespräch mit ihm geführt. Vielleicht habe er
das Buch ja gelesen?
Zwischen den Familienkolumnen, die 2004 als Buch erschienen, und dem nun
dritten Roman Güngörs sind 17 Jahre vergangen. Der Roman habe lange in ihr
gegärt, sagt sie. Und er hatte zunächst eine ganz andere Rahmenhandlung:
Güngör ließ im ersten Manuskript Vater und Tochter einen Roadtrip
unternehmen.
„Doch dann habe ich das alles wieder gestrichen und gemerkt: die brauchen
diesen Rahmen gar nicht.“ Das Elternhaus und drei Tage ohne die verreiste
Mutter sollen reichen, um sich anzunähern. Oder eben nicht anzunähern. „Die
leeren Zimmer sind fast unheimlich ohne Mama“, heißt es im Roman. „Was
immer wir tun, wir zwei werden kein Leben in diese Räume bringen.“
Die Sprache in „Vater und ich“ ist schnörkellos, einfach, fast näher am
Essay als an der Prosa. Kunstvollere Sätze hätten einer Geschichte, die von
einer aufs Notwendigste konzentrierten Sprache erzählt, auch nicht
gutgetan. Güngör hat über den Verlust der Sprache zwischen Vater und
Tochter schon vor einem halben Jahr einen langen Text in der Zeit
veröffentlicht. Das Interessante: Über weite Strecken ist der Text so auch
im Roman zu finden – Ipek, die Protagonistin in „Vater und ich“, kommt in
dem Essay aber gar nicht vor.
## Das Autobiographische ist nicht wichtig
Wo spricht Ipek, wo spricht Dilek? „Ich finde die Frage nach dem
Autobiografischen eigentlich gar nicht so wichtig“, antwortet darauf die
Autorin. „Der Roman ist nicht besser oder schlechter, weil die Geschichte
mir passiert ist oder nicht.“
Wie Dilek Güngör scheint Ipek nicht zu der Sorte Journalistin zu gehören,
die es liebt, selbstbewusst unangenehme Fragen zu stellen. Sie hört lieber
zu. Ist das Schweigen für den Vater in Ordnung? Ipek weiß es nicht. „Wenn
du mir einmal gesagt hättest, was du willst“, heißt es. Und später: „Kan…
du auch mit einer erwachsenen Tochter etwas anfangen?“ Früher, in der
Kindheit, gab es zwischen beiden keine Probleme, sondern Nähe, Witze und
fröhliches Herumtollen. Bis das wilde Spielen ayıp wurde.
So sucht Ipek den Grund für das Schweigen bei sich selbst, beziehungsweise
in der Zeit, in der die Nähe zum Vater auf einmal unpassend erschien:
„Später wollte ich nicht einmal vor der Schule mit dir gesehen werden und
stieg schon an der Ecke aus. Habe ich den Anfang gemacht?“
Während Ipek auf der einen Seite ihre eigene Stimme findet, zeichnete sich
auf der anderen Seite der Verlust einer Sprache ab: „Türkisch war etwas für
zu Hause, eine Sprache, die außer für den Hausgebrauch wenig nützlich war“,
reflektiert Ipek, die wie Dilek Güngör aus dem Schwabenland kommt.
## Ein anderes Türkisch
Erst später belegt sie in der Uni Türkischkurse, doch auch das bringt die
Nähe zwischen ihr und dem Vater nicht zurück. Denn es ist ein anderes
Türkisch, das an der Universität gelehrt wird, ein dialektfreies: „Zu
Hause, mit dir, sprach ich mein neues Türkisch nicht, es war mir peinlich,
dir in deiner eigenen Sprache fremd zu sein.“
Eigentlich spielt das Türkischsein in „Vater und ich“ jedoch keine große
Rolle: Das Schweigen zwischen beiden wäre in einer einzigen Sprache genauso
bedrückend. Güngör, die quasi ihr ganzes Berufsleben lang über ihre
türkische Familie geschrieben hat, hat ihren Frieden mit dem Thema gemacht.
„Ich kann über das Türkischsein schreiben, muss es aber nicht mehr“, sagt
sie.
Das ist vielleicht das Bemerkenswerte an „Vater und ich“: Ipek ist ganz
nebensächlich in einer Welt zu Hause, die keine rein deutsche ist. „Ich
denke, solche Geschichten braucht es mehr“, sagt Güngör. „Das Türkische
wird zwar miterzählt, ist aber nicht das Thema des Romans.“
## Durch die Herkunft geprägt
Die Entscheidung dafür musste sie selbst treffen. Ihr letzter Roman „Ich
bin Özlem“ verhandelte genau dieses Spannungsverhältnis zwischen eigen- und
fremdbestimmter Konzentration auf die Herkunft. Nichts habe sie so stark
geprägt wie die Herkunft ihrer Familie, glaubt darin die Protagonistin.
Oder weisen sie ihre Lehrer:innen oder Nachbarn nur immer genau darauf
hin? Güngör meint: „Man muss versöhnlich bleiben, auch wenn die ewige Frage
nach dem ‚Woher kommst du?‘ anstrengend ist.“
Etwas Verbindendes zu schaffen, universelle Gefühle hervorzurufen, ist
erklärtermaßen ihr Ziel. Beschreibt eine Autorin ein Gefühl nur präzise
genug, ist es praktisch egal, was es ausgelöst hat. So schildert Dilek
Güngör an einer Stelle nicht nur die Scham, die Ipek als Jugendliche
angesichts der nichtdeutschen Unterschrift ihrer Mutter empfand, sondern
lässt im Leser auch das viel bedrückendere Gefühl aufkommen, das die
erwachsene Ipek durchzuckt, wenn sie an diese Episode zurückdenkt.
Die Eltern, sie waren uns allen einmal unangenehm, und die kleinen
Verletzungen, die wir ihnen durch unsere Ablehnung zufügten, schmerzen in
uns heute vielleicht schlimmer als in ihnen.
Womöglich ist es dieser Respekt vor den Feinheiten der Sprache, der Dilek
Güngör zu einer guten Autorin macht. Eigentlich wollte sie Übersetzerin
werden, hat Englisch und Spanisch studiert. „Ich war aber eine ganz
schlechte Übersetzerin“, sagt sie. „Das Original hat mich immer zu sehr
gefangen gehalten, ich konnte mich nicht davon lösen und ein eigenes Werk
schaffen.“ Man kann sich die Vorsicht Güngörs gut vorstellen, die mitunter
lange überlegt, bevor sie spricht.
Ihre Hände liegen vor ihr auf dem Tisch. Die Finger sind schlank, es sind
keine Arbeiterhände, wie die ihres Vaters es sein müssen, der über 20 Jahre
lang in einer Fabrik gearbeitet hat. Doch sind es gerade die Hände, die in
„Vater und ich“ einen Ausweg aus der Sprachlosigkeit bieten. Konversation,
das ist einfach nichts für Ipek und ihren Vater. „Also gebrauchen wir
unsere Hände zum Reden“, heißt es gegen Ende des Romans, „sie wollen
beschäftigt werden, etwas zu tun haben, etwas anfassen, etwas festhalten,
und sei es ein Topf Reis.“
12 Sep 2021
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## AUTOREN
Julia Hubernagel
## TAGS
Literatur
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