# taz.de -- Stimmen der Berliner Kultur zur Wahl: „Wir wären längst bereit�… | |
> Vor der Wahl zum Abgeordnetenhaus: Wir haben Berliner Kreativen Fragen | |
> zur Lage Berlins und zu ihren Erwartungen und Befürchtungen gestellt. | |
Bild: Was für ein Kreuz? Am 26. September hat wieder man die Auswahl | |
Am 26. September entscheidet sich, wer künftig die Hauptstadt vom Roten | |
Rathaus aus regieren wird. Umfragen zufolge liegt die SPD momentan vorn, | |
doch mit Klaus Lederer von den Linken macht sich auch ein Kultursenator | |
Hoffnung auf das Bürgermeisteramt. Überhaupt die Kultur: Was sagen die | |
Kreativen dieser Stadt zur Wahl? Was erhoffen sie sich in puncto | |
Kulturförderung? Wie meistern wir die größte Herausforderung der nächsten | |
Jahre, den Klimawandel? Ein nicht repräsentativer Querschnitt durch die | |
Kulturszene Berlins und die Themen des Wahlkampfs. | |
## Kulturpolitik | |
Wie lässt sich die Unterstützung für Musiker:innen in Berlin | |
verbessern? | |
Was mich grundsätzlich an der Debatte über Kunstförderung stört, ist, dass | |
wir ständig von Hilfeleistungen des Staates sprechen. Diese sind meiner | |
Meinung nach sowohl lokal über den Berliner Senat als auch über die | |
Bundesbeauftragte für Kultur und Medien in Form von Neustart Kultur extrem | |
vielschichtig und hilfreich angelegt. Schön und gut, doch wie lange kann | |
man sich das wohl noch leisten? Wäre es nicht smarter, sich gesetzlich | |
endlich darum zu kümmern, dass Kunst ihren gerechten Anteil am Markt | |
erwirtschaftet und diese Hilfeleistungen gar nicht in Anspruch genommen | |
werden müssen? | |
In den kommenden vier Jahren müssen politische Weichen so gestellt werden, | |
dass für den Künstler als Rechteinhaber ein Equal Level Playing Field | |
gegenüber der digitalen Plattformökonomie herrscht. Es kann nicht sein, | |
dass die Erlöse der digitalen Wirtschaft auch pandemiebedingt in | |
schwindelerregenden Milliardenbereichen immer weiter wachsen. Dass das | |
Gros derjenigen, die diese Plattformen kreativ füllen, fast komplett leer | |
ausgeht. Sowohl User-Generated-Content-Plattformen als auch | |
Streaminganbieter, die über Verwertungsgesellschaften funktionieren, müssen | |
zur Verantwortung gegenüber uns Künstlern gezogen werden. Es liegt so viel | |
Geld in der digitalen Wirtschaft, Künstler in die Bittstellerposition zu | |
rücken ist absurd. | |
[1][Balbina, Sängerin und Musikerin] | |
Welche Schritte muss die Politik unternehmen, um zu verhindern, dass immer | |
mehr Clubs aus dem Stadtbild verschwinden? | |
Clubs und Clubkultur sind Teil eines klimagerechten und sozialen | |
Stadtbilds, welches nicht nur dringend notwendig ist, sondern der einzige | |
Weg, ein Leben in Berlin in ein paar Jahren noch lebenswert zu machen! | |
Klimazerstörende Projekte wie die A 100, die auch den Abriss von populären | |
Clubs bedeuten, müssen gestoppt werden! | |
Wachstumsorientierte Politik funktioniert nicht mehr! Profitzwang im | |
Kulturbereich? Was bleibt, wenn es nur noch profitable Kunst und Musik | |
gibt, das wäre doch kulturell gesehen ein totaler Rückschritt und macht | |
keinen Platz für neue Ideen! Ich fordere Deökonomisierung von Kultur, | |
Subventionen für freie Szene und einen Post-Corona-Rettungsplan für den | |
gesamten Kulturbereich mit Schwerpunkt auf freier Szene, Galerie und | |
Berliner Clubkultur! Deshalb wähle ich Klimaliste! | |
Marlene Stark, DJ, Künstler*in, Autor*in | |
## Stadtentwicklung | |
Welche politischen Fehlentscheidungen wurden in den vergangenen drei | |
Jahrzehnten in Berlin getroffen? | |
Was in Berlin in den letzten 30 Jahren politisch passiert ist, kann man am | |
besten in der urbanen Struktur der Stadt sehen: dem Ausverkauf der | |
ostdeutschen Wirtschaft, dem Verkauf der Immobilen durch die Treuhand | |
direkt nach dem Fall der Mauer bis hin zur heutigen Mieten- und | |
Stadtentwicklungspolitik. | |
Berlin hat so viel angeboten, als die Stadt nichts anzubieten hatte, als | |
die Mieten niedriger waren, als es einfacher war, in der Stadt Ateliers | |
sowie Produktionsräume zu haben. Berlin ist nun eine Stadt geworden, auf | |
die alle schauen, die hofiert und begehrt wird. Es liegt in der | |
Verantwortung der Politik, die kulturellen Institutionen der Stadt endlich | |
mit vernünftigen Budgets und Personal zu unterstützen; Künstlerinnen und | |
Kulturschaffenden eine Struktur zu ermöglichen, in der sie weiterarbeiten | |
können. Denn Kunst und Kultur sind ein essenzieller Teil Berlins. Das darf | |
nicht vergessen werden. | |
Monica Bonvicini, Künstlerin und Bildhauerin, kam Mitte der 1980er Jahre | |
zum Studium nach Berlin und blieb | |
Wie lässt es sich verhindern, dass die Berliner Kieze ihren Charakter | |
verlieren und irgendwann überall Prenzlauer Berg ist? | |
Dass Städte und Kieze sich verändern, halte ich nicht für per se | |
problematisch. Problematisch ist die Verdrängung einkommensschwächerer | |
Mieter, die sich ihre Kieze nicht mehr leisten können. | |
Gute Stadtpolitik führt immer zur sozialen Frage. Warum soll überhaupt | |
jemand mehr als 10 Wohnungen besitzen dürfen? Warum darf mit Wohnraum | |
spekuliert werden, und wie können wir unser Grundrecht auf Wohnen gegen die | |
Gier von Vermietern und Private-Equity-Fonds wahren? | |
Als ersten Schritt brauchen wir den bundesweiten Mietendeckel und die | |
Vergesellschaftung der großen privaten Wohnungsgesellschaften. Hier könnten | |
das Land und die Stadt Berlin am 26. September ein kleines bisschen | |
Geschichte schreiben. | |
Thorsten Nagelschmidt, Autor und Musiker[2][, hat in „Arbeit“ Kreuzberg ein | |
literarisches Denkmal gesetzt] | |
## Sicherheit | |
Macht Videoüberwachung samt Gesichtserkennungssoftware Berlin sicherer? | |
Es hat bestimmt Vorteile, gezielt nach Verbrechern zu suchen, aber mir | |
macht Sorgen, dass so Menschen unter Generalverdacht gestellt und überwacht | |
werden können. Außerdem ist es doch ein riesiger Verwaltungsaufwand, diese | |
Technik in all unsere Systeme zu implementieren. Solange wir in der | |
Digitalisierung – in Schulen, in der Verwaltung – noch so hinterherhinken, | |
sollte man sich doch vielleicht lieber erst mal darum kümmern. | |
Antifuchs, Rapperin, tritt nur mit schwarzer Fuchsmaske auf | |
## Ost/West | |
Mit Franziska Giffey und Klaus Lederer setzen SPD und Linke auf | |
Spitzenkandidat:innen mit ostdeutscher Biografie, Grüne und CDU mit | |
Bettina Jarasch und Kai Wegner auf solche mit westdeutscher Biografie. | |
Spielt das 30 Jahre nach der Wende noch eine Rolle? | |
Einkommensungleichheit, Erben, Rente oder Altersarmut sind Themen, die mit | |
der Geschichte der DDR und den Folgen des Umbruchs von 1989/90 | |
zusammenhängen und deswegen die Generation meiner Großeltern und Eltern | |
betreffen und damit auch mich. Meines Erachtens eignet sich der Begriff | |
„Osten“ – und so nutze ich ihn auch in meiner künstlerischen Arbeit – … | |
Zugang, um über gesellschaftliche Ungleichheit und Brüche zu diskutieren, | |
die potenziell alle Menschen betreffen. Wichtiger als die Herkunft von | |
Politiker*innen ist mir, dass diese Themen ernst genommen und weiter | |
verhandelt werden und sich die Berliner Politik klar gegen den Ausverkauf | |
der Stadt, für soziale Sicherheit und antifaschistisch positioniert. | |
[3][Henrike Naumann, Künstlerin] | |
## Generationswechsel | |
Sind Berlin und das Land reif für jüngere Politiker:innen? | |
Wir und viele andere Menschen wären längst für mehr junge Menschen in der | |
Parteipolitik bereit (auch und vor allem in den Führungsebenen) – aber der | |
Mehrheit geht es da offenbar anders. Sonst wären doch nicht alle Optionen, | |
die uns in Bezug auf die Wahl zur Verfügung stehen, so erschreckend trist, | |
oder? | |
Der Korbinian Verlag, veröffentlicht hauptsächlich [4][Bücher jüngerer | |
Autor:innen] | |
## Klima | |
Lässt sich der Klimawandel ohne Verbote oder Verteuerungen aufhalten? | |
„Job oder Klima?“, fragte neulich Bild alle Parteien, und behauptete, damit | |
die „unbequemste Frage“ gestellt zu haben. So schürt man Angst. Allerdings: | |
Seriöse Klimapolitik ohne Abstriche ist wie ein Coronatest, der den dazu | |
notwendigen Abstrich durch liebe Worte ersetzt. | |
Ilja Richter, Schauspieler und Autor | |
## Gerechtigkeit | |
Wie vertreiben wir uns die lange Zeit des Wartens auf Gerechtigkeit? | |
Da Gerechtigkeit nach traditioneller Auffassung sofort oder nie eintritt, | |
geht es dort, wo gewartet wird, schon nicht mehr ganz gerecht zu. „Wir | |
haben die Wartezeit auf die Strafe abgeschafft – das ist die wahre | |
Gerechtigkeit“, schreiben noch die Roten Khmer. Das zeigt: Gerechtigkeit, | |
sollte es sie irgendwann geben, träfe mich nicht wie eine Erlösung oder | |
Befreiung, sondern wie ein Genickschuss. Statt auf die unmögliche oder | |
unmittelbar tödliche Gerechtigkeit zu warten, sollten wir offensichtliche | |
Ungerechtigkeiten bekämpfen. | |
Sven Rücker, Philosoph, forscht zur Kultur des Wartens | |
18 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Portraet-der-Saengerin-Balbina/!5651605 | |
[2] /Autor-Thorsten-Nagelschmidt-im-Interview/!5681385 | |
[3] /Ausstellung-im-Kunsthaus-Dahlem/!5794790 | |
[4] /Autor-Marius-Goldhorn/!5780206 | |
## AUTOREN | |
Julia Hubernagel | |
Balbina Monika Jagielska | |
Marlene Stark | |
Monica Bonvicini | |
thorsten Nagelschmidt | |
Antifuchs Antifuchs | |
Henrike Naumann | |
Korbinian Verlag | |
Ilja Richter | |
Sven Rücker | |
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