# taz.de -- Ausstellung zu Fotograf Ergun Çağatay: Deutsch-türkische Wirklic… | |
> Der Fotograf Ergun Çağatay fotografierte 1990 in deutschen Städten. Nach | |
> 60 Jahren Anwerbeabkommen zeigt sie jetzt das Ruhr Museum in Essen. | |
Bild: Ergun Çağatay, Frauen in der Arbeitersiedlung Duisburg-Hamborn, Sandstr… | |
Deutschland ist ein Einwanderungsland.“ Ein früher umstrittener Satz, der | |
heute eine längst vollzogene Realität bedeutet und in der Ausstellung „Wir | |
sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990“ im Essener Ruhr Museum von | |
daher wie selbstverständlich zitiert wird. Schließlich ist auch die | |
ehemalige Kohle- und Stahlregion Ruhrgebiet von Arbeitsmigration geprägt. | |
Kein Zufall also, dass hier die Schau mit Fotos des türkischen Fotografen | |
Ergun Çağatay eröffnet, die später unter anderem nach Berlin, Hamburg und | |
Istanbul wandert. | |
Formaler Anlass, endlich einmal einen Teil der rund 3.500 Bilder zu zeigen, | |
die Ergun Çağatay 1990 in fünf deutschen Städten geschossen hat, ist ein | |
wichtiger Jahrestag: [1][Vor 60 Jahren, am 30. Oktober 1961, schlossen die | |
Bundesrepublik Deutschland und die Türkei einen Vertrag über die Anwerbung | |
türkischer Arbeitskräfte]. | |
Die Menschen, die schon seit den 1950er Jahren dringend benötigt ins | |
Wirtschaftswunderland kamen, nannte man damals „Gastarbeiter“. Einen Gast | |
zeichnet allerdings aus, dass er nur eine Zeit lang willkommen ist, aber | |
dann auch gerne wieder gehen sollte. Doch wie wir wissen, kam es anders als | |
von der Bürokratie gedacht. Viele der Arbeiter und ihre Familien wurden in | |
der Bundesrepublik heimisch und wollten bleiben. Dies erschütterte das | |
völkische Selbstbild einer ethnisch homogenen deutschen Nation, die | |
allerdings schon zuvor durch zahlreiche Migrationen gekennzeichnet war. | |
Ergun Çağatays Projekt eröffnet nun eine interessante zeitgeschichtliche | |
Perspektive: Der 1937 in Izmir Geborene war bereits früh ein international | |
etablierter Fotograf. Seit 1968 arbeitete er als Fotojournalist für die | |
Agentur Associated Press. Später war er für Agenturen und Unternehmen wie | |
Gamma in Paris und Time Life in New York unterwegs. | |
## Vertrauen der türkischen Communitys | |
Der Kunsthistoriker Peter Stepan, der Çağatays Fotoprojekt wiederentdeckt | |
hat, schreibt im konsequent zweisprachigen (Deutsch und Türkisch) | |
Ausstellungskatalog: „Seine Bildreportage reiht sich ein in die Reihe | |
großer sozialer Reportagen in der Nachfolge etwa Dorothea Langes oder | |
Walker Evans’.“ Ein tragisches Ereignis in seiner Biografie folgte 1983, | |
als er auf einer Reise bei einem Bombenanschlag auf dem Flughafen Paris | |
Orly schwer verletzt wurde. Eineinhalb Jahre dauerte seine Genesung. Danach | |
unternahm er weitere fotografische Reisen nach Europa und Zentralasien. | |
Seine Reise nach Deutschland sollte eigentlich Teil eines groß angelegten | |
Projekts über die Arbeitsmigration aus dem globalen Süden in den Norden für | |
die Pariser Agentur Gamma sein. Nach den Stationen in Hamburg, Köln, Werl, | |
Berlin und Duisburg konnte sie dem Fotografen die erforderlichen Mittel | |
allerdings nicht mehr zur Verfügung stellen, und so blieb das Vorhaben | |
Fragment. Ein hoch interessantes Fragment eben deshalb, weil Ergun Çağatays | |
Blick keine reine Außen-, aber auch keine Innenperspektive bietet. | |
Er konnte an vielen Orten schnell das Vertrauen der türkischen Communitys | |
erlangen und so das Leben vieler Migranten in der Bundesrepublik | |
dokumentieren. Da er über keine deutschen Sprachkenntnisse verfügte, ging | |
er nicht als Deutschtürke durch, wie die Menschen, die auch 30 Jahre nach | |
dem Anwerbeabkommen oft mit einem ganz eigenen Gefühl von Heimatlosigkeit | |
zwischen den Welten festhingen. | |
Vor allem aus den Berliner Fotoarbeiten tritt die besondere historische | |
Formation deutlich hervor, in der Ergun Çağatay sich bewegte: Kurz nach | |
dem Mauerfall und vor der Wiedervereinigung porträtierte er zum Beispiel | |
Gemüsehändler, die als Pioniere in den Osten gingen, um dort die Lust auf | |
Südfrüchte zu befriedigen. In Kreuzberg gewann er das Vertrauen der | |
türkischen Straßengang „36 Boys“, die sich Schlägereien mit gewalttätig… | |
rechten Skinheads lieferten. | |
## Aufbrechen der Distanz | |
In jeder Stadt hatte er einen anderen Fokus: Nach Werl verschlug es ihn, | |
weil dort im Mai 1990 die erste neuere Moschee in Deutschland eröffnete und | |
die Religionsausübung, die für die eingewanderten und hartnäckig | |
marginalisierten Menschen einen wichtigen sozialen Kitt darstellte, damit | |
einen Schritt aus den Hinterhöfen heraustrat. | |
In allen Städten versuchte er Einblicke in die Arbeitswelt, aber auch in | |
das öffentliche und private Leben der Menschen zu bekommen. Besonders bei | |
seiner Ruhrgebietsstation in Duisburg gelang ihm nach seiner | |
Untertagefahrt, die er in eindrucksvollen Schwarz-Weiß-Bildern mit Blitz | |
festgehalten hat, auch das Aufbrechen der Distanz: Großfamilien ließen sich | |
im Wohnzimmer vor der mit der Bosporus-Brücke geschmückten Wand ablichten – | |
oder auf der Straße vor dem Mercedes-Benz. | |
Geradezu ikonisch wirkt eine Fotografie von Vater und Sohn auf dem | |
Gabelstapler: Der Vater sitzt im klassischen Arbeiterkittel in der | |
Fahrerkabine, der Sohn als frischer Absolvent eines Ingenieurstudiums im | |
Anzug auf der Gabel. | |
In Köln dokumentierte Ergun Çağatay hauptsächlich die Arbeitswirklichkeit | |
in den Ford-Werken. In Hamburg stieß er auf eine Demonstration gegen die | |
Verschärfung des Ausländergesetzes. „Wir leben hier – wir bleiben hier“ | |
steht da auf einem großen Banner. Heute ist dieses „Bleiben“ zwar | |
selbstverständlich geworden. Doch selbst im Ruhrgebiet werden weiter Kämpfe | |
für die Sichtbarkeit der Arbeitsmigrant*innen und ihrer Geschichte | |
geführt. [2][Die Literaturwissenschaftlerin Nesrin Tanç] setzt sich etwa | |
seit Jahren für ein Archiv ein, das das journalistische und literarische | |
Erbe der ersten „Gastarbeiter“-Generationen in der Region pflegt. | |
Ein wichtiger Baustein für die Sichtbarkeit dieses bedeutenden Teils der | |
Ruhrgebiets-Geschichte könnte bald in direkter Nähe des Ruhr Museums | |
entstehen. Parallel zur Fotoausstellung sind dort Entwürfe zu einem | |
Einwanderungsdenkmal zu sehen, das auf Initiative der Staatsministerin | |
Michelle Müntefering auf der Zeche Zollverein entstehen soll. Ende August | |
wird darüber in großer Runde diskutiert. Ulf Aminde und Manuel Gogos haben | |
etwa einen lila schimmernden Rohdiamanten erdacht, der einen für alle | |
Menschen geöffneten Club beherbergt, der den Soundtrack der Migration | |
spielen soll. | |
6 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Max Florian Kühlem | |
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