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# taz.de -- Künstlerin über Bauchtanz: „Hineinschlüpfen in den Tanz“
> Die türkische Künstlerin Ceylan Öztrük beschäftigt sich mit Bauchtanz. In
> den Proben setzt sie sich aber auch mit Kolonialisierung und Othering
> auseinander.
Bild: Nachdenken, machen: die Künstlerin Ceylan Öztrük
taz: Frau Öztrük, als wir das Interview ausmachten, habe ich erwähnt, dass
es unter den enormen Hitzewelle-Konditionen meiner Athener Adresse
stattfinden würde. Sie sagten, dass die Bedingungen Ihnen bekannt sind.
Kennen Sie Griechenland gut?
Ceylan Öztrük: Ich war in Athen und auf vielen der Inseln, privat oder
durch Einladungen zu Residenzen. Aber ich vermeide es, im Sommer dorthin zu
gehen. Es ist einfach zu heiß.
Ich frage, weil wir über den Blick auf den Anderen sprechen möchten. Da Sie
in der Türkei aufgewachsen sind, ist wahrscheinlich auch der
türkisch-griechische Konflikt, der für die aktuell gefährlichste politische
Spannung in Europa gehalten wird, Teil Ihres Bewusstseins. Zurzeit haben
wir eine paradoxe Situation: Während Griechenland zum Zufluchtsort vieler
Exiltürk:innen wurde, wird auf der politischen Ebene gegeneinander
aufgerüstet. Beschäftigt Sie diese Situation?
Der Grund, warum ich heute in der Schweiz wohne, hat mit der politischen
Situation in der Türkei zu tun. Ich habe 2016 [1][die Petition Academics
for Peace unterschrieben,] mit der die Regierung aufgefordert wurde, ihre
Gewalt gegen Kurd:innen zu unterlassen. Wir wurden dafür vor Gericht
gestellt und verloren den Prozess. Dies war der Moment, an dem mir klar
wurde, dass ich das Land verlassen sollte.
Wobei ich sagen muss, dass meine Situation weniger dramatisch war als die
vieler meiner Bekannten, die zum Beispiel im Gefängnis waren, ihren Pass
abgenommen bekamen, und das Land heimlich verlassen mussten. In Bezug auf
den Türkei-Griechenland-Konflikt: Ich muss sagen, dass ich vor vier oder
fünf Jahren aufhörte, die Schlagzeilen in dieser Beziehung zu lesen. Die
Art, wie ein Feindbild insinuiert wird, ist sehr gefährlich. Es wird als
politisches Argument in bestimmten Kreisen aufgebaut, als Taktik. Aber ich
glaube nicht an diese Feindschaft.
Eine ziemlich andere Frage: Wieso haben Sie nach Ihrer Emigration
angefangen, sich künstlerisch für Bauchtanz zu interessieren?
Eine seltsame Sache! Nachdem ich nach Zürich zog, orientierte ich mich
plötzlich viel mehr in die Performanceszene. Das erinnerte mich daran, dass
ich seit meiner Kindheit Bauchtanz bewundert habe, allerdings immer als
eine Disziplin, die zum Angucken und nicht zum Selbermachen war. In Zürich
war dann der Moment gekommen, in dem ich zu einer Person werden konnte, die
es tatsächlich tut. Befördert wurde dieser Wunsch von der Erfahrung, als
Türkin in Europa unterwegs zu sein. Die ersten Assoziationen, die zur
Türkei aufkommen, scheinen hier Kebab und Bauchtanz zu sein. Ich wurde
plötzlich mit der Frage konfrontiert, ob ich nicht kurz mal ein paar
Bauchtanzbewegungen machen könne.
Auf welchem Kommunikationsniveau kamen denn solche Assoziationen auf?
Es kann als eine Art Witz gemeint sein, wenn einschlägige Musik erklingt.
Sie haben nun mehrere Stücke dem Bauchtanz gewidmet. „O“ ist eine
Autotheorie, gespickt mit Gedanken über Selbstreflexion und die
Konstruktion des Fremden von Edward Said, Jacques Lacan, [2][Franz Kafka]
oder Gustave Flaubert. Nun ist Bauchtanz die Disziplin schlechthin, wenn es
um eine Demonstration oder Dekonstruktion des okzidentalen Blicks geht, der
den Orient exotisiert. Was hat Sie überzeugt, sich erneut diesem so
komplexen wie vielleicht auch bereits etwas erschöpften Thema zu widmen?
Darüber habe ich viel nachgedacht und mich permanent gefragt: Soll ich das
wirklich tun? Letztlich war ich neugierig, wer ich sein würde, wenn ich
ernsthaft bauchtanzen würde. Wenn ich mich dem Tanz selbst und nicht zu
sehr seiner Funktion im Orientalisierungsdiskurs aussetzen würde. Was, wenn
ich mich auf die Bewegungen selbst konzentrieren würde, sie verlängern,
verlangsamen, was kommt dann dabei heraus? Dieses Heranzoomen hat mich
fasziniert. Die Bewegungen verlieren ihre Effekte und werden zu reiner
Form.
Dennoch geht es auf der theoretischen Ebene darum, den Bauchtanz als ein
Produkt okzidentaler Wahrnehmung darzustellen. Macht diese Darstellung
nicht eine zu starke Verkürzung soziologischer Kausalketten nötig?
Bauchtanz ist ja nicht nur ein Produkt des westlichen Blicks, sondern ein
Hybrid aus unter anderem indischen, persischen, vor allem Einflüssen der
Roma, Produkt einer komplexen Geschichte aus Marginalisierung,
Kommerzialisierung, Ermächtigung und Aneignung.
Genau diese Themen haben wir auf den Proben endlos diskutiert. Es gibt zum
Beispiel auch die Fragestellung der doppelten Kolonialisierung von
Kulturgut, die des osmanischen Reichs und dann die europäische. Ebenso gibt
es den Aspekt des türkischen, stark patriarchalen Blickes auf den Tanz.
Warum mache ich das also? Der einzige Weg, es herauszufinden, ist, es zu
tun. Hineinzuschlüpfen in diesen Tanz, der mich schon immer fasziniert hat
und der einzige ist, den ich mir intuitiv aneignen kann. Objekt zu werden.
Alle Blickrichtungen darauf zuzulassen und sie damit zu erfahren. Dieses
Prinzip wende ich dann nicht nur auf Bauchtanz an, sondern auf
unterschiedliche Erfahrungen, die, das oder der Andere zu sein: zum
Beispiel ein Kind oder eine Kakerlake.
„Der, die, das Andere ist das Bild dessen, was reflektiert wird“, heißt es
in „Orientalien“, wovon „O“, die performative Arbeit, mit der Sie jetzt…
Berlin zu sehen sind, eine Variante ist. Das heißt, in Anlehnung an Lacan,
dass das Andere immer einen Teil von mir selbst auf mich zurückwirft. In
diesem Sinn ist das Andere Spiegel des fragmentierten Ich. Othering, das
heißt, jemanden zum qualitativ Anderen zu machen, wäre damit eine Art
Ichleugnung, während nur der unmögliche Versuch einer Verkörperung sich dem
Anderen überhaupt annähern kann?
Ja, ich habe mit [3][Lacans] Konzept des Spiegelstadiums gearbeitet, in dem
das Ich durch die Spiegelung am Anderen konstruiert wird. Diesen Vorgang
habe ich mit dem optischen Begriff der Reflexion konfrontiert. Das
Wahrgenommene ist die Reflexion des Selbst, aus der das Andere geschaffen
wird. In der Lecture Performance „Oriental Demo“ von 2017 haben wir vor
Spiegeln getanzt; in „Orientalien“ schuf ich ein Spiegelkabinett, worin das
reflektierte Bild fragmentiert und variiert wird und so eine
Desorientierung hergestellt wird.
„Othering“ ist ein ziemlich überstrapazierter Begriff. Womit ich nicht den
politischen Diskurs darüber entwerten möchte. Man kann zum Anderen gemacht
werden, und ich wollte mir auch die Anderen der Anderen aneignen: So wurde
ich zum Beispiel zur Kakerlake. Darum benutze ich auch Audre Lordes Gedicht
„Brown Menace“ in meinem Stück: „You can call me a cockroach, it does not
matter.“
7 Aug 2021
## LINKS
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[3] /Lacans-Schriften-auf-deutsch/!5398184
## AUTOREN
Astrid Kaminski
## TAGS
Kunst
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Tanz
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