# taz.de -- Serpil Midyatlı über Migration: „Integration gab es nicht“ | |
> Das Anwerbeabkommen mit der Türkei wird 60. Ein Gespräch mit Serpil | |
> Midyatlı, Schleswig-Holsteinische SPD-Chefin und Gastarbeiterkind. | |
Bild: Sagt von sich selbst, sie müsse nicht immer die erste sein: Serpil Midya… | |
taz: Würden Sie sich selbst als Gastarbeiter:innenkind bezeichnen, | |
Frau Midyatli? | |
Serpil Midyatli: Ich bin mit diesem Begriff aufgewachsen. Als ich ganz | |
klein war, habe ich mich immer darüber gewundert. Gast zu sein ist ja etwas | |
Besonderes, gerade in der türkischen Kultur werden Gäste auf Händen | |
getragen. Ich habe mich gefragt: Wenn wir Gäste sind, warum behandelt man | |
uns dann so schlecht? | |
Und wie ist heute Ihr Verhältnis zu der Bezeichnung? | |
Jetzt bin ich Schleswig-Holsteinerin. Die Identitätsfrage ist für mich | |
endgültig geklärt. Das muss ja aber jeder mit sich selbst ausmachen. | |
Am Samstag ist der 60. [1][Jahrestag des deutsch-türkischen | |
Anwerbeabkommens]. Was bedeutet das Abkommen für Sie und Ihre Familie? | |
Das Abkommen hat unser Leben komplett verändert. Angefangen mit meinem | |
Vater. Er ist Analphabet und hat keine richtige Schulbildung gehabt. Mit | |
der Entscheidung, nach Deutschland zu kommen, und hier zu arbeiten, hat er | |
uns ein ganz anderes Leben ermöglicht, was die Bildungschancen und Teilhabe | |
angeht. Mein Leben und das meiner Familie wäre ganz anders geworden, wenn | |
wir in sein Dorf zurückgekehrt wären, aber mein Papa hat sich bewusst | |
dagegen entschieden. | |
Warum? | |
Es gab ja immer wieder Zeiten, in denen viele in die Türkei zurückgekehrt | |
sind. Da waren meine Geschwister und ich aber immer in wichtigen Phasen, | |
erst in der Grundschule, dann in der weiterführenden Schule. Da wollten | |
unsere Eltern uns nicht rausnehmen. Und irgendwann haben sie sich | |
entschieden, dass sie nicht mehr zurückkehren werden, weil Deutschland und | |
Schleswig-Holstein unsere Heimat geworden ist. | |
Ihre Eltern sind dann Unternehmer geworden, richtig? | |
Mein Vater kam als Schweißer und hat in Kiel auf der Werft, HDW, | |
angefangen. Er musste aber den Beruf wechseln, weil er eine Allergie | |
bekommen hat. Er hat dann auf dem Bau gearbeitet und sich später als | |
Bauunternehmer selbstständig gemacht, als einer der ersten Türken in | |
Schleswig-Holstein. Später sind wir mit meiner Mutter in die Gastronomie | |
gegangen. Mittlerweile sind meine Eltern aber in der wohlverdienten Rente. | |
Sie sind in Kiel-Mettenhof aufgewachsen, einer Hochhaussiedlung, in der | |
viele Menschen mit niedrigem Einkommen leben. Wie war das für Sie? | |
In Mettenhof groß zu werden, war toll. Man ist total schnell im Grünen, | |
weil der Stadtteil am Rand von Kiel liegt. Wir hatten alle Möglichkeiten, | |
uns sportlich zu betätigen und unterwegs zu sein. Wir haben aber auch als | |
Kinder schon verstanden, dass man es mit dieser Postleitzahl bei vielen | |
Jobs mit einer Bewerbung gar nicht versuchen braucht, weil man sowieso | |
nicht genommen wird. | |
Hatten Sie überhaupt das Gefühl dazuzugehören? | |
Sehr lange wurde mir das Gefühl vermittelt, ich sei kein normales Kind, | |
sondern irgendwie anders. Das fing in der Grundschule an, wo die | |
[2][Gastarbeiterkinder] im Deutschunterricht ganz nach hinten gesetzt | |
wurden, um zu malen, weil davon ausgegangen wurde, dass wir nicht Deutsch | |
lernen müssen. Wir würden ja eh zurückkehren. Integration gab es da nicht. | |
Was bedeutet Integration denn für Sie? | |
Bei dem Thema Integration geht es für mich um Beteiligungsmöglichkeiten und | |
gleiche Chancen, insbesondere in Bezug auf Bildung, Arbeit, aber auch | |
kulturelle und politische Teilhabe. Es geht nicht darum, dass wir uns alle | |
lieb haben und alle Unterschiede verschwinden. Es geht darum, dass Herkunft | |
kein Schicksal ist. Ich habe immer Länder bewundert, in denen sich | |
Menschen, die dort noch nicht lange leben, schon nach kurzer Zeit als Teil | |
des Ganzen fühlen und zum Beispiel ganz selbstverständlich sagen: Ich bin | |
Kanadierin. Wir in Deutschland suchen dagegen immer noch nach Begriffen, | |
wie man mich am besten nennt, weil nur Deutsche oder nur | |
Schleswig-Holsteinerin geht ja nicht. Da braucht es immer noch einen | |
Zusatz. Das ist das Problem: Wir reden zu viel über Begrifflichkeiten und | |
Trennendes. Das macht es schwerer, sich zu integrieren. | |
Was macht das mit Ihnen, dass bis heute so über Sie gesprochen wird? | |
Es gibt zwei Wege, damit umzugehen: Entweder Sie werden wütend, weil | |
Veränderungen so lange dauern. Oder Sie nehmen gewisse Sachen mit Humor. | |
Ich habe mich für Humor entschieden, alles andere würde mir zu viele | |
Freiheiten nehmen und macht Falten. Es hat sich ja auch schon viel | |
verbessert. | |
Was denn? | |
Mittlerweile ist allen klar, dass wir ein Einwanderungsland sind, dass wir | |
divers sind und unsere Vielfalt auch eine Chance ist. Die Parlamente werden | |
langsam bunter und vielfältiger. Natürlich muss sich noch viel verbessern. | |
Wir müssen die interkulturelle Öffnung der Verwaltung voranbringen, da noch | |
diverser werden. Wir sind noch nicht am Ziel. | |
[3][Die Parlamente spiegeln bis heute nicht wirklich die Realitäten der | |
Gesellschaft wider]. Auch nicht, wenn es um den Anteil von Menschen mit | |
Migrationsgeschichte geht. | |
Aber es tut sich was. Die neue SPD-Bundestagsfraktion ist deutlich | |
vielfältiger und jünger geworden. Und Aydan Özoğuz, Kind türkischer | |
Einwanderer, ist gerade zur [4][stellvertretenden Bundestagspräsidentin] | |
für die SPD gewählt worden. | |
Sie selbst hätten ein Zeichen setzen und zur kommenden Landtagswahl | |
antreten können. Stattdessen haben Sie mit [5][Thomas Losse-Müller] einem | |
recht unbekannten Mann den Vortritt gelassen. | |
Ich bin davon überzeugt, dass wir uns als SPD breiter aufstellen müssen und | |
es mehr Personen geben muss, die in der ersten Reihe stehen. Mit mir gibt | |
es keine One-Woman-Show. Das ist mein Anspruch, seit ich Landesvorsitzende | |
geworden bin. Und ich finde, das habe ich mit der Spitzenkandidatur auch | |
umgesetzt. Als Fraktionsvorsitzende, Landesvorsitzende und stellvertretende | |
Parteivorsitzende habe ich weiterhin viel Verantwortung. Ich bin in allem | |
immer die Erste gewesen, die erste Muslima im Kieler Landtag, die erste | |
weibliche Landesvorsitzende der SPD Schleswig-Holstein, die erste | |
muslimische Fraktionsvorsitzende. [6][Ich muss nicht immer die Erste sein]. | |
Mit Ihrer eigenen Kandidatur hätten Sie Ihre Themen Familie und Integration | |
im Wahlkampf in den Vordergrund stellen können. | |
Natürlich setze ich auch als Landesvorsitzende meine Themen im Wahlkampf. | |
Zudem sind Thomas und ich uns dabei auch sehr einig. Es ist so, dass wir | |
uns beim Thema Integration, Migration und Flucht in Schleswig-Holstein – | |
abgesehen von den Faschos – über Parteigrenzen hinweg einig sind. | |
Sie hatten die Diversität in der Verwaltung angesprochen. Wie wollen Sie | |
die erreichen? | |
Das ist ja kein Hexenwerk. Oftmals wird gesagt, es würden sich ja keine | |
Migrant:innen auf Ausbildungsplätze bewerben. Aber man muss schon auch | |
gucken, wo man die Schülerinnen und Schüler anspricht. Wir wissen, dass es | |
wichtig ist, dafür in Quartiere wie Mettenhof zu gehen. Das ist alles | |
erforscht. Wir haben wirklich keine Erkenntnisdefizite. Wir haben aber ein | |
Umsetzungsproblem. | |
Könnte eine [7][Quote für Menschen mit Migrationsgeschichte im öffentlichen | |
Dienst] da helfen? | |
Bei Gleichstellungsthemen konnten wir viele Ziele am Ende nur über Quoten | |
erreichen. Aber bei der Integration hoffe ich, dass wir sie gar nicht | |
brauchen. Mir wäre es lieber, wenn wir es schaffen, junge Menschen früh | |
anzusprechen und auch in den Personalabteilungen eine Sensibilität zu | |
schaffen. Mein Ziel ist, dass nicht mehr der Name oder die Postleitzahl | |
darüber entscheiden, ob man zum Bewerbungsgespräch eingeladen wird oder | |
nicht. | |
30 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Marthe Ruddat | |
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