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# taz.de -- Geflüchteter will ins Parlament: Es ist auch sein Land
> 2014 floh Tarek Saad aus Syrien nach Schleswig-Holstein. Jetzt will er
> für die SPD in den Landtag. Kann das klappen?
Bild: In seinem Wahlkampf besucht Tarek Saad Anfang April in Bad Segeberg auch …
Am Abend eines langen Tages sitzt Tarek Saad im Wohnzimmer eines
Bauernhauses und überlegt, aus welchem seiner Leben er am besten erzählt.
Es ist kurz nach sieben, draußen ist es kalt, nur eine Handvoll Lichter
leuchten in der Dunkelheit. Die Nachbarhäuser des 511-Seelen-Dorfs
Gönnebek, tiefstes Schleswig-Holstein.
Drinnen wirft eine Stehlampe schummriges Licht in den Raum, ein Akkordeon
hängt an der Wand. „Schön habt ihr’s hier“, sagt Saad, 28, ein höflich…
Mann von kleiner Statur. Er schenkt sich etwas Kaffee ein.
Ihm gegenüber sitzen drei Männer, größer, breiter, mehr als doppelt so alt
wie er. Klaus, Werner, Thomas. Die Arme vor der Brust verschränkt. Auf
ihren schwarzen Hoodies prangt ein Aufnäher, darauf ein Motorradfahrer und
Flammen. Das Emblem ihrer Gruppe, die Flaming-Stars. Ein landesweiter
Zusammenschluss von Feuerwehrleuten, die Motorrad fahren und sich sozial
engagieren. Saad hatte ihnen eine Mail geschrieben, wollte sie
kennenlernen, also lud Klaus ihn zu sich nach Hause ein.
„Na dann erzähl mal“, sagt Klaus.
## Sein Neuanfang
Saad lächelt, stellt die Kaffeetasse ab. „Ich fahre auch Motorrad“, sagt
er. „Hab ich im Krieg gelernt. Motorräder sind schneller und wendiger als
Autos. Damit kannst du am besten den Kugeln ausweichen.“
Kurz ist es still. Dann erzählt Klaus von den Touren, die sie mit der
Gruppe fahren.
Saad war schon den ganzen Tag in der Gegend unterwegs, um sich vorzustellen
und vorzufühlen, ob er die Menschen für sich gewinnen kann. Er spricht über
die Gesundheitsversorgung auf dem Land, den öffentlichen Nahverkehr, den
Ausbau der Autobahn. Aber auch über sich selbst, sein Leben in Syrien, die
Flucht nach Deutschland, seinen Neuanfang.
In der SPD sei ein Wunder geschehen, wird er am Ende des Abends sagen. Nach
16 Jahren Merkel stelle man wieder einen Kanzler. „Wenn noch ein Wunder
geschieht und ich in den Landtag gewählt werde, möchte ich, dass ihr mich
schon kennt.“
Tarek Saad hat sich viel vorgenommen. Wenn Schleswig-Holstein am [1][8. Mai
einen neuen Landtag] wählt, will er dort der erste Abgeordnete mit direktem
Fluchthintergrund werden. Kein leichtes Unterfangen. Das Bundesland wird
seit der letzten Wahl von einer Jamaika-Koalition regiert. Saads Wahlkreis,
Segeberg-Ost, eine konservative, ländliche Gegend, wählt seit über 15
Jahren CDU. Und auch die Demografie spricht nicht für ihn.
45,6 Jahre beträgt das Durchschnittsalter in Schleswig-Holstein, etwas über
dem Bundesdurchschnitt. Der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund
ist mit 18 Prozent der niedrigste in Westdeutschland. Ein junger, aus
Syrien geflüchteter Mann in einem weißen, alternden Land? Kann das
funktionieren?
Wer Tarek Saad die Monate vor der Wahl begleitet, ihn auf
Parteiveranstaltungen erlebt, neben ihm sitzt, während er mit seinem
silbernen Opel Astra durch die weite, dünn besiedelte Landschaft fährt, der
erlebt einen Mann, der mit seiner Integrationsgeschichte einerseits für
viele ein Vorbild ist. Dessen Kandidatur andererseits aber auch auf
Widerstände trifft, auch in der eigenen Partei.
Die Geschichte von Tarek Saad ist die Geschichte eines Mannes, der aus dem
syrischen Bürgerkrieg nach Deutschland kam und hier in eine Grundsatzfrage
hineingeraten ist: Wie viel Diversität verträgt deutsche Politik?
Tarek Saad wird 1993 in der Hafenstadt Latakia im Westen Syriens geboren.
Er wächst in einem konservativen Elternhaus auf. Der Vater, ein Lehrer,
sucht seine Freunde für ihn aus, schreibt ihn ohne sein Wissen für ein
Jurastudium ein. Die Mutter ist Hausfrau. Über Politik sprechen sie nicht.
Als 2011 der Arabische Frühling in Syrien anbricht, begehrt auch Saad auf.
Er sprüht Freiheitsparolen an Häuserwände, demonstriert gegen das Regime.
2012 geht er, um nicht in die Armee eingezogen zu werden, in die „befreite
Zone“, wie er sie nennt. Ein Landstrich, den nicht Assad, sondern
Rebellengruppen kontrollieren. Er filmt ihre Gefechte mit der Armee,
verkauft die Aufnahmen unter anderem an al-Dschasira.
Er wird angeschossen, schwer verwundet in die Türkei gebracht, flüchtet
dann nach Griechenland. Dort findet er einen Schlepper, der ihn für das
Geld, das er mit den Videos verdient hat, nach Deutschland bringt. Im Juni
2014 kommt Saad mit fünf Euro in der Tasche in der Nähe des Hamburger
Hauptbahnhofs an. Die Behörden schicken ihn in die Gemeinde Felde bei Kiel.
Die erste Zeit lebt er in einer Notunterkunft, einer Baracke, mitten im
Wald. Er freundet sich mit einer Flüchtlingshelferin, Petra Paulsen, an und
lernt ihre zwei Söhne kennen. Die Familie führt ihn heran an dieses Land,
über das er eingangs nicht mehr weiß, als die meisten Deutschen vor 2015
über Syrien wussten. „Deutschland war für mich nur Mercedes, BMW und
Merkel“, sagt Saad.
Es wird schnell mehr. Das erste deutsche Wort, das er 2014 lernt, ist:
„Moin“. Drei Jahre später beginnt er ein Studium der Politik- und
Islamwissenschaft an der Uni Kiel, hält Vorträge in fast akzentfreiem
Deutsch. Er wird Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung, Geschäftsführer
eines Kulturvereins. 2020 erhält er die deutsche Staatsbürgerschaft.
Sein politischer Aufstieg verläuft ähnlich rasant. Petra Paulsen, die
Flüchtlingshelferin, ist Vorsitzende des SPD-Ortsvereins. 2015 macht sie
Saad mit dem damaligen Ministerpräsidenten Torsten Albig bekannt. Saad
liest sich alles zur Partei an, erfährt von Willy Brandt, selbst ein
Geflüchteter. Für Saad eine Inspiration. „Ich hatte das Gefühl, in der SPD
versteht man mich, wenn ich von Flüchtlingsthemen rede“, sagt er. 2016
tritt er in die Partei ein, 2018 wird er Landesvorsitzender der AG
Migration und Vielfalt, im April 2021 Beisitzer im Landesvorstand.
Einigen in der SPD geht sein Aufstieg zu schnell. „Zu jung, zu unerfahren,
nicht lange genug in Deutschland – das habe ich immer wieder gehört, wenn
ich mich auf Posten bewarb“, sagt Saad. Er sehe das aber als „normalen
Parteiwettkampf“, als Teil der Demokratie. Die meisten in der Partei, so
fühlt es sich für ihn an, stützen ihn auf dem Weg nach oben. „Ich hatte das
Gefühl: Es kann immer so weitergehen.“
Am Abend des 29. September 2021 steht Tarek Saad im hell erleuchteten Saal
des Bürgerhauses von Trappenkamp, einer 5.000-Einwohner-Gemeinde im Kreis
Segeberg. Er wirkt angespannt. Die Wahl des Direktkandidaten steht an, die
Entscheidung, wer die SPD im Wahlkreis vertritt. Etwa 30 Genossinnen und
Genossen aus den umliegenden Ortsverbänden sind gekommen, die meisten
jenseits der 50. Ein Meer aus grauen Köpfen.
Sein einziger Gegenkandidat ist ein Mann aus der Region. Jens Kahlsdorf,
61, groß, schütteres, graues Haar. Auf seinem Bewerbungsbogen prangt ein
Bild, auf dem er sein Jackett jovial im Fingerhaken über der Schulter
trägt. Kahlsdorf saß im Wirtschaftsbeirat der IHK, ist Vorsitzender der AG
60+ der SPD Segeberg.
Er redet ruhig, fast behäbig, manchmal spricht er von sich selbst in der
dritten Person. Seine Rede streift die wichtigen Themen der Region: den
Ausbau der Autobahn, Krankenversorgung, die Situation in den Schulen. Immer
wieder kommt er auf den Business-Club zu sprechen, den er führt, ein
Netzwerk von Unternehmern.
Saads Rede hingegen ist emotional, manchmal bricht ihm kurz die Stimme weg.
Er zielt vor allem auf die Vergangenheit der Menschen, viele von ihnen
Nachkommen Vertriebener aus Pommern, Geflüchtete wie er. In seiner Rede
fallen die Worte Heimat, Gerechtigkeit, Solidarität. Am Ende entscheiden
sich die Genossinnen und Genossen mit deutlicher Mehrheit für Saad, den
Newcomer, und gegen Kahlsdorf, den vermeintlichen Mann aus ihren Reihen.
Warum?
Vielleicht liegt es an Saads politischem Gespür. Er spricht von
„Gesellschaftspolitik“, wenn er sich Leuten gegenübersieht, die er mit dem
Wort „Migration“ verschrecken würde. Er weiß, dass er jungen Menschen am
besten mit konkreten Vorschlägen zu Themen wie Klima- und
Wirtschaftspolitik kommt, älteren hingegen am besten von seiner Flucht
erzählt. Stellt man ihm auf Podien Fragen, deren Antwort er nicht kennt,
sagt er, er schlage das nach.
Vielleicht liegt es aber auch an seinem Wissen um Parteistrukturen. Saad
hat schnell gelernt, wann er Allianzen schmieden, wann er sich selbst
behaupten muss. Er hat Praktika gemacht, ist im politischen Betrieb
mitgelaufen. Bei Torsten Albig, Bettina Hagedorn, bei [2][Serpil Midyatli],
inzwischen Landesvorsitzende der SPD, für Saad war sie lange Zeit eine
wichtige Mentorin.
Saad sagt, er mache das alles nach Gefühl. „Wenn man täglich in dieser
Partei unterwegs ist, versteht man, wie sie funktioniert.“
Manchmal, wenn man ihn auf Podien reden hört, hat man das Gefühl, er ist zu
schnell für diesen Landstrich. Wäre er in einer größeren Stadt nicht besser
aufgehoben, in Lübeck, Flensburg oder Kiel? Saad winkt ab. Die
innerparteiliche Konkurrenz sei zu groß, dort würde er kein Bein auf den
Boden kriegen. Also zog er mit seiner Verlobten – sie stammt aus der Gegend
– nach Trappenkamp, ihre Großeltern haben da ein Haus. Saad begann, im
Landkreis am örtlichen Leben teilzunehmen. Wurde Mitglied der Freiwilligen
Feuerwehr, zweimal im Monat sitzt er jetzt mit älteren Leuten an einem
Tisch, um Plattdeutsch zu üben.
Menschen, mit denen man über ihn spricht, egal ob Parteimitglieder oder
Vorsitzende lokaler Vereine, betonen, dass es ihm wirklich um die Sache
geht. Saad setzt sich für den Ausbau von Fahrradwegen und für bessere
Schulen ein, sein Kernthema aber ist die Integration. Für die
Friedrich-Ebert-Stiftung hat er eine Expertise zur Flüchtlingspolitik des
Landes mit erarbeitet. Er fordert das Ende der Abschiebehaft für abgelehnte
Asylbewerber, setzt sich für bessere Arbeitsmarktchancen gut integrierter
Geflüchteter mit Duldung ein, den sogenannten Spurwechsel.
Das politische Engagement als Lebensinhalt. Zugleich, scheint es, ist die
aufreibende Arbeit für ihn aber auch eine Art Flucht.
Ein Donnerstag, neun Uhr morgens. Tarek Saad sitzt in einem Gasthaus in der
Gemeinde Leezen. Die Sonne scheint durch die breite Fensterfront. Er
lächelt müde, die Nacht war kurz. Bis 2 Uhr morgens hat er am Computer
gesessen, Mails geschrieben. Wenn er könnte, sagt Saad, würde er sieben
Tage durcharbeiten. Pause mache er eigentlich nur, wenn seine Verlobte
sage, sie bräuchten Zeit für sich als Paar. Er komme einfach schwer zur
Ruhe.
Wirklich abschalten könne er nur beim Motorradfahren. Wenn er mit seiner
Suzuki Gladius 650 über die Landstraßen fegt. Am liebsten mag er die
Autobahnauf- und -abfahrten, die Kurven sind steil, man muss sich
hundertprozentig konzentrieren. Er kann dann an nichts anderes denken.
Nicht an die Partei, nicht an das Studium, nicht an die Vergangenheit.
„Je älter ich werde“, sagt Saad, „desto häufiger kommen die Erinnerunge…
2011 filmt er mit seiner Kamera, wie Assads Scharfschützen auf
Demonstranten schießen. Vor seinen Augen sterben Menschen, 18 Jahre alt ist
er da.
## Ab da wird alles schwarz
Dann, der 6. August 2013, sein 20. Geburtstag. Saad lebt damals bereits in
der „befreiten Zone“, filmt Rebellen mit seiner Kamera. Sie sind unterwegs
an die vorderste Front. Plötzlich explodieren zwei Granaten vor dem Auto,
sie springen raus, suchen Deckung. Der Rest bleibt für ihn lange
verschwommen, taucht erst nach Tagen in Form von Flashbacks auf. Eine erste
Kugel trifft seine linke Schulter, Saad erinnert sich an das Blut, das
seinen Arm herunterläuft. Eine zweite streift seinen Kopf. Ab da wird alles
schwarz.
Fünf Tage später wacht er in einem Krankenhaus in der Türkei auf. Die
Rebellen haben ihn dorthin gebracht. Unterwegs, werden sie ihm später
erzählen, musste man ihn wiederbeleben. Fotos zeigen ihn auf einem
Krankenbett, mit starrem Blick. „Wäre ich nur drei Zentimeter größer, hät…
die zweite Kugel mitten in den Kopf getroffen“, sagt Saad. „Dann wäre ich
heute nicht mehr da.“
Es ist eine Erfahrung, die zwischen ihm und den Menschen in seiner Umgebung
steht. Saad sagt, er könne oft nicht verstehen, warum sie sich über
Kleinigkeiten aufregen. Staus auf dem Weg zur Arbeit, Ärger mit dem Chef.
„Luxusprobleme“ nennt er das.
Es falle ihm auch schwer, Angehörigen von Verstorbenen sein Mitgefühl
auszusprechen. „Ich kann verstehen, dass jemand traurig ist“, sagt er,
„aber manchmal kann ich es nicht fühlen. Weil der Tod für mich etwas
Normales ist.“
Die Erfahrungen in Syrien hätten ihn abgehärtet, sagt er. Sie hätten ihn
aber auch schätzen gelehrt, was er hier hat: das Leben in Sicherheit und in
einer Demokratie. Die Möglichkeit, politisch etwas zu bewegen. Er sei
stolz, dass er so weit gekommen ist.
Die Enttäuschung kommt Ende Januar. Die Parteispitze gibt die Landesliste
bekannt, sie hat ihn auf den 27. Platz gesetzt. Über die Liste in den
Landtag zu kommen, ist damit so gut wie aussichtslos.
## Es muss sich lohnen
Saad ist wütend, verletzt. Er sagt, er fühle sich „als Maskottchen für
Vielfalt“ benutzt. Er war mindestens von Platz 15 ausgegangen.
Er entschließt sich zu einer Kampfkandidatur um Platz sieben. Ein Platz,
mit dem man relativ sicher in den Landtag einzieht. „Wenn man es riskiert,
muss es sich auch lohnen“, sagt er.
Bei seiner Rede auf der Landeswahlkonferenz eine Woche später wirkt er
deutlich aufgewühlter als in Trappenkamp. „Ihr seid alles, was ich habe,
nachdem ich nichts mehr hatte“, sagt er an die Genossen gewandt. Es ist
eine emotionale Rede, fast flehend. Vergeblich. 54 Teilnehmer stimmen für
ihn, 137 für den ursprünglichen Kandidaten, der von der Parteispitze
vorgesehen war: Marc Timmer, ein 50-jähriger Jurist, der im Bereich
erneuerbare Energien gearbeitet hat.
Tarek Saad, der Mann aus dem syrischen Bürgerkrieg, der glaubte, in der SPD
eine politische Heimat gefunden zu haben, muss einsehen: Die Genossinnen
und Genossen entscheiden sich gegen ihn.
Verläuft hier die Grenze der Willkommenskultur – der Moment, in dem es um
Einfluss geht?
Spricht man mit Parteimitgliedern über die Platzierung und die Abstimmung,
heißt es, einige in der Partei störten sich an Saads Kampfkandidatur. Er
sei zu jung dafür, noch nicht lange genug dabei. Enrico Kreft, Mitglied im
Landesvorstand, sagt, er halte Saads Kandidatur zwar für gerechtfertigt,
glaube aber, er sei mit Platz sieben zu hoch eingestiegen und habe seine
Rede zu sehr auf den Fluchtaspekt abgestellt. „Einige Genossinnen und
Genossen hat die Emotionalität seiner Rede vermutlich überfordert.“
## Woher jemand kommt
Viele verweisen auf die Erfahrung und thematische Expertise des
ursprünglich vorgesehenen Kandidaten.
Aber es gibt auch andere Stimmen. Canan Canli vom SPD-Kreisverband Kiel
hält eine Fürrede für Saad. Das Ergebnis der Abstimmung habe sie
schockiert, wird sie Wochen später in ihrem Haus am Kieler Stadtrand sagen.
Vor allem die Eindeutigkeit, mit der die Genossen gegen ihn stimmten.
Canli, in Deutschland als Tochter kurdischer Einwanderer aus der Türkei
geboren, sagt, Saad sei nicht nur ein Vorbild für Geflüchtete, sondern auch
für Menschen mit Migrationshintergrund in der Partei. „Wir haben uns mit
ihm identifiziert. Eine Entscheidung für ihn wäre für uns alle ein Zeichen
gewesen, dass wir angenommen werden“, sagt sie. „Plötzlich fragt man sich
schon: Spielt es doch eine Rolle, woher jemand kommt?“
Es gibt Politiker und Parteienforscher, die sagen, sie beobachten das
häufiger: Parteien schmücken sich mit Kandidatinnen und Kandidaten mit
Migrationshintergrund, um sich als divers zu präsentieren. Geht es dann
aber ans Eingemachte, setzen sie sie auf aussichtslose Listenplätze. Und
geben denen den Vorzug, die in Erscheinungsbild und Biografie der Mehrheit
entsprechen.
Aber gilt das auch hier? An der Spitze der SPD Schleswig-Holstein steht
Serpil Midyatli, die erste türkischstämmige Abgeordnete im Landtag.
Midyatli sagt, mit der Listenaufstellung werde man niemandem gerecht, außer
vielleicht den ersten fünf Plätzen. Man müsse viel berücksichtigen: die
Themen, für die jemand steht, das Alter, Geschlecht, die Frage, wie lange
jemand in der Partei aktiv ist.
Dass Saad auf Platz 27 gelandet ist, habe mit diesen Faktoren zu tun. „Die
haben es schwergemacht, ihn weiter oben zu platzieren.“ Eine besondere
Rolle dürfte das Thema spielen, für das Saad steht: Migration. In
Schleswig-Holstein, zumindest vor dem [3][Ukraine-Krieg], nicht ganz oben
auf der Liste. Ein Thema zudem, von dem nicht wenige fürchten, man könnte
sich damit die Finger verbrennen, besonders bei der Wahl.
Auch Saads Fürsprecherin Canan Canli sagt: „Wir sind in der Opposition.
Unser Ziel ist es, auf jeden Fall stärkste Kraft zu werden.“
Sie sagt aber auch: „Es wird gebetsmühlenartig behauptet, mit dem Thema
Migration gewinne man keine Wahlen. Aber wer sagt eigentlich, dass das
wirklich so ist?“ Saad weiter vorne aufzustellen, meint Canli, wäre ein
wichtiger Schritt für die SPD in Schleswig-Holstein gewesen.
## Er muss es direkt schaffen
Saad selbst klingt seit der Abstimmung verhaltener, wenn er von der
deutschen Politik spricht. Aus Sicht der Parteispitze, die eine Wahl
gewinnen will, könne er die Entscheidung verstehen. Aus
sozialdemokratischer Sicht falle ihm das schwer. „Es geht ja darum, die
gesamte Gesellschaft abzubilden.“ Enttäuscht von der Demokratie sei er
dennoch nicht. Rückschläge gehörten dazu.
Ein Monat später. Tarek Saad lenkt seinen Opel durch eine
Einfamilienhaussiedlung südlich von Bad Segeberg, eine Parallelwelt aus
rotem Klinker und sauber gestutztem Rasen. Es ist Mittag, die Straßen sind
leer. Saad fährt an den Straßenrand, parkt, langt auf die Rückbank, greift
sich einen Stapel Flyer.
Über die Liste kommt er nicht in den Landtag. Also, hat er entschieden,
muss er das Ding direkt holen.
Bei der letzten Landtagswahl stimmten rund 20.000 Menschen in seinem
Wahlkreis mit der Erststimme für die CDU, 14.000 für die SPD. Die
SPD-Wähler will er halten, mindestens 3.000 von den CDU-Wählern auf seine
Seite ziehen. Darum ist er hier.
Wieder tritt er gegen einen weißen Mann an: Sönke Siebke, Direktkandidat
der CDU. 57 Jahre alt, Landwirt. Bürgermeister einer kleinen Gemeinde, in
der schon sein Vater Bürgermeister war.
Doch Saad ist zuversichtlich, und nicht nur er. „Tarek spricht eine andere
Klientel an“, sagt etwa die SPD-Landtagsabgeordnete Katrin Fedrowitz.
„Menschen, die nahbare Politiker suchen. Und mit dem Ukraine-Krieg wird
auch Migration wieder Thema werden.“
Saad erhält inzwischen vermehrt Anfragen dazu. Er wird zu Podien
eingeladen, das Deutsche Rote Kreuz will mit ihm die Unterbringung
Geflüchteter diskutieren.
Er hat auch die Erstaufnahmeeinrichtung im Wahlkreis besucht. Es ist
dieselbe, in der er damals ankam. Jetzt leben geflüchtete Ukrainer dort.
„Ein Rollenwechsel“, sagt Saad. Plötzlich fand er sich in der Position
eines potenziellen Entscheiders wieder, einer, der Dinge verbessern kann.
Etwa die Arbeit der Ehrenamtlichen mehr zu unterstützen.
„Die Ukrainer dürfen nicht in eine Parallelgesellschaft rutschen“, sagt
Saad. „Sie brauchen Wohnungen und Jobs. Ihre Situation wird uns die
nächsten Jahre beschäftigen.“ Die Willkommenskultur, das sagt er auch, sei
momentan so groß wie 2015.
An rund 50 Türen klingelt Saad an diesem Tag. Eine Frau um die 60 sagt, sie
habe schon von ihm gehört. Ihre Nachbarin, gleiches Alter, sagt, toll, dass
er kandidiert. Ein Mann um die 50 tritt enthusiastisch vor die Tür. Saad
sei der erste Politiker, der persönlich bei ihm vorbeikomme, seine Stimme
habe er auf jeden Fall. Doch die drei sind die Ausnahme. Die meisten
Menschen bleiben eher reserviert.
Nur ein Mann verwickelt ihn in ein längeres Gespräch. Hochgewachsen steht
er in seinem Garten, hager, faltiges Gesicht. Eine kleine Schippe in der
Hand.
„Bin seit einem Jahr fertig mit der Arbeit“, sagt der Mann. „Hat keinen
Spaß mehr gemacht.“ Und dann erzählt er aufgebracht, was schief läuft in
diesem Land: Vor 50 Jahren habe dieser Ort nur aus ein paar Häusern
bestanden. Und jetzt: alles zugebaut.
„Wenn Leute zu dicht aufeinanderhocken, gibt das nur Probleme“, sagt der
Mann, das habe man ja an Corona gesehen. Es gebe schlicht zu viele
Menschen. „Deshalb sollte der Staat nach dem zweiten Kind kein Kindergeld
mehr zahlen.“
Saad hört freundlich lächelnd zu. Dann setzt er, ruhig und mit Bedacht, zu
einer Antwort an. Er erzählt von der Bevölkerungsentwicklung in
Deutschland, vom demografischen Wandel, spricht von Bauverordnungen und
Bürgerentscheiden.
„Ich freue mich, wenn Sie mich unterstützen“, sagt er am Ende.
Der Mann schaut kurz irritiert. Es scheint, als habe ihm länger niemand
interessiert zugehört.
„Schau’n wir mal“, sagt er dann.
1 May 2022
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## AUTOREN
Sascha Lübbe
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