# taz.de -- Geflüchteter will ins Parlament: Es ist auch sein Land | |
> 2014 floh Tarek Saad aus Syrien nach Schleswig-Holstein. Jetzt will er | |
> für die SPD in den Landtag. Kann das klappen? | |
Bild: In seinem Wahlkampf besucht Tarek Saad Anfang April in Bad Segeberg auch … | |
Am Abend eines langen Tages sitzt Tarek Saad im Wohnzimmer eines | |
Bauernhauses und überlegt, aus welchem seiner Leben er am besten erzählt. | |
Es ist kurz nach sieben, draußen ist es kalt, nur eine Handvoll Lichter | |
leuchten in der Dunkelheit. Die Nachbarhäuser des 511-Seelen-Dorfs | |
Gönnebek, tiefstes Schleswig-Holstein. | |
Drinnen wirft eine Stehlampe schummriges Licht in den Raum, ein Akkordeon | |
hängt an der Wand. „Schön habt ihr’s hier“, sagt Saad, 28, ein höflich… | |
Mann von kleiner Statur. Er schenkt sich etwas Kaffee ein. | |
Ihm gegenüber sitzen drei Männer, größer, breiter, mehr als doppelt so alt | |
wie er. Klaus, Werner, Thomas. Die Arme vor der Brust verschränkt. Auf | |
ihren schwarzen Hoodies prangt ein Aufnäher, darauf ein Motorradfahrer und | |
Flammen. Das Emblem ihrer Gruppe, die Flaming-Stars. Ein landesweiter | |
Zusammenschluss von Feuerwehrleuten, die Motorrad fahren und sich sozial | |
engagieren. Saad hatte ihnen eine Mail geschrieben, wollte sie | |
kennenlernen, also lud Klaus ihn zu sich nach Hause ein. | |
„Na dann erzähl mal“, sagt Klaus. | |
## Sein Neuanfang | |
Saad lächelt, stellt die Kaffeetasse ab. „Ich fahre auch Motorrad“, sagt | |
er. „Hab ich im Krieg gelernt. Motorräder sind schneller und wendiger als | |
Autos. Damit kannst du am besten den Kugeln ausweichen.“ | |
Kurz ist es still. Dann erzählt Klaus von den Touren, die sie mit der | |
Gruppe fahren. | |
Saad war schon den ganzen Tag in der Gegend unterwegs, um sich vorzustellen | |
und vorzufühlen, ob er die Menschen für sich gewinnen kann. Er spricht über | |
die Gesundheitsversorgung auf dem Land, den öffentlichen Nahverkehr, den | |
Ausbau der Autobahn. Aber auch über sich selbst, sein Leben in Syrien, die | |
Flucht nach Deutschland, seinen Neuanfang. | |
In der SPD sei ein Wunder geschehen, wird er am Ende des Abends sagen. Nach | |
16 Jahren Merkel stelle man wieder einen Kanzler. „Wenn noch ein Wunder | |
geschieht und ich in den Landtag gewählt werde, möchte ich, dass ihr mich | |
schon kennt.“ | |
Tarek Saad hat sich viel vorgenommen. Wenn Schleswig-Holstein am [1][8. Mai | |
einen neuen Landtag] wählt, will er dort der erste Abgeordnete mit direktem | |
Fluchthintergrund werden. Kein leichtes Unterfangen. Das Bundesland wird | |
seit der letzten Wahl von einer Jamaika-Koalition regiert. Saads Wahlkreis, | |
Segeberg-Ost, eine konservative, ländliche Gegend, wählt seit über 15 | |
Jahren CDU. Und auch die Demografie spricht nicht für ihn. | |
45,6 Jahre beträgt das Durchschnittsalter in Schleswig-Holstein, etwas über | |
dem Bundesdurchschnitt. Der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund | |
ist mit 18 Prozent der niedrigste in Westdeutschland. Ein junger, aus | |
Syrien geflüchteter Mann in einem weißen, alternden Land? Kann das | |
funktionieren? | |
Wer Tarek Saad die Monate vor der Wahl begleitet, ihn auf | |
Parteiveranstaltungen erlebt, neben ihm sitzt, während er mit seinem | |
silbernen Opel Astra durch die weite, dünn besiedelte Landschaft fährt, der | |
erlebt einen Mann, der mit seiner Integrationsgeschichte einerseits für | |
viele ein Vorbild ist. Dessen Kandidatur andererseits aber auch auf | |
Widerstände trifft, auch in der eigenen Partei. | |
Die Geschichte von Tarek Saad ist die Geschichte eines Mannes, der aus dem | |
syrischen Bürgerkrieg nach Deutschland kam und hier in eine Grundsatzfrage | |
hineingeraten ist: Wie viel Diversität verträgt deutsche Politik? | |
Tarek Saad wird 1993 in der Hafenstadt Latakia im Westen Syriens geboren. | |
Er wächst in einem konservativen Elternhaus auf. Der Vater, ein Lehrer, | |
sucht seine Freunde für ihn aus, schreibt ihn ohne sein Wissen für ein | |
Jurastudium ein. Die Mutter ist Hausfrau. Über Politik sprechen sie nicht. | |
Als 2011 der Arabische Frühling in Syrien anbricht, begehrt auch Saad auf. | |
Er sprüht Freiheitsparolen an Häuserwände, demonstriert gegen das Regime. | |
2012 geht er, um nicht in die Armee eingezogen zu werden, in die „befreite | |
Zone“, wie er sie nennt. Ein Landstrich, den nicht Assad, sondern | |
Rebellengruppen kontrollieren. Er filmt ihre Gefechte mit der Armee, | |
verkauft die Aufnahmen unter anderem an al-Dschasira. | |
Er wird angeschossen, schwer verwundet in die Türkei gebracht, flüchtet | |
dann nach Griechenland. Dort findet er einen Schlepper, der ihn für das | |
Geld, das er mit den Videos verdient hat, nach Deutschland bringt. Im Juni | |
2014 kommt Saad mit fünf Euro in der Tasche in der Nähe des Hamburger | |
Hauptbahnhofs an. Die Behörden schicken ihn in die Gemeinde Felde bei Kiel. | |
Die erste Zeit lebt er in einer Notunterkunft, einer Baracke, mitten im | |
Wald. Er freundet sich mit einer Flüchtlingshelferin, Petra Paulsen, an und | |
lernt ihre zwei Söhne kennen. Die Familie führt ihn heran an dieses Land, | |
über das er eingangs nicht mehr weiß, als die meisten Deutschen vor 2015 | |
über Syrien wussten. „Deutschland war für mich nur Mercedes, BMW und | |
Merkel“, sagt Saad. | |
Es wird schnell mehr. Das erste deutsche Wort, das er 2014 lernt, ist: | |
„Moin“. Drei Jahre später beginnt er ein Studium der Politik- und | |
Islamwissenschaft an der Uni Kiel, hält Vorträge in fast akzentfreiem | |
Deutsch. Er wird Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung, Geschäftsführer | |
eines Kulturvereins. 2020 erhält er die deutsche Staatsbürgerschaft. | |
Sein politischer Aufstieg verläuft ähnlich rasant. Petra Paulsen, die | |
Flüchtlingshelferin, ist Vorsitzende des SPD-Ortsvereins. 2015 macht sie | |
Saad mit dem damaligen Ministerpräsidenten Torsten Albig bekannt. Saad | |
liest sich alles zur Partei an, erfährt von Willy Brandt, selbst ein | |
Geflüchteter. Für Saad eine Inspiration. „Ich hatte das Gefühl, in der SPD | |
versteht man mich, wenn ich von Flüchtlingsthemen rede“, sagt er. 2016 | |
tritt er in die Partei ein, 2018 wird er Landesvorsitzender der AG | |
Migration und Vielfalt, im April 2021 Beisitzer im Landesvorstand. | |
Einigen in der SPD geht sein Aufstieg zu schnell. „Zu jung, zu unerfahren, | |
nicht lange genug in Deutschland – das habe ich immer wieder gehört, wenn | |
ich mich auf Posten bewarb“, sagt Saad. Er sehe das aber als „normalen | |
Parteiwettkampf“, als Teil der Demokratie. Die meisten in der Partei, so | |
fühlt es sich für ihn an, stützen ihn auf dem Weg nach oben. „Ich hatte das | |
Gefühl: Es kann immer so weitergehen.“ | |
Am Abend des 29. September 2021 steht Tarek Saad im hell erleuchteten Saal | |
des Bürgerhauses von Trappenkamp, einer 5.000-Einwohner-Gemeinde im Kreis | |
Segeberg. Er wirkt angespannt. Die Wahl des Direktkandidaten steht an, die | |
Entscheidung, wer die SPD im Wahlkreis vertritt. Etwa 30 Genossinnen und | |
Genossen aus den umliegenden Ortsverbänden sind gekommen, die meisten | |
jenseits der 50. Ein Meer aus grauen Köpfen. | |
Sein einziger Gegenkandidat ist ein Mann aus der Region. Jens Kahlsdorf, | |
61, groß, schütteres, graues Haar. Auf seinem Bewerbungsbogen prangt ein | |
Bild, auf dem er sein Jackett jovial im Fingerhaken über der Schulter | |
trägt. Kahlsdorf saß im Wirtschaftsbeirat der IHK, ist Vorsitzender der AG | |
60+ der SPD Segeberg. | |
Er redet ruhig, fast behäbig, manchmal spricht er von sich selbst in der | |
dritten Person. Seine Rede streift die wichtigen Themen der Region: den | |
Ausbau der Autobahn, Krankenversorgung, die Situation in den Schulen. Immer | |
wieder kommt er auf den Business-Club zu sprechen, den er führt, ein | |
Netzwerk von Unternehmern. | |
Saads Rede hingegen ist emotional, manchmal bricht ihm kurz die Stimme weg. | |
Er zielt vor allem auf die Vergangenheit der Menschen, viele von ihnen | |
Nachkommen Vertriebener aus Pommern, Geflüchtete wie er. In seiner Rede | |
fallen die Worte Heimat, Gerechtigkeit, Solidarität. Am Ende entscheiden | |
sich die Genossinnen und Genossen mit deutlicher Mehrheit für Saad, den | |
Newcomer, und gegen Kahlsdorf, den vermeintlichen Mann aus ihren Reihen. | |
Warum? | |
Vielleicht liegt es an Saads politischem Gespür. Er spricht von | |
„Gesellschaftspolitik“, wenn er sich Leuten gegenübersieht, die er mit dem | |
Wort „Migration“ verschrecken würde. Er weiß, dass er jungen Menschen am | |
besten mit konkreten Vorschlägen zu Themen wie Klima- und | |
Wirtschaftspolitik kommt, älteren hingegen am besten von seiner Flucht | |
erzählt. Stellt man ihm auf Podien Fragen, deren Antwort er nicht kennt, | |
sagt er, er schlage das nach. | |
Vielleicht liegt es aber auch an seinem Wissen um Parteistrukturen. Saad | |
hat schnell gelernt, wann er Allianzen schmieden, wann er sich selbst | |
behaupten muss. Er hat Praktika gemacht, ist im politischen Betrieb | |
mitgelaufen. Bei Torsten Albig, Bettina Hagedorn, bei [2][Serpil Midyatli], | |
inzwischen Landesvorsitzende der SPD, für Saad war sie lange Zeit eine | |
wichtige Mentorin. | |
Saad sagt, er mache das alles nach Gefühl. „Wenn man täglich in dieser | |
Partei unterwegs ist, versteht man, wie sie funktioniert.“ | |
Manchmal, wenn man ihn auf Podien reden hört, hat man das Gefühl, er ist zu | |
schnell für diesen Landstrich. Wäre er in einer größeren Stadt nicht besser | |
aufgehoben, in Lübeck, Flensburg oder Kiel? Saad winkt ab. Die | |
innerparteiliche Konkurrenz sei zu groß, dort würde er kein Bein auf den | |
Boden kriegen. Also zog er mit seiner Verlobten – sie stammt aus der Gegend | |
– nach Trappenkamp, ihre Großeltern haben da ein Haus. Saad begann, im | |
Landkreis am örtlichen Leben teilzunehmen. Wurde Mitglied der Freiwilligen | |
Feuerwehr, zweimal im Monat sitzt er jetzt mit älteren Leuten an einem | |
Tisch, um Plattdeutsch zu üben. | |
Menschen, mit denen man über ihn spricht, egal ob Parteimitglieder oder | |
Vorsitzende lokaler Vereine, betonen, dass es ihm wirklich um die Sache | |
geht. Saad setzt sich für den Ausbau von Fahrradwegen und für bessere | |
Schulen ein, sein Kernthema aber ist die Integration. Für die | |
Friedrich-Ebert-Stiftung hat er eine Expertise zur Flüchtlingspolitik des | |
Landes mit erarbeitet. Er fordert das Ende der Abschiebehaft für abgelehnte | |
Asylbewerber, setzt sich für bessere Arbeitsmarktchancen gut integrierter | |
Geflüchteter mit Duldung ein, den sogenannten Spurwechsel. | |
Das politische Engagement als Lebensinhalt. Zugleich, scheint es, ist die | |
aufreibende Arbeit für ihn aber auch eine Art Flucht. | |
Ein Donnerstag, neun Uhr morgens. Tarek Saad sitzt in einem Gasthaus in der | |
Gemeinde Leezen. Die Sonne scheint durch die breite Fensterfront. Er | |
lächelt müde, die Nacht war kurz. Bis 2 Uhr morgens hat er am Computer | |
gesessen, Mails geschrieben. Wenn er könnte, sagt Saad, würde er sieben | |
Tage durcharbeiten. Pause mache er eigentlich nur, wenn seine Verlobte | |
sage, sie bräuchten Zeit für sich als Paar. Er komme einfach schwer zur | |
Ruhe. | |
Wirklich abschalten könne er nur beim Motorradfahren. Wenn er mit seiner | |
Suzuki Gladius 650 über die Landstraßen fegt. Am liebsten mag er die | |
Autobahnauf- und -abfahrten, die Kurven sind steil, man muss sich | |
hundertprozentig konzentrieren. Er kann dann an nichts anderes denken. | |
Nicht an die Partei, nicht an das Studium, nicht an die Vergangenheit. | |
„Je älter ich werde“, sagt Saad, „desto häufiger kommen die Erinnerunge… | |
2011 filmt er mit seiner Kamera, wie Assads Scharfschützen auf | |
Demonstranten schießen. Vor seinen Augen sterben Menschen, 18 Jahre alt ist | |
er da. | |
## Ab da wird alles schwarz | |
Dann, der 6. August 2013, sein 20. Geburtstag. Saad lebt damals bereits in | |
der „befreiten Zone“, filmt Rebellen mit seiner Kamera. Sie sind unterwegs | |
an die vorderste Front. Plötzlich explodieren zwei Granaten vor dem Auto, | |
sie springen raus, suchen Deckung. Der Rest bleibt für ihn lange | |
verschwommen, taucht erst nach Tagen in Form von Flashbacks auf. Eine erste | |
Kugel trifft seine linke Schulter, Saad erinnert sich an das Blut, das | |
seinen Arm herunterläuft. Eine zweite streift seinen Kopf. Ab da wird alles | |
schwarz. | |
Fünf Tage später wacht er in einem Krankenhaus in der Türkei auf. Die | |
Rebellen haben ihn dorthin gebracht. Unterwegs, werden sie ihm später | |
erzählen, musste man ihn wiederbeleben. Fotos zeigen ihn auf einem | |
Krankenbett, mit starrem Blick. „Wäre ich nur drei Zentimeter größer, hät… | |
die zweite Kugel mitten in den Kopf getroffen“, sagt Saad. „Dann wäre ich | |
heute nicht mehr da.“ | |
Es ist eine Erfahrung, die zwischen ihm und den Menschen in seiner Umgebung | |
steht. Saad sagt, er könne oft nicht verstehen, warum sie sich über | |
Kleinigkeiten aufregen. Staus auf dem Weg zur Arbeit, Ärger mit dem Chef. | |
„Luxusprobleme“ nennt er das. | |
Es falle ihm auch schwer, Angehörigen von Verstorbenen sein Mitgefühl | |
auszusprechen. „Ich kann verstehen, dass jemand traurig ist“, sagt er, | |
„aber manchmal kann ich es nicht fühlen. Weil der Tod für mich etwas | |
Normales ist.“ | |
Die Erfahrungen in Syrien hätten ihn abgehärtet, sagt er. Sie hätten ihn | |
aber auch schätzen gelehrt, was er hier hat: das Leben in Sicherheit und in | |
einer Demokratie. Die Möglichkeit, politisch etwas zu bewegen. Er sei | |
stolz, dass er so weit gekommen ist. | |
Die Enttäuschung kommt Ende Januar. Die Parteispitze gibt die Landesliste | |
bekannt, sie hat ihn auf den 27. Platz gesetzt. Über die Liste in den | |
Landtag zu kommen, ist damit so gut wie aussichtslos. | |
## Es muss sich lohnen | |
Saad ist wütend, verletzt. Er sagt, er fühle sich „als Maskottchen für | |
Vielfalt“ benutzt. Er war mindestens von Platz 15 ausgegangen. | |
Er entschließt sich zu einer Kampfkandidatur um Platz sieben. Ein Platz, | |
mit dem man relativ sicher in den Landtag einzieht. „Wenn man es riskiert, | |
muss es sich auch lohnen“, sagt er. | |
Bei seiner Rede auf der Landeswahlkonferenz eine Woche später wirkt er | |
deutlich aufgewühlter als in Trappenkamp. „Ihr seid alles, was ich habe, | |
nachdem ich nichts mehr hatte“, sagt er an die Genossen gewandt. Es ist | |
eine emotionale Rede, fast flehend. Vergeblich. 54 Teilnehmer stimmen für | |
ihn, 137 für den ursprünglichen Kandidaten, der von der Parteispitze | |
vorgesehen war: Marc Timmer, ein 50-jähriger Jurist, der im Bereich | |
erneuerbare Energien gearbeitet hat. | |
Tarek Saad, der Mann aus dem syrischen Bürgerkrieg, der glaubte, in der SPD | |
eine politische Heimat gefunden zu haben, muss einsehen: Die Genossinnen | |
und Genossen entscheiden sich gegen ihn. | |
Verläuft hier die Grenze der Willkommenskultur – der Moment, in dem es um | |
Einfluss geht? | |
Spricht man mit Parteimitgliedern über die Platzierung und die Abstimmung, | |
heißt es, einige in der Partei störten sich an Saads Kampfkandidatur. Er | |
sei zu jung dafür, noch nicht lange genug dabei. Enrico Kreft, Mitglied im | |
Landesvorstand, sagt, er halte Saads Kandidatur zwar für gerechtfertigt, | |
glaube aber, er sei mit Platz sieben zu hoch eingestiegen und habe seine | |
Rede zu sehr auf den Fluchtaspekt abgestellt. „Einige Genossinnen und | |
Genossen hat die Emotionalität seiner Rede vermutlich überfordert.“ | |
## Woher jemand kommt | |
Viele verweisen auf die Erfahrung und thematische Expertise des | |
ursprünglich vorgesehenen Kandidaten. | |
Aber es gibt auch andere Stimmen. Canan Canli vom SPD-Kreisverband Kiel | |
hält eine Fürrede für Saad. Das Ergebnis der Abstimmung habe sie | |
schockiert, wird sie Wochen später in ihrem Haus am Kieler Stadtrand sagen. | |
Vor allem die Eindeutigkeit, mit der die Genossen gegen ihn stimmten. | |
Canli, in Deutschland als Tochter kurdischer Einwanderer aus der Türkei | |
geboren, sagt, Saad sei nicht nur ein Vorbild für Geflüchtete, sondern auch | |
für Menschen mit Migrationshintergrund in der Partei. „Wir haben uns mit | |
ihm identifiziert. Eine Entscheidung für ihn wäre für uns alle ein Zeichen | |
gewesen, dass wir angenommen werden“, sagt sie. „Plötzlich fragt man sich | |
schon: Spielt es doch eine Rolle, woher jemand kommt?“ | |
Es gibt Politiker und Parteienforscher, die sagen, sie beobachten das | |
häufiger: Parteien schmücken sich mit Kandidatinnen und Kandidaten mit | |
Migrationshintergrund, um sich als divers zu präsentieren. Geht es dann | |
aber ans Eingemachte, setzen sie sie auf aussichtslose Listenplätze. Und | |
geben denen den Vorzug, die in Erscheinungsbild und Biografie der Mehrheit | |
entsprechen. | |
Aber gilt das auch hier? An der Spitze der SPD Schleswig-Holstein steht | |
Serpil Midyatli, die erste türkischstämmige Abgeordnete im Landtag. | |
Midyatli sagt, mit der Listenaufstellung werde man niemandem gerecht, außer | |
vielleicht den ersten fünf Plätzen. Man müsse viel berücksichtigen: die | |
Themen, für die jemand steht, das Alter, Geschlecht, die Frage, wie lange | |
jemand in der Partei aktiv ist. | |
Dass Saad auf Platz 27 gelandet ist, habe mit diesen Faktoren zu tun. „Die | |
haben es schwergemacht, ihn weiter oben zu platzieren.“ Eine besondere | |
Rolle dürfte das Thema spielen, für das Saad steht: Migration. In | |
Schleswig-Holstein, zumindest vor dem [3][Ukraine-Krieg], nicht ganz oben | |
auf der Liste. Ein Thema zudem, von dem nicht wenige fürchten, man könnte | |
sich damit die Finger verbrennen, besonders bei der Wahl. | |
Auch Saads Fürsprecherin Canan Canli sagt: „Wir sind in der Opposition. | |
Unser Ziel ist es, auf jeden Fall stärkste Kraft zu werden.“ | |
Sie sagt aber auch: „Es wird gebetsmühlenartig behauptet, mit dem Thema | |
Migration gewinne man keine Wahlen. Aber wer sagt eigentlich, dass das | |
wirklich so ist?“ Saad weiter vorne aufzustellen, meint Canli, wäre ein | |
wichtiger Schritt für die SPD in Schleswig-Holstein gewesen. | |
## Er muss es direkt schaffen | |
Saad selbst klingt seit der Abstimmung verhaltener, wenn er von der | |
deutschen Politik spricht. Aus Sicht der Parteispitze, die eine Wahl | |
gewinnen will, könne er die Entscheidung verstehen. Aus | |
sozialdemokratischer Sicht falle ihm das schwer. „Es geht ja darum, die | |
gesamte Gesellschaft abzubilden.“ Enttäuscht von der Demokratie sei er | |
dennoch nicht. Rückschläge gehörten dazu. | |
Ein Monat später. Tarek Saad lenkt seinen Opel durch eine | |
Einfamilienhaussiedlung südlich von Bad Segeberg, eine Parallelwelt aus | |
rotem Klinker und sauber gestutztem Rasen. Es ist Mittag, die Straßen sind | |
leer. Saad fährt an den Straßenrand, parkt, langt auf die Rückbank, greift | |
sich einen Stapel Flyer. | |
Über die Liste kommt er nicht in den Landtag. Also, hat er entschieden, | |
muss er das Ding direkt holen. | |
Bei der letzten Landtagswahl stimmten rund 20.000 Menschen in seinem | |
Wahlkreis mit der Erststimme für die CDU, 14.000 für die SPD. Die | |
SPD-Wähler will er halten, mindestens 3.000 von den CDU-Wählern auf seine | |
Seite ziehen. Darum ist er hier. | |
Wieder tritt er gegen einen weißen Mann an: Sönke Siebke, Direktkandidat | |
der CDU. 57 Jahre alt, Landwirt. Bürgermeister einer kleinen Gemeinde, in | |
der schon sein Vater Bürgermeister war. | |
Doch Saad ist zuversichtlich, und nicht nur er. „Tarek spricht eine andere | |
Klientel an“, sagt etwa die SPD-Landtagsabgeordnete Katrin Fedrowitz. | |
„Menschen, die nahbare Politiker suchen. Und mit dem Ukraine-Krieg wird | |
auch Migration wieder Thema werden.“ | |
Saad erhält inzwischen vermehrt Anfragen dazu. Er wird zu Podien | |
eingeladen, das Deutsche Rote Kreuz will mit ihm die Unterbringung | |
Geflüchteter diskutieren. | |
Er hat auch die Erstaufnahmeeinrichtung im Wahlkreis besucht. Es ist | |
dieselbe, in der er damals ankam. Jetzt leben geflüchtete Ukrainer dort. | |
„Ein Rollenwechsel“, sagt Saad. Plötzlich fand er sich in der Position | |
eines potenziellen Entscheiders wieder, einer, der Dinge verbessern kann. | |
Etwa die Arbeit der Ehrenamtlichen mehr zu unterstützen. | |
„Die Ukrainer dürfen nicht in eine Parallelgesellschaft rutschen“, sagt | |
Saad. „Sie brauchen Wohnungen und Jobs. Ihre Situation wird uns die | |
nächsten Jahre beschäftigen.“ Die Willkommenskultur, das sagt er auch, sei | |
momentan so groß wie 2015. | |
An rund 50 Türen klingelt Saad an diesem Tag. Eine Frau um die 60 sagt, sie | |
habe schon von ihm gehört. Ihre Nachbarin, gleiches Alter, sagt, toll, dass | |
er kandidiert. Ein Mann um die 50 tritt enthusiastisch vor die Tür. Saad | |
sei der erste Politiker, der persönlich bei ihm vorbeikomme, seine Stimme | |
habe er auf jeden Fall. Doch die drei sind die Ausnahme. Die meisten | |
Menschen bleiben eher reserviert. | |
Nur ein Mann verwickelt ihn in ein längeres Gespräch. Hochgewachsen steht | |
er in seinem Garten, hager, faltiges Gesicht. Eine kleine Schippe in der | |
Hand. | |
„Bin seit einem Jahr fertig mit der Arbeit“, sagt der Mann. „Hat keinen | |
Spaß mehr gemacht.“ Und dann erzählt er aufgebracht, was schief läuft in | |
diesem Land: Vor 50 Jahren habe dieser Ort nur aus ein paar Häusern | |
bestanden. Und jetzt: alles zugebaut. | |
„Wenn Leute zu dicht aufeinanderhocken, gibt das nur Probleme“, sagt der | |
Mann, das habe man ja an Corona gesehen. Es gebe schlicht zu viele | |
Menschen. „Deshalb sollte der Staat nach dem zweiten Kind kein Kindergeld | |
mehr zahlen.“ | |
Saad hört freundlich lächelnd zu. Dann setzt er, ruhig und mit Bedacht, zu | |
einer Antwort an. Er erzählt von der Bevölkerungsentwicklung in | |
Deutschland, vom demografischen Wandel, spricht von Bauverordnungen und | |
Bürgerentscheiden. | |
„Ich freue mich, wenn Sie mich unterstützen“, sagt er am Ende. | |
Der Mann schaut kurz irritiert. Es scheint, als habe ihm länger niemand | |
interessiert zugehört. | |
„Schau’n wir mal“, sagt er dann. | |
1 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Sascha Lübbe | |
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