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# taz.de -- Eine türkisch-deutsche Geschichte: Zeitreise in eine Enklave
> In Hamburg, Köln und Berlin fotografierte Ergun Çağatay
> türkisch-deutsches Leben 1990. Das Museum Europäischer Kulturen zeigt
> jetzt seine Bilder.
Bild: Ergun Çağatay, Mitglieder der Jugendgang „36Boys“ in Berlin-Kreuzbe…
„Weg mit dem rassistisch-sexistischen Ausländergesetz.“ Eine Phalanx von
sieben Frauen trägt ein Banner mit diesem Slogan vor sich her, hinter ihr
strömen Menschen zu einer Demonstration. Wären da nicht die Kleider und
Frisuren, man hielte das Schwarz-Weiß-Foto für eine aktuelle
Protest-Aufnahme.
Aufgenommen hat es Ergun Çağatay am 31. März 1990 in der Rostocker Straße
in Hamburg, St. Georg. Der 1937 in Izmir geborene Fotograf hatte damals
schon eine Karriere als Reporter für das Magazin Time/Life und Associated
Press hinter sich und gehörte zur renommierten Pariser Agentur Gamma,
zusammen mit dem legendären brasilianischen Fotografen [1][Sebastião
Salgado].
Als in Berlin 1989 die Mauer fiel, sah der Fotograf die Gelegenheit
gekommen, eine lange gehegte Idee zu verwirklichen: Ein Projekt über die
zweite Generation von Arbeitsimmigranten aus dem globalen Süden nach
Europa – Deutschland mit seinen vielen Einwanderern schien ihm der ideale
Startpunkt für den Plan.
## Nachtzug von Paris nach Deutschland
Mit einem knappen Budget ausgestattet, setzte sich der damals 53 Jahre alte
Mann im Pariser Gare du Nord in den Nachtzug nach Deutschland. „Das Ziel
bestand darin“, formulierte er später einmal, „die soziale Integration
beziehungsweise Nicht-Integration der zweiten Generation, die in
Einwanderungsländern geboren oder aufgewachsen sind, zu zeigen“. Er wollte
den spannenden historischen Moment für dieses Ziel nutzen.
Die erste Station war Hamburg. In die Demonstration geriet er zufällig,
nachdem er einen Streifzug durch die türkischen Viertel in der Hansestadt
unternommen, Arbeiter in der Blohm-&-Voss-Werft, Wartende in der
Ausländerbehörde oder Händler auf dem Flohmarkt besucht hatte. Der
Ausstellungstitel „Wir sind von hier“ ist die logische Fortentwicklung des
Slogans „Wir leben hier, wir bleiben hier“, den Çağatay auf einem der
Plakate sah.
Seine Reise führte ihn von Hamburg über Köln nach Berlin, den drei Zentren
der türkischstämmigen Community. Einen Abstecher legte er in Werl ein. Die
nordrhein-westfälische Kleinstadt schien ihm einen Besuch wert, weil
ausgerechnet die Stadtväter des multireligiösen Wallfahrtsorts der ein Jahr
zuvor errichteten Fatih-Camii als erster neuerer Moschee in der alten
Bundesrepublik ein Minarett genehmigt hatten. Auf seinem Bild ist der
Vorhof der Moschee noch nicht gepflastert.
## Schlechte Ausstattung für die Feldforschung
Es war der Zeit- und Geldknappheit geschuldet, dass Çağatay seine
fotografische Feldforschung nicht so systematisch und enzyklopädisch
anlegen konnte, wie sein Kollege Salgado es in seinen berühmten, ungefähr
zur selben Zeit entstandenen Fotoserien „Kinder der Migration“ und
„Migranten“ von 2000 gelang. 3.477 Aufnahmen machte Çağatay in knapp zwei
Monaten. Aber es gelang ihm und seiner Agentur später nicht, das Projekt
populär zu vermarkten, geschweige denn auf Europa auszudehnen.
Erst 2004 stieß der [2][Kunsthistoriker Peter Stepan], Kurator der
Ausstellung im Museum Europäischer Kulturen, zufällig auf das vergessene
Konvolut „Almanya 1990“. Die erste öffentliche Ausstellung der Bilder im
Berliner Stadtmuseum 2018 erlebte Çağatay nicht mehr. Zwei Monate vor der
Eröffnung von „Bizim Berlin“ starb er nach einer Herzoperation in Istanbul.
Der Modus von Çağatays Produktion schwankt zwischen Momentaufnahmen wie der
des Kebab-Imbisses „Ankara“ in Hamburg, der Sozialstudie bei den Monteuren
des Ford-Werks in Köln und der intimen Introspektion: Stolz, aber auch ein
bisschen verlegen präsentieren sich Neriman und Nazmi Sezgin in der
Bergarbeiterstadt Duisburg in ihrem rosaroten Schlafzimmer.
Der historische Nullpunkt der Wende findet sich auf Çağatays Fotos nur in
Spuren. In erster Linie bieten die 107 Bilder der überaus sehenswerten
Ausstellung eine faszinierende Momentaufnahme des migrantischen Alltags.
Sie zeigen ein so homogenes wie prekäres Milieu, eine auf sich selbst
bezogene Enklave in der deutschen Mehrheitsgesellschaft.
Heute ist die dritte und vierte Generation längst in diese hineingewachsen:
in Ämtern, Dienstleistung und Kultur. Damals blieben die türkischstämmigen
Migrant:innen noch unter sich wie Festgäste einer Beschneidungsfeier im
Berliner Festsaal „Burcu“.
Mitunter wirken die Bilder wie eine Zeitreise. Wer die fröhliche Familie
Çelik 1990 vor Kisten mit Obst und Gemüse in der Kreuzberger Bergmannstraße
mit dem Gourmet-Bistro „Knofi“ vergleicht, in das sich der Laden heute
verwandelt hat, erahnt nicht nur den Wandel eines Milieus, sondern auch
seine kulturprägende Kraft.
14 Jul 2022
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## AUTOREN
Ingo Arend
## TAGS
Fotografie
Migration
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