| # taz.de -- Beginn der Arbeitsmigration in der BRD: Hoffnung, Schmerz und Stolz | |
| > Die Ausstellung „Vor Ort: Fotogeschichten zur Migration“ in Köln | |
| > erzählt individuelle Geschichten von Arbeitsmigrant*innen in | |
| > Deutschland. | |
| Bild: Ali Kanatlı (vorne rechts) mit Freunden am Aachener Weiher, Köln, 1965,… | |
| Das Foto von Sofia Zacharaki ist vergilbt und abgegriffen: 1971 hat sie | |
| selbst ihre drei Töchter in Griechenland fotografiert, kurz bevor sie ohne | |
| Mann und Töchter nach Deutschland ging, um dort 30 Jahre lang in der | |
| Schokoladenfabrik Leonard Monheim in Aachen zu arbeiten. In den ersten | |
| Jahren wohnte sie mit Kolleginnen im Frauenwohnheim der Fabrik, das Foto | |
| trug sie immer bei sich, und kramte es immer wieder hervor, wenn jemand | |
| fragte: „Hast du keine Kinder?“ | |
| Ein weiteres Foto zeigt zwei ihrer Töchter in auffallend bunten Kleidern. | |
| Diese hatte ihre Mutter in Deutschland gekauft und nach Griechenland | |
| geschickt, die Mädchen posierten darin stolz für ein Bild, das sie der | |
| Mutter nach Deutschland ins Wohnheim schickten. 1977 kam Sofia Zacharakis | |
| Mann nach und arbeitete in einer Aachener Schneiderei, die gemeinsame | |
| jüngste Tochter folgte 1981 nach Deutschland, studierte Germanistik und | |
| Soziologie und ist heute Bürgermeisterin von Solingen. | |
| Das ist nur eine von unzähligen erstaunlichen und berührenden Geschichten, | |
| die in der Kölner Ausstellung über das Leben von Arbeitsmigrant*innen | |
| in Deutschland durch private Fotos aus den Jahren von 1955 bis 1989 erzählt | |
| werden und die durch aktuelle Video-und Audio-Interviews mit | |
| Zeitzeug*innen und Fotograf*innen und eine Fülle weiteren Materials | |
| beglaubigt werden. | |
| Die von Barbara Engelbach und Ela Kaçel kuratierte Schau im Museum Ludwig | |
| schöpft aus dem Material des Kölner [1][Dokumentationszentrums und Museums | |
| über die Migration in Deutschland (DOMiD)] und stellt den Zeitzeugnissen | |
| der Migrant*innen künstlerische Fotos unter anderem von Candida Höfer | |
| und [2][Chargesheimer] gegenüber, sowie Aufnahmen der Bauten der | |
| Wohnungsbaugesellschaft GAG Immobilien AG, in den 1960er Jahren im Auftrag | |
| der Stadt Köln errichtet. Man sieht menschenleere Hochhäuser, die damals | |
| als Wohnheime für die Arbeitsmigrant*innen dienten und in ihrer | |
| modernistischen Architektur für das „neue Köln“ der Nachkriegszeit stande… | |
| ## Das Rotationsprinzip erwies sich als unrealistisch | |
| Die Ausstellung ist in vier Kapitel unterteilt, die chronologisch die | |
| Historie der Arbeitsmigrant*innen nachzeichnen. Sie erzählt zunächst | |
| vom Ankommen der ersten Generation, die eigentlich nur für ein oder zwei | |
| Jahre nach einem Rotationsprinzip in Deutschland arbeiten sollte und daher | |
| nur provisorisch ohne ihre in der Heimat zurückgelassenen Familien in | |
| Wohnheimen und Baracken untergebracht wurde. Da sich das Rotationsprinzip | |
| bereits nach kurzer Zeit als unrealistisch und für die die „Gastarbeiter“ | |
| anwerbenden Unternehmen auch als zu kostspielig erwies, folgte in den | |
| 1970er Jahren der Nachzug der Familien aus Italien, Griechenland und der | |
| Türkei. | |
| Mit dieser gewaltigen Migrationsbewegung ändern sich im zweiten Kapitel | |
| „Strategien der Verortung“ auch die Fotomotive: Waren es zuvor Bilder wie | |
| die von Sofia Zacharaki, die von schmerzhafte Trennungen erzählen, aber | |
| auch vom Stolz, sich in der Fremde zu behaupten, von fröhlich feiernden und | |
| posierenden Männer- und Frauengruppen und vom spartanischen Alltag in den | |
| Wohnheimen und Baracken, so sind es nun Fotos von wieder vereinten Familien | |
| in möblierten, engen Wohnungen und vom Bemühen, in der neuen Heimat | |
| anzukommen. | |
| Die Farbfotos der familiären Sonntagsausflüge ab den späten 1960er Jahren | |
| vor Blumenrabatten und Springbrunnen sind in ihrer brav ausstaffierten | |
| Kniestrumpf-Steifheit von Fotos deutscher Familien jener Zeit nicht zu | |
| unterscheiden: die Kinder im Sonntagsstaat mit demonstrativ präsentiertem | |
| Spielzeug oder Wohlstandsnachweisen wie Kofferradios, die Frauen in | |
| kniekurzen Röcken ohne Kopftücher, die Männer in korrekten Anzügen mit | |
| Krawatte. | |
| Im Kontrast zu diesen Fotos, die überwiegend Optimismus transportieren und | |
| ersten bescheidenen Wohlstand, stehen Dokumentarfotos von Jörg Boström im | |
| Kapitel „Schaffen von Möglichkeitsräumen“, der in Duisburg düstere | |
| Innenhöfe und endzeitliche Industrielandschaften fotografierte, in denen | |
| verloren wirkende Kinder spielen. | |
| ## Etablieren der eigenen Kulturen | |
| Aus den späteren 1970er Jahren sind nun private Fotos zu sehen, die vom | |
| Ringen um Integration, aber auch vom Bewahren und Etablieren der eigenen | |
| Kulturen mit Restaurants, Lebensmittelläden, Kinos, Musikläden und Clubs | |
| erzählen und vom wachsenden Bildungsbemühen. Mit gewohnter Akribie hat | |
| [3][Candida Höfer in ihrer Fotoserie „Türken in Deutschland“] die Läden | |
| mit ihren selbstbewussten Besitzern fotografiert. Das letzte Kapitel | |
| „Geschichten von Selbstermächtigung“ widmet sich schließlich den | |
| Arbeitskämpfen in den 1970er Jahren und thematisiert auch die Kölner | |
| Keupstraße und die rechtsextreme Mordserie des NSU. | |
| Den Anstoß für die Ausstellung gab die Architekturhistorikerin und | |
| Gastkuratorin Ela Kaçel, sie führte die Interviews mit den insgesamt 16 | |
| Protagonistinnen und Protagonisten, die Leihgeber der privaten Aufnahmen | |
| sind. Deren Äußerungen befinden sich auch auf der Rückseite der Fotos, die | |
| von den Besucher*innen der Schau in die Hand genommen werden können. | |
| Die Kölner Ausstellung schließt eine Lücke im kollektiven Gedächtnis und | |
| ist hoffentlich der Beginn einer weiterführenden und vertiefenden | |
| Aufarbeitung und Dokumentation dieses noch so wenig erfassten Kapitels der | |
| jüngeren Geschichte. | |
| 6 Jul 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Regine Müller | |
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