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# taz.de -- Forschungsprojekt zu Arbeitsmigration: „Weißer Schnee und schwar…
> Die Wilhelmshavener Schreibmaschinenfirma Olympia avancierte einst Dank
> griechischer Arbeitsmigranten zum Weltmarktführer. Wie war deren Leben?
Bild: War mal was: eine Schreibmaschine von Olympia
Seit 30 Jahren sind die Werkstore dicht. In den Olympia Werken in
Roffhausen bei Wilhelmshaven wurden an den fast endlosen Produktionsbändern
Büroschreibmaschinen produziert, zeitweise von bis zu 13.000 Menschen –
darunter fast 5.000 Griechinnen und Griechen. Sie stellten hier die größte
und bedeutendste Gruppe von Arbeitsmigranten, einst „Gastarbeiter“ genannt.
Doch wie haben diese „Olympianer“ in Wilhelmshaven gelebt und gearbeitet,
was haben sie in ihrer freien Zeit angestellt? Und wie stand es um ihre
Integration in die nordwestdeutsche „Aufnahmegesellschaft“?
Antworten auf diese Fragen ist die [1][Kulturwissenschaftlerin Maike
Wöhler] auf der Spur: Sie forsche „gegen das Vergessen“, sagt die Bremerin
selbst. Unterstützt von ehemaligen Betriebsräten der Olympia Werke und
gefördert vom Verband „Oldenburger Landschaft“, interviewt Wöhler rund 100
der ehemaligen griechischen Gastarbeiter der ersten und zweiten Generation.
Was sie dabei erfährt – und später in einem Buch veröffentlichen möchte �…
ist erstaunlich. „Die griechischen Arbeitsmigranten verfügten über eine
außergewöhnlich hohe Integrationskraft, ohne ihre eigene kulturelle
Identität aufzugeben“, so beschreibt Wöhler vorab ein wichtiges Ergebnis
ihrer Feldforschung.
Doch der Reihe nach: In den 1960er-Jahren galt Griechenland als das
Armenhaus Europas. Besonders litten die Menschen im infrastrukturell
äußerst schwachen Norden des Landes: Sie arbeiteten in der Landwirtschaft
oder hatten das bis Ende der 1950er-Jahre in der kriselnden Tabakindustrie
getan – nicht selten am Rande des Existenzminimums.
Am anderen Ende Europas boomte die ökonomisch aufstrebende Bundesrepublik
Deutschland. Die zahlreichen neuen Arbeitsplätze konnten mit einheimischem
Personal nicht voll besetzt werden. So begann, formal mit der
Unterzeichnung des Anwerbeabkommens zwischen der BRD und Griechenland am
30. März 1960, die Geschichte der griechischen Gastarbeiter.
Auch die Olympia Werke, zeitweise der – nach VW – zweitgrößte Arbeitgeber
Niedersachsens, suchten in jener Zeit verzweifelt frische, fitte
Arbeitskräfte. Die Firmenleitung schickte sogar eigene Anwerbe-Agenten in
nordgriechische Dörfer und Städte. „Die potentiellen Werktätigen wurden
dann in die Züge gesetzt und fuhren über München bis nach Wilhelmshaven“,
hat Wöhler erfahren.
Unter diesen Anreisenden waren viele Frauen. „Dass Arbeitsmigration in
jenen Jahren männlich war, ist eher ein Mythos“, sagt Wöhler, die auch
schon über [2][griechische Migranten im hessischen Wiesbaden] geforscht
hat.
Zum Ankommen gehörte ein durchaus entwürdigender Gesundheitscheck: Ein
deutscher Olympia-Firmenarzt untersuchte die nackten Anwärterinnen und
Anwärter „auf Herz und Nieren“– dann wurden die Griechen sofort an die
Produktionsbänder gestellt. Eine klassische Einweisung in die zu
erledigende Arbeitseinweisung gab es nicht, auch wegen der Sprachbarriere.
Stattdessen wurden Hinweisschilder in den Heimatsprachen der Gastarbeiter
an den Maschinen befestigt, die den Arbeitsablauf erklären sollten.
„Griechen galten als besonders geschickt“, sagt Wöhler, „aber auch als
‚pflegeleicht‘ und angepasst.“ Zunächst wohnten die griechischen Migrant…
in einfachen Baracken, später teilten sie sich kleine Wohnungen. „Für eine
angemessene Unterkunft muss gesorgt werden“, so stand es in den
Arbeitsverträgen.
Wie arglos und teilweise naiv sich diese Menschen aufmachten, ist
bemerkenswert. Meist landeten sie im Winter am Bahnhof Wilhelmshaven – und
der Schock war groß. „Weißer Schnee und schwarzes Brot. Mehr nicht. Dabei
dachten wir, wir kommen ins Paradies“: Das sagte eine Arbeitsmigrantin im
Rückblick.
Umso wichtiger war offenbar, sich in der kalten zweiten Heimat
festzuhalten: an der eigenen Kultur, der Sprache und Musik, an Familie und
orthodoxer Kirche. „Griechische Kulturpraktiken wie das Feiern der
Namenstage und Familienfeste, die Fastenzeit, das Osterfest und vieles
mehr, wurden nicht aufgegeben“, weiß Wöhler. „Gleichzeitig jedoch legten
die Griechen eine erstaunliche Offenheit gegenüber der Aufnahmegesellschaft
zu Tage.“
Sie engagierten sich im Betriebsrat und im örtlichen Fußballverein. Schnell
entdeckten Neuankömmlinge auch die preiswerten Kurse der Volkshochschulen:
Deutsch zu lernen, galt als Schüssel der Integration. „Ohne Sprache bist du
nichts“, erklärte eine ehemalige Gastarbeiterin Wöhler im Interview.
Üblich war, sehr viel zu arbeiten, oft in Wechselschicht: Die Kinder wurden
am Werkstor von der Mutter an den Vater übergeben, oder umgekehrt, damit
sie nicht unbeaufsichtigt waren. Wer nach der Schicht noch Zeit hatte und
nicht zu müde war, der half gerne auch noch einem Kumpel in dessen Taverne
aus.
Das Mitgebrachte, die kulturelle Identität wurde gewissenhaft auf die
zweite und dritte Generation weitergegeben. Gleichzeitig liefen die aktiven
Anpassungsprozesse an die Aufnahmegesellschaft – sie galten als eine Art
Rüstzeug, um in der Fremde bestehen zu können.
Mit dem Beitritt Griechenlands zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
1973, dem Vorläufer der heutigen EU, endete die organisierte Anwerbezeit.
Bis dahin waren rund eine Million griechischer Gastarbeiter nach
Deutschland eingereist – das entspricht einem Zehntel der griechischen
Bevölkerung. Aus den Arbeitsmigranten der ersten Stunde sind in
Wilhelmshaven und Umgebung längst „Deutsch-Griechen“ geworden. Und in die
ehemaligen Fabrikhallen der Olympia-Werke in Roffhausen bei Wilhelmshaven
ist ein großes Call Center eingezogen.
5 Mar 2021
## LINKS
[1] https://maike-woehler.de/
[2] https://graktuell.gr/index.php/dossier/interviews/1859-die-griechische-arbe…
## AUTOREN
Torsten Haselbauer
## TAGS
Arbeitsmigration
Griechenland
Wilhelmshaven
Nachkriegszeit
Gastarbeiter
Schreibmaschine
Arbeitsmigration
Gastarbeiter
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