# taz.de -- Heimat und Fremde: Gekommen und geblieben | |
> Arbeitsmigration ist ein Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte. Das | |
> Historische Museum Hannover hat sich des Themas angenommen, blickt mit | |
> der Ausstellung "'Gastarbeit' in Hannover" aber auch über die | |
> Stadtgrenzen hinaus. | |
Bild: Große Freude: Die Ankunft in Hannover, undatiert. | |
HANNOVER taz | Narin Altunhan war 17 Jahre alt, als sie ihr Schwiegervater | |
vor eine Lebensentscheidung stellte. "Dorf oder Deutschland", sagte ihr | |
Schwiegervater, der sich um Narin Altunhan kümmerte, weil ihr Ehemann in | |
der Armee diente und unterwegs war. | |
Dorf oder Deutschland. Die dritte Variante wäre gewesen, dass Narin | |
Altunhan in Istanbul geblieben wäre. Das wollte der Stiefvater nicht, denn | |
Istanbul war groß, der Ehemann ja nicht da - und Narin eben erst 17. | |
Also bewarb sie sich für einen Job in Deutschland. Auf die Zusage folgte | |
das standardisierte Prozedere für die sogenannten Gastarbeiter, | |
niedergelegt im Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland: eine | |
medizinische Untersuchung - wer schwanger war, schlechte Zähne hatte oder | |
Operationsnarben, wurde abgelehnt. | |
Die Zugfahrt nach Deutschland, die für die Türken zunächst in München | |
endete. Die nächste Zugfahrt an den Arbeitsort. Stempel, Genehmigungen und | |
Arbeitsverträge. Und die Perspektive, mit Geld in der Tasche irgendwann | |
wieder heimzukehren. | |
Narin Altunhan ist nicht zurückgekehrt, aber sie erinnert sich noch genau | |
an den Tag, an dem sie Istanbul verließ. Es war der 18. Februar 1969. Ihre | |
Mutter gab ihr ein Gebetsheft mit, das sie heute noch hat. Altunhan hat es | |
dem Historischen Museum Hannover zur Verfügung gestellt für die Ausstellung | |
",Gastarbeit' in Hannover". | |
Das Heft liegt nun in einer Vitrine im ersten Raum der Ausstellung - neben | |
einem Behördenschreibtisch aus den 1960er Jahren und Schwarz-Weiß-Fotos, | |
die Menschen auf überfüllten Bahnsteigen zeigen. | |
Ähnlich wie die Dauerausstellung in der "Ballinstadt Auswandererwelt" in | |
Hamburg transportiert die hannoversche Ausstellung ihr Thema über | |
Einzelschicksale. | |
Anhand von Originalexponaten geht es durch die Geschichte der Einwanderung, | |
und das weitgehend chronologisch: Auf den Aufbruch folgt die Ankunft, dann | |
der Arbeitsalltag in Deutschland, das Leben mit und neben den Deutschen, | |
die Besuche in der Heimat, die politische Auseinandersetzung um die | |
Menschen, die im Zuge der Anwerbeabkommen gekommen und geblieben sind. | |
Viele waren es, im Verhältnis gesehen, nicht: Von 14 Millionen | |
ausländischen Arbeitskräften, die in der Zeit von 1955 bis 1973 in die | |
Bundesrepublik kamen, gingen elf Millionen wieder zurück. Das ist eines der | |
Dinge, die man in der Ausstellung lernen kann. | |
Das wichtigste Statement aber steht nicht auf einer der Informationstafeln. | |
Das wichtigste Statement ist, dass es diese Ausstellung in diesem Museum | |
gibt: Der Zuzug der Arbeitsmigranten gehört ebenso wie Welfenkutschen und | |
Hanomag-Oldtimer zur hannoverschen Stadtgeschichte. | |
Eigentlich ein auf der Hand liegender Gedanke. Ihm auf diese Art und Weise | |
Raum zu geben, passiert trotzdem nicht alle Tage. | |
Bei allen stadtgeschichtlichen Bezügen ist die Ausstellung klug genug, die | |
Arbeitsmigration nicht als regionales Phänomen zu verkaufen, sondern als | |
Teil der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. | |
In Hannover waren es Betriebe wie Bahlsen, Telefunken, Hanomag oder | |
Continental, die ausländische Arbeitskräfte anwarben. In Hamburg waren es | |
Kühne oder Blohm + Voss. In Wolfsburg war es VW. In Bremen waren es die AG | |
Weser oder der Bremer Vulkan. | |
In Hannover hat heute rund ein Viertel der Bevölkerung einen | |
Migrationshintergrund, in Bremen und Hamburg sind es jeweils rund 28 | |
Prozent. Der Bundesdurchschnitt liegt bei rund 18 Prozent. Ihre Wurzeln | |
liegen oft bei den sogenannten Gastarbeitern, für die es immer noch keine | |
bessere Bezeichnung gibt - weshalb das Museum das Wort auch im | |
Ausstellungstitel in Anführungszeichen setzt. | |
Und weshalb in der Ausstellung Alternativen auch zum euphemistischen | |
"Gastarbeiter" aufgelistet sind: "Arbeitsmigranten" sagen etwa die | |
Soziologen. Es kursieren aber auch die Begriffe "Bedarfsarbeiter", | |
"Euroboter", "Bundesaufbaubürger" oder "Hilfsdeutsche". | |
Das Problem der Fremdenfeindlichkeit taucht in der Ausstellung nur am Rande | |
auf. Unkommentiert beispielsweise, wie in einer Dokumentation des | |
österreichischen Fernsehens, die aus den 1980er Jahren stammen dürfte. | |
Darin geht es um die Gefahren einer VW-Bus-Reise von Hannover nach | |
Istanbul. "80 Prozent der Gastarbeiter sind zehn Stunden oder mehr ohne | |
Pause unterwegs", sagt der Reporter. "Nicht selten sind Katastrophen die | |
Folgen dieses Leichtsinns." Und: "Der orientalische Gleichmut hilft dem | |
Fahrer, die Angst zu überwinden." | |
Auch gibt es ein DVU-Flugblatt aus dem Jahr 1989, und auf einer der Tafeln | |
ist vom Vertreibungsklima im Zuge des Rückkehrförderungsgesetzes von 1983 | |
die Rede. Zum Thema Fremdenfeindlichkeit war das alles. | |
Reich ist die Ausstellung dafür an ganz unmittelbaren Geschichten aus dem | |
Leben der Betroffenen: Die Spanierin Ana Maria Perez del Rio zum Beispiel | |
gibt zu Protokoll, dass sie das Essen in Deutschland immer seltsam gefunden | |
habe: "Wir haben immer viel Farbe in das Essen getan. Und hier war das | |
ganze Essen braun." Und die Türkin Lütfiye stellt die Frage: "Was ist denn | |
das für ein Leben hier? Wie Roboter, den ganzen Tag nur arbeiten, im Kopf | |
nur Arbeit …" | |
Die Einwanderer der ersten Generation sind heute Rentner und laut einer | |
Untersuchung der Technischen Universität Dortmund gesundheitlich im | |
Allgemeinen in schlechterer Verfassung als gleichaltrige Deutsche. | |
Ihre Enkel prägen dagegen die aufwachsende Generation insbesondere in den | |
Großstädten: In Hamburg beispielsweise haben 43 Prozent der | |
Unter-15-Jährigen einen Migrationshintergrund. | |
Bundeskanzlerin Angel Merkel (CDU) sagte vor dem Integrationsgipfel im | |
vergangenen November, Deutschland sei "nur zwischen den fünfziger Jahren | |
und 1973" ein Einwanderungsland gewesen - heute aber nicht mehr. | |
bis 27. März, Historisches Museum Hannover | |
18 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Klaus Irler | |
Klaus Irler | |
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Arbeitsmigration | |
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