# taz.de -- Fotobuch zum „Dschungel von Calais“: Ein stillstehender Transit | |
> Der französische Fotograf Bruno Serralongue besuchte die Menschen, die im | |
> „Dschungel von Calais“ ausharrten. Daraus ist ein Buch entstanden. | |
Bild: Ausschnitt aus einer Fotografie von Bruno Serralongue, aus dem besprochen… | |
Mit „Folkestone to Calais in 35 Minutes. Book Now!“ wirbt die Fähre. In die | |
umgekehrte Richtung, über den Ärmelkanal hinüber nach Großbritannien, | |
würden die in Calais gestrandeten Geflüchteten zu gerne ein Ticket buchen. | |
Doch sie müssten als blinder Passagier auf Lkws oder Güterzüge aufspringen | |
oder gar zu Fuß den Euro-Tunnel durchqueren. | |
Für viele dauert das Warten auf die richtige Gelegenheit zum Übersetzen | |
Jahre, wenn sie sich denn überhaupt ergibt. Der in Paris lebende | |
Bewegungsfotograf Bruno Serralongue hat über Jahre die unfreiwillig an | |
Frankreichs Nordküste Campierenden besucht. | |
Seine Aufnahmen mit einer altmodisch anmutenden Großformat-Kamera zeigen | |
strittige Landschaften. Der Hafen von Calais ist eine Verfallskulisse, doch | |
zeugen Lkw-Kolonnen vom globalisierten Warenverkehr. Im Buschwerk versteckt | |
liegen die einfachen Bretterbuden der hier Gestrandeten, in die Nischen | |
gedrückt, nachdem schon mehrfach die Bulldozer gekommen waren. | |
Was in Frankreichs Medien als „Jungle“ bezeichnet wird, ist eine | |
Elendssiedlung in einem wohlhabenden europäischen Land. Hier lebten bis | |
2016 Menschen, die keine Residenz haben sollen. | |
Serralongues hinter Plexiglas gefasste Abzüge dieser Aufnahmen wandern über | |
Kunstmessen und durch Museen. Seine Bilder vom „Jungle“ sind panoramische | |
Anschauungen eines Ortes, der von der europäischen Öffentlichkeit ungewollt | |
und gleichsam für ihren Umgang mit Flucht und Migration bezeichnend ist. | |
Nur manchmal bricht er aus der Übersicht aus und zeigt gehäufte Aufnahmen | |
von einer öffentlichen Anhörung der Geflüchteten oder Totalräumung des | |
Lagers. | |
## Alltag suchen im Warten | |
Der Kurator Florian Ebner untersuchte 2019 in einer Ausstellung für das | |
Centre Pompidou die digitale Medienproduktion zu dieser „Krise von Calais“, | |
unter anderem mit den Bildern von Bruno Serralongue. Jetzt sind | |
Serralongues Fotografien zu dem großformatigen Buch „Calais. Testimonies | |
from the ‚Jungle‘“ zusammengefasst. | |
Die Publikation schaut empathisch auf Menschen, die im Zustand eines | |
stillstehenden Transits Normalität und Alltag suchen. Zumindest | |
vorübergehend sind die Bretterbuden in den Dünen ihr eigen. Dieses Ringen | |
um einen temporären Restplatz in dem regelrechten „bidonville d’État“ | |
(staatlicher Slum), wie das Lager von Calais auch in den französischen | |
Medien bezeichnet wird, kann als exemplarisch für die Situation vieler | |
Flüchtender gesehen werden, die an den Rändern Europas ausharren müssen. | |
Der für [1][seine politische Philosophie und Ästhetik bekannte Jacques | |
Rancière] bezeichnet in einem einleitenden Essay des Buches Serralongues | |
Bewohner des Dschungels als „Fantômes de Calais“. Sie „sind […] dazu d… | |
ungesehen zu passieren“. Diese Gespenster, so könnte man mit Blick in die | |
Kunstgeschichte sagen, sind keine souveränen „Bürger von Calais“, wie | |
[2][Bildhauer Auguste Rodin] das bekannte künstlerische Motiv jener | |
angesehenen Stadtbürger, die während des Hundertjährigen Krieges freiwillig | |
als Geiseln vor den englischen König traten, vielfach in Bronze gießen | |
ließ. Sie sind Staaten-, Orts- und Rechtlose. | |
Fotografie war immer schon ein Medium, um das Gewesene, jedoch physisch | |
Abwesende einzufangen. Hiermit markiert Rancière auch Dilemma und Stärke | |
der künstlerischen Gattung Fotografie – als „negative Form des Zeugnisses�… | |
In zwei Phasen suchte Bruno Serralongue das Lager auf. Zunächst von 2006 | |
bis 2008, als sich infolge der Schließung eines Rot-Kreuz-Camps bereits | |
illegale Siedlungen entwickelt hatten. Und schließlich während der | |
sogenannten Flüchtlingskrise in Europa 2015 bis zur Räumung des Lagers | |
2016. I | |
m Buch zeugen nun zwei Serien mit je 80 Aufnahmen vor allem vom elenden | |
Warten der Menschen. Das zähe Ausharren-Müssen wird an den alltäglichen | |
Objekten sichtbar, an einer leeren Lidl-Tüte am Zaun, an den zwei Zitronen, | |
die am Gitter eines improvisierten Verkaufsverschlags hängen. Läden, | |
Moscheen und Ladestationen zeigen auch: Während sie warten, haben die | |
Migranten ein globales Dorf geschaffen. Auf den späteren Aufnahmen deuten | |
erstrittene Wasserstellen, Gärten und kleine Hausstrukturen an, wie sich | |
das Leben hier noch mehr verfestigt hat. | |
Und zugleich sind die staatlichen Zeichen der Abgrenzung vernehmbar. | |
Abstellgleise führen Richtung England, wie im Mittelalter sollen | |
Wassergräben oder planierte Areale den Zugang zum Euro-Tunnel erschweren. | |
Ein „Pfad in der Dämmerung“, so auch der Titel einer Abbildung vom Juli | |
2006, schlängelt sich in fahler Schönheit zu den Hütten aus und im Müll. | |
Bruno Serralongue verwendet für seine erste Serie den Begriff des | |
„Lagerfeuers“: Eine Wärmequelle, aber auch Ausbruch eines Feuersturms. | |
8 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Jochen Becker | |
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