# taz.de -- Ausstellung von Nadira Husain: Opulenz und Zartheit | |
> Warum nicht mal eine positive Utopie postmigrantischer Lebenswelten? | |
> Nadira Husains überbordende Bilder sind in Darmstadt zu sehen. | |
Bild: Zeichen formieren sich immer wieder neu: Die Künstlerin Nadira Husain vo… | |
Fast könnte man sich in einem fabelhaften Einrichtungshaus wähnen, derart, | |
wie es das kaum mehr gibt und so vielleicht auch niemals gegeben hat. Einem | |
Ort, an dem Stoffe, Farben und Muster verführerisch illuminiert vom guten | |
Leben zeugten, das natürlich mehr sein musste, als man sich hier | |
tatsächlich erkaufen konnte. Wo das ausgestellte Mobiliar vor allem ein | |
Wohnvorschlag blieb, der ungeahnte Freiheiten und Fantasien beflügeln | |
konnte, Inspirationsquelle für eigene Vorhaben. | |
Die schlechteste Assoziation wäre dies tatsächlich nicht. „Manzil Monde“ | |
nennt Nadira Husain ihre aktuelle Ausstellung in der [1][Darmstädter | |
Künstlerkolonie Mathildenhöhe.] Eine franko-arabische Wortkombination, die | |
sich etwa als „Wohnwelt“ verstehen ließe. Allerdings ist Wohnen bekanntlich | |
eng verknüpft mit dem Leben, so ist es auch mit diesen Wörtern. „Manzil“ | |
wird sowohl im Arabischen als auch in Urdu mit „Wohnen“ oder auch „Zuhaus… | |
übersetzt. | |
Damit setzt die Künstlerin, die 1980 als Kind einer französischen Mutter | |
und eines indischen Vaters in Frankreich geboren wurde und heute unter | |
anderem in Berlin lebt, selbst den Grundton für eine Schau an diesem | |
historischen Ort, an dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Reformierung | |
des Lebensalltags erprobt wurde. | |
Die Bildhauerateliers des Darmstädter Weltkulturerbes bringt Nadira Husain | |
visuell zum Überborden. Schon im Flur zum Ausstellungsraum umwerben | |
Mäusehorden, akrobatische Elefanten, Fabelwesen aus Mensch und Tier, Tier | |
und Schlumpf in schwarzen Umrissen die Aufmerksamkeit ihres Publikums. | |
Dazwischen eine ältere Dame, die sich ein Wassereis in den Mund schiebt, | |
rauchende Babys, Liebespaare, unbekannte Gottheiten in einem comichaften | |
Niemandsland, in dem bloß die dann und wann aufkreuzenden Schriftzüge eine | |
merkwürdig universelle Orientierung stiften – UHU, heißt es dort in der | |
berühmten Typologie des Hobbyklebstoffs zum Beispiel. Fühlt man sich jetzt | |
nicht umgehend heimisch? | |
Hinter der Tür wartet die Fortführung in Farbe. Prächtig gemusterte Stoffe | |
in allen Dessins schimmern hier um die Wette, sie liegen über einem großen | |
Sitzobjekt drapiert und hängen in mannigfaltigen Kombinationen an der | |
Wand, wo sie aus zahlreichen Einzelelementen zusammengenäht mal opulentes | |
Wimmelbild, mal Form- und Materialstudie nachzuahmen scheinen. Manche | |
Stoffarbeiten ragen bis auf den gelbgoldenen Teppich, der den gesamten Raum | |
in Heiterkeit taucht. | |
## Monoblocs im Herzstück der Schau | |
Eine Etage weiter oben kann man schließlich die Wohnkunst von den | |
Koloniegründern Peter Behrens, Joseph Maria Olbrich und Co sehen, die | |
seinerzeit in die Welt geschickt wurde. Auf große Schauen in Italien, | |
Düsseldorf oder gar im amerikanischen St. Louis, gerichtet an ein bewusst | |
internationales Publikum, die engen Grenzen des regional-kulturellen | |
Geschmacks schienen restlos überholt. Neben großem Mobiliar gehörten hier | |
Wohnaccessoires, aber auch Fliesen und Stoffe selbstverständlich zum | |
Gesamtkunstwerk; Letztere nehmen wiederum auch in Husains Arbeiten eine | |
zentrale Position ein. | |
Oben also Raumkunst und unten auch, nur in einer ganz eigenen Neuauflage. | |
Die Treppe weiter hinab geht es ins Herzstück der Schau, wo neben | |
Wandarbeiten weitere Objekte mit Wohnbezug zu finden sind. [2][Wie die | |
Monoblocs,] für gewöhnlich schmucklose, aber weltweit beliebte weiße | |
Plastikstühle, die es schon zu einer eigenen Ausstellung im Vitra Design | |
Museum gebracht haben. Nadira Husain hat dem globalen Billigsitz-Klassiker | |
ein Kleid aus Sprayfarbe verpasst und eigens entworfene Sticker | |
draufgeklebt, die an Touristensouvenirs erinnern und das „GLOBAL“ sogar | |
wörtlich formulieren. | |
Geteilt wird der Raum durch mehrere transparente Vorhänge, auf die | |
Fotografien heimischer Interieurs gedruckt sind. Katzen liegen dort auf | |
einer Vitrine herum, in der eine historische Rüstung steht; an der Wand das | |
Bild einer älteren Frau, womöglich die Großmutter der Künstlerin. Doch will | |
man genauer hinschauen, gerät das Motiv schon aus dem Fokus: Man benötigt | |
den richtigen Abstand, um die halbtransparenten Szenerien lesen zu können. | |
## Alles durchdringt sich | |
Stoffe spielen eine zentrale Rolle in Husains Arbeit. Merkwürdig genug, | |
dies zu erwähnen, auch der Malgrund einer Leinwand besteht ja in aller | |
Regel aus Stoff. Husains Materialien aber sind nicht Untergrund, sie nehmen | |
eine ebenbürtige Position ein. Denn ihre Bilder kennen keinen strengen | |
räumlichen Vorder- oder Hintergrund. Motive werden auf Stoffe gemalt oder | |
gezeichnet und wiederum auf andere Stoffe aufgenäht. | |
Bei aller farbenprächtigen Opulenz bewahren sich Husains Arbeiten zudem | |
eine ausgesprochene Zartheit. Man könnte es auf die Gleichzeitigkeit ihrer | |
Motive und die oftmals transparenten Materialien schieben: Alles kann sich | |
überlagern oder gegenseitig durchdringen. | |
Nicht immer tut es das (mal dominieren die einen und mal die anderen | |
Elemente, deutsche Brezeln scheinen immer Trumpf). Aber oft eben doch. Die | |
Künstlerin gibt nicht vor, welche Ebene von höherer Bedeutung ist. | |
Gleichzeitig bleiben die einzelnen Objekte, Menschen und Tiere klar | |
umrissen. | |
## Mikro- und Makrokosmos | |
Die Zeichen lösen sich nicht auf, sondern formieren sich in | |
unterschiedlichen Kontexten lediglich neu. Wie eine zur Abwechslung mal | |
ganz und gar positive Utopie postmigrantischer Lebenswelten, in der Mikro- | |
und Makrokosmos, Europa und Asien, Vergangenheit und Gegenwart, die eigene | |
Person und die Menschen rund um die Künstlerin sich zu einer konsum- und | |
popkulturell durchwirkten, keineswegs widerspruchsfreien Bildmythologie | |
formieren. | |
Ein schöner Bastard eben. So nennt die Künstlerin sich und ihre | |
Arbeitsweise jedenfalls selbst, „bâtarde“. Ein Neologismus, die weibliche | |
Form des Bastards – und eine schmunzelnde Namensabwandlung der | |
tschechischen Schuhmarke Bat’a, deren schwungvolle Logo-Schriftzüge Husain | |
gerne auch für ihr bâtarde heranzieht. | |
Ausgedachte Realitäten gehören für Husain, neben dem ohnehin reichen | |
Formen- und Zeichenschatz ihrer transkulturellen und ja keinesfalls | |
abgeschlossenen Biografie, dazu. Ihre Menschenwesen haben so zum Beispiel | |
oft blaue Haut, wie Kali, die indische Göttin und feministische | |
Symbolfigur. Auch furries, die Fellanzug tragenden Anhänger:innen der | |
gleichnamigen Subkultur, finden Einzug in die Bilder der Künstlerin. | |
## Wir sind an der Oberfläche | |
Um die korrekte Interpretation muss man sich in dieser Schau allerdings | |
nicht sorgen. Wo es keinen Anfang und kein Ende gibt, ist die Suche nach | |
einer Chronologie müßig. Eher schon regt Husains Kunst an, Schnittstellen | |
und eigene Bildmythologien aufzutun. Da schließt sich der Kreis zu den | |
Wohnausstellungen um die Jahrhundertwende, die von neuen Lebensentwürfen | |
und – Utopien handelten. | |
Schaut, rufen Nadira Husains Zeichen und Ornamente, die allerdings nicht | |
für schablonenhafte Unfreiheit stehen wollen, sondern gerade die Freiheit | |
des Ausdrucks vom Bildraum behaupten: Wir sind an der Oberfläche. Grabt | |
nicht immer tiefer, auf der Suche nach dem Eigentlichen (der berühmten | |
Eigentlichkeit?). Beschäftigt euch ruhig mit dem, was vor euch steht. | |
Anzuschauen gibt es mehr als reichlich. | |
1 Jul 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Eine-Reise-durch-Darmstadt/!5219296 | |
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## AUTOREN | |
Katharina J. Cichosch | |
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derzeit die feministische Kunst von Nadira Husain und Zoë Claire Miller. |