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# taz.de -- Theorie aus Frankreich: Chefs sind eher hinderlich
> Vom jungen Marx lernen: Der französische Philosoph Jacques Rancière
> sprach in Berlin darüber, wie die Kunst der Politik vorausgeht.
Bild: Jacques Rancière und der Verleger Peter Engelmann.
Die 1990er Jahre waren die Zeit der Erklärungen vom großen Ende. Alles
sollte auf einmal zu Ende zu sein: die Utopien, die Moderne und die
Postmoderne auch noch. In Wirklichkeit machten aber alle weiter, und es
ging auch alles weiter.
Und diese zumindest in der Öffentlichkeit und ihren Medien kaum beachtete
Kluft zwischen den Worten und dem wirklichen Geschehen habe ihn in die
Auseinandersetzung mit der Kunst und zur Formulierung seiner ästhetischen
Theorie getrieben, sagte der Philosoph Jacques Rancière am vergangenen
Dienstag im ausverkauften Berliner Theater Hebbel am Ufer, kurz HAU
genannt.
Das Gespräch, das der Verleger Peter Engelmann mit Rancière führte, war der
Auftakt einer Reihe, die Engelmann mit Autoren seines Passagen-Verlags aus
Anlass von dessen 25-jährigem Jubiläum führen wird. Das Gespräch war aber
mehr als nur ein Gespräch. In Anwendung der Rancière’schen Methoden zur
Bestimmung einer konkreten Neuheit in der Kunst wird es einst auch als ein
Akt begriffen werden können, der zeigte, warum die Zeitungen in der Krise
stecken und von selbst gegenwärtig da auch nicht herauskommen.
Denn ebenso wie bei Vorträgen von Alain Badiou, Slavoj Zizek und Giorgio
Agamben sitzen auch bei Rancière genau jene jungen, hellwachen Leute im
Publikum, denen die Feuilletons vergeblich hinterherlaufen. Und das hat
auch einen einfachen Grund, der sehr viel mit den Praktiken der Kunst seit
etwa 250 Jahren zu tun hat. Die Zeitungen schaffen es einfach nicht, auf
die der Kunst immanenten Deterritorialsierungstendenzen adäquat zu
reagieren.
Kein Mensch ist heute mehr auf die Meinung eines seine Ressorthoheit im
Stil eines Provinzfürsten verteidigenden Theaterkritikerzampanos
angewiesen, und das liegt nicht nur am Internet. Es hat auch mit den
Kunstbiennalen der Welt, mit Theatern wie dem HAU und Theoretikern wie
Badiou, Zizek und Rancière zu tun.
## Ohne Bürgerschreck-Attitüde
Rancière ist nämlich der Historiker und Theoretiker und die Verkörperung
der Deterritorialisierung, also der Auflösung der Kompetenzzentren in Kunst
und Leben überhaupt. Wobei Rancière – und das unterscheidet ihn von Zizek
und Badiou – die Attitüde des politischen Bürgerschrecks vermeidet. Worte
wie Kommunismus, Lenin oder Stalin kamen den ganzen Abend nicht vor, und
angesprochen auf sein Engagement im Pariser Mai 1968, gab er die kürzeste,
prägnanteste Zusammenfassung der Schönheit dieser Tage. „Warum gibt es
Chefs?“, sei die Frage der Zeit gewesen, wozu braucht man die und sind die
überhaupt zu etwas gut oder vielmehr nicht einfach hinderlich?
Gute Frage, denkt man unwillkürlich und folgt Rancière bereitwillig auf
seinem Weg weg von der Politik in das Feld von Kunst und Ästhetik. Die
Kämpfe in der Arbeitswelt seien heute rein defensiv, sagt er und meint
damit, dass es aktuell darum geht, Arbeitsplätze mit Chef zu erhalten,
anstatt die Arbeit selbst zu verändern, wie es zum Beispiel der junge Marx
noch gewollt habe.
Währenddessen stand die zentrale These des Abends groß hinter den Redenden
an der Wand. „Die gesellschaftliche Revolution ist eine Tochter der
ästhetischen Revolution“, lautet sie und stammt aus seinem gerade auf
Deutsch erschienenem Hauptwerk „Aisthesis“. Das Buch zeigt an vierzehn
Szenen aus der Geschichte von Büchern, Vorlesungen, Theateraufführungen und
Diskussionen aus der Zeit von 1764 bis 1941, wie die Kunst zu einer eigenen
Welt wurde, die durch ihre Erfindungen von Formen und Figuren immer wieder
in die „politische Welt“ eingriff.
Die Kritik des jungen Marx an der Arbeitswelt sei wesentlich durch die
sinnlichen Revolutionen, wie sie Winckelmann, Kant und Schiller vorbereitet
hätten, beeinflusst gewesen, sagt Rancière. Und heute, da sich die Politik
komplett aus dem Feld der sinnlichen Neuorganisation der Arbeit
zurückgezogen habe, dringe die Kunst in dieses Feld.
## Container statt immaterielle Arbeit
Es sei ein Künstler wie Allan Sekula, der gezeigt habe, dass die moderne,
globalisierte Wirtschaft auf dem Transport von Waren durch und in
Containern beruhe und nicht auf immaterieller Arbeit, wie die Propheten des
Internets behaupten. Und dank Künstlern wie Christopf Schlingensief ist die
Erkenntnis, dass zu diesen Waren auch Menschen gehören, bis in den „Tatort“
vorgedrungen.
In diesem Sinn werden die Dinge der Politik nach Rancière heute in der
Kunst verhandelt. Denn Politik hat für Rancière wenig bis nichts mit
Wahlen, Gesetzen und Regierung zu tun, sondern mit dem Anteil am Leben, den
die Menschen in ihrer Gesamtheit erreichen können und nicht nur die Chefs
und ihre Vasallen.
20 Nov 2013
## AUTOREN
Cord Riechelmann
## TAGS
Theorie
Buch
Schwerpunkt Frankreich
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