| # taz.de -- Untergangsstimmung in Frankreich: Der Blues der Bleus | |
| > „Rien ne va plus“, denken viele Franzosen, ob im Fußball oder in der | |
| > Politik. Der Nationalstolz ist die Kehrseite der Angst vor dem | |
| > Niedergang. | |
| Bild: Am Ende haben sie es doch geschafft: Die französische Mannschaft hat sic… | |
| PARIS taz | Natürlich glaubte fast keiner der französischen Fußballfans vor | |
| dem Anpfiff ernsthaft daran, dass sich ihr Nationalteam nach der peinlichen | |
| Auswärtsniederlage gegen die Ukraine noch für die Weltmeisterschaft | |
| qualifizieren werde. Die Mode war ohnehin seit Wochen und Monaten, über die | |
| Nationalspieler zu schnöden, den Trainer Didier Deschamps zum Teufel zu | |
| wünschen und überhaupt Trübsal zu blasen und mit dem Schicksal der Nation | |
| zu hadern. | |
| Der Refrain des Klagelieds hätten lauten können „Rien ne va plus“, derma�… | |
| waren die Franzosen überzeugt, dass derzeit nun wirklich gar nichts mehr | |
| geht und klappt. Nicht nur im Fußball, sondern ganz generell. | |
| Nach dem dritten Tor, das den Bleus so unverhofft die Qualifizierung für | |
| die Weltmeisterschaft in Brasilien brachte, war dieser Pessimismus | |
| verflogen, der Blues und der Defätismus machte patriotischen | |
| Freudengesängen und Komplimenten für Deschamps und seine Helden Platz. | |
| Staatspräsident François Hollande hatte Gespür bewiesen, indem er im | |
| Stadion auf der VIP-Tribüne Platz nahm. Solche Siege sind derzeit selten. | |
| Er hoffte wohl, dass seine Landsleute einen Vergleich mit der bei ihnen | |
| höchst unpopulären Staatsführung ziehen: „Man sagte von dieser Mannschaft, | |
| sie werde es nie schaffen, denn oder weil… Aber sie hat es doch geschafft. | |
| Das soll uns ein Beispiel sein: Wenn man gewinnen will, muss man daran | |
| glauben.“ | |
| An Hollande nämlich glauben in Frankreich nicht mehr viele. So tief wie er | |
| ist seit dem Bestehen von Popularitätsumfragen noch kein französischer | |
| Staatschef gesunken. Das öffentliche Beschimpfen des Präsidenten ist in den | |
| französischen und europäischen Medien seit Monaten en vogue. Viele Wähler | |
| haben das Gefühl, man habe ihnen 2012 als Ersatz für den abgewählten | |
| Nicolas Sarkozy eine Art Mogelpackung untergejubelt. | |
| ## Frankreich stirbt | |
| Da alle Warnlichter der Konjunkturexperten blinken, wirkt der Staatschef | |
| mehr naiv als kühn mit seiner Ankündigung, Frankreich werde die | |
| Tendenzwende schaffen, seine Finanzen in Ordnung bringen und dennoch die | |
| Arbeitslosigkeit senken. Wenn Angela Merkel ihren französischen Partner | |
| trifft, unterlässt sie es angeblich nie, ihn zu einem beschleunigten | |
| Reformtempo zu mahnen. Auch die EU-Kommission macht sich Sorgen, weil | |
| Frankreichs Spielraum so gering sei. | |
| Es wäre indes nicht nötig gewesen, den Franzosen zu sagen, wie prekär ihre | |
| Lage und wie schlecht ihre Stimmung sei. Das ist ohnehin ein Dauerzustand. | |
| Seit Jahr und Tag haben sie den Eindruck, dass es mit Frankreich bergab | |
| geht. Nichts hält sich hartnäckiger in der politischen, wirtschaftlichen | |
| und kulturellen Debatte als dieser déclin (Niedergang). Da steckt viel | |
| erzreaktionäre Nostalgie drin: Natürlich hat Frankreich seit dem Verlust | |
| seiner Kolonien weniger Einfluss und braucht heute den Rückhalt der | |
| EU-Partner, um gelegentlich noch eine Großmachtrolle zu spielen – wie | |
| früher. | |
| Die extreme Rechte instrumentalisiert dieses Ohnmachtsgefühl als Argument | |
| gegen Immigration und Multikulturalismus. Die Liberalen, die in Frankreich | |
| nur verdeckt auftreten, warnen vor dem déclin, weil sie zur | |
| Wettbewerbssteigerung das Sozialmodell aushebeln möchten, an dem die | |
| Franzosen hängen. Bestimmt seit mehr als dreißig Jahren wird diese | |
| Niedergangsthese in allen Varianten diskutiert. | |
| Einer der wichtigsten Niedergangstheoretiker ist der konservative | |
| Intellektuelle Nicolas Baverez: „Das Modell eines Wachstums auf Pump ist | |
| nicht haltbar. Da die Reformen nicht rechtzeitig gemacht wurden, wird es | |
| durch die Herabstufung der Bonität explodieren. Frankreichs Pseudomodell, | |
| das sich auf Staatsfinanzen wie in Griechenland, Abgaben wie in Dänemark, | |
| eine Wettbewerbsfähigkeit wie in Spanien und eine deutsche Währung | |
| resümieren lässt, ist tot.“ | |
| Verbitterte Arbeiter, wütende Bretonen, eine Regierung in Panik und eine | |
| schlicht demoralisierte Nation. „Frankreich ist ein Jammer“, fasste die | |
| Wirtschaftszeitung Les Echos zusammen. Und der frühere Premierminister | |
| François Fillon von der konservativen Partei Union für eine Volksbewegung, | |
| der UMP, findet: „Mit homöopathischen Mitteln ist da nichts zu machen. Denn | |
| das Land ist zu weit gegangen mit seiner Fürsorge, seinem Schutz und den | |
| wahnsinnigen Reglementierungen aus Angst vor der Globalisierung.“ | |
| In Deutschland beschreibt man das Nachbarland ebenfalls mit wachsender | |
| Sorge als „Kranken Mann in Europa“. Da erstaunt es nicht, dass die | |
| Franzosen laut einer Gallup-Umfrage pessimistischer sind als die Afghanen | |
| oder Iraker. Dabei geht es den Franzosen gar nicht so schlecht! Das | |
| zumindest besagen internationale Vergleichsstudien, die nicht nur das | |
| Bruttoinlandsprodukt und die Staatsverschuldung anschauen, sondern auch | |
| andere Kriterien in Betracht ziehen. | |
| Der vom Ökonomen Joseph Stiglitz inspirierte „Better Life Index“ der OECD | |
| sieht die Franzosen hinsichtlich ihrer Wohnqualität auf dem zehnten und | |
| ihrer Einkommen auf dem elften Rang (von 36 Ländern). Und geradezu | |
| beneidenswert sind die Verhältnisse, wenn man den Zugang zu Bildung und | |
| Kultur vergleicht. | |
| Frankreichs heimliche Stärken liegen nicht nur in einer nach wie vor | |
| bedeutenden und reichen Kulturproduktion, die das Land zu Recht gegen | |
| angelsächsische oder asiatische Freihandelsapologeten verteidigt, oder bei | |
| Qualitätsprodukten wie Käse und Wein, sondern in einer Vielzahl von Ideen | |
| und Erfindungen, die allerdings oft mangels Kapital oder Krediten nicht | |
| umgesetzt werden können. | |
| ## Es lebe Frankreich! | |
| Soll man es nicht auch als Kriterium einer – allzu – heimlichen Zuversicht | |
| werten, dass die Französinnen mit durchschnittlich zwei Kindern mehr | |
| Nachwuchs in die Welt setzen als fast alle anderen Europäerinnen? Also doch | |
| lieber, wie einst Oskar Lafontaine sagte, französische Verhältnisse als | |
| deutsche Zustände? Das zumindest meint auch ein Freund von Lafontaine, der | |
| Chef der französischen Linkspartei, Jean-Luc Mélenchon: „Niemand hat doch | |
| Lust, zu leben wie Deutsche“, glaubt er voller Stolz auf die bessere | |
| Lebensqualität in Frankreich zu wissen. Der Nationalstolz ist die Kehrseite | |
| der Angst vor dem Niedergang. | |
| Sicher ist, dass sowohl nationalistische Überheblichkeit als auch | |
| Defätismus die Franzosen daran hindern, ihre Trümpfe auszuspielen. Allzu | |
| große Sorgen muss man sich aber nicht machen. Oft warten sie nur, bis alle | |
| das Gejammer über den déclin satt haben. Um dann, wie bei der | |
| WM-Qualifikation, alle mit einem Triumph zu überraschen. | |
| 22 Nov 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Rudolf Balmer | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Frankreich | |
| Fußball | |
| Weltmeisterschaft | |
| Schwerpunkt Frankreich | |
| Jean-Marc Ayrault | |
| Schwerpunkt Frankreich | |
| Julia Timoschenko | |
| Attentat | |
| Fußball | |
| Theorie | |
| Per Mertesacker | |
| Fußball | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kommunalwahlen im französischen Cannes: Rechtspopulist gegen Sonnyboy | |
| Zwei UMPler wollen Bürgermeister in Cannes werden: David Lisnard, der | |
| „städtische Unternehmer“ und Philippe Tabarot, der „Kandidat der Ordnung… | |
| Integrationsdebatte in Frankreich: In Polemik erstickt | |
| Die Rechtspopulisten warnen vor dem Verkauf der „Seele Frankreichs“. Das | |
| wahre Reizthema in der Diskussion um Integration aber ist der Schleier. | |
| Französischer Ex-Innenminister: Claude Guéant in Polizeigewahrsam | |
| Der Vertraute des früheren französischen Präsidenten Sarkozy sowie sein | |
| aktueller Bürochef werden vernommen. Es geht um die Herkunft von | |
| fünfstelligen Prämien. | |
| Oppositionsführerin in der Ukraine: Timoschenko wagt den Hungerstreik | |
| Julia Timoschenko fordert den ukrainischen Präsidenten auf, das | |
| Assoziierungsabkommen mit der EU doch zu unterzeichnen. Dieser ruft die | |
| Landsleute zur Ruhe auf. | |
| Nach bewaffneten Angriffen in Paris: Mutmaßlicher Schütze gefasst | |
| Nach einer Großfahndung hat die französische Polizei den mutmaßlichen | |
| Angreifer auf Pariser Medienhäuser festgenommen. Vier Menschen wurden | |
| verletzt. | |
| Unglück in Algerien: WM-Quali geglückt, 12 Tote | |
| Die algerische Fußball-Nationalmannschaft besiegte Burkina Faso und das | |
| Land brach in Jubel aus. Bei den Feiern kamen allerdings zahlreiche | |
| Menschen ums Leben. | |
| Theorie aus Frankreich: Chefs sind eher hinderlich | |
| Vom jungen Marx lernen: Der französische Philosoph Jacques Rancière sprach | |
| in Berlin darüber, wie die Kunst der Politik vorausgeht. | |
| Freundschaftsspiel England-Deutschland: Per Kopf | |
| Einem gänzlich umgekrämpeltem deutschen Team gelingt in London ein | |
| ungefährdeter 1:0-Sieg. Das Tor des Abends erzielte der Dienstälteste, Per | |
| Mertesacker. | |
| Relegationsspiele WM-Qualifikation: Frankreichs spätes Erwachen | |
| Das Team von Didier Deschamps darf nach dem 3:0 gegen die Ukraine nach | |
| Brasilien fahren. Das Privatduell Ibrahimovic-Ronaldo gewinnt der | |
| Portugiese 3:2. |