# taz.de -- Buch „Zeit der Landschaft“: Natur zum Abheben | |
> Jacques Rancière widmet sich in „Zeit der Landschaft“ der Natur im 18. | |
> Jahrhundert. Sie war Ressource für Vorstellungen von Unendlichkeit. | |
Bild: Was geschieht hinter dem Felsen? Landschaftsbild von William Gilpin, um 1… | |
Natur? Das ist jetzt also das „Erdsystem“: geschlossen, selbstregulierend, | |
zusammengesetzt aus physikalischen, chemischen, biologischen und | |
„menschlichen Komponenten“. So die Experten vom International | |
Geosphere-Biosphere Programme. Diese Natur ist begrenzt, zugänglich | |
allenfalls über Modellrechnungen, und sie ist gefährdet. | |
Es war nur eine kurze Weile, dass man Natur betrachten konnte und sie gar | |
ein Gefühl der Unermesslichkeit bescherte. „Wie sehr erweitert sich nicht | |
die ganze Seele, spannet alle ihre Kräfte an, wenn sich die Aussicht auf | |
den Ocean voraus eröffnet“, zitiert Jacques Rancière in seinem großartigen | |
neuen Buch, das jetzt auf Deutsch erschienen ist, den Gartentheoriker | |
Christian Cay Lorenz Hirschfeld. | |
Ein Zeitgenosse aus dem späten 18. Jahrhundert, der über dem Neuenburgersee | |
die Illusion erfährt, Himmel und See seien spiegelgleich, meinte gar, „im | |
unermeßlichen Raum auf einem kleinen Trabanten“ herumzuschweben. | |
Naturbetrachtung als Raumfahrt. Heute erinnert uns Natur daran, dass wir | |
über unsere Verhältnisse leben. Damals verhalf sie dazu, sich über die | |
eigenen Verhältnisse zu erheben. | |
Der französische Philosoph [1][Jacques Rancière ist bekannt für seine | |
fortgesetzten Überlegungen zur Verbindung von Ästhetik und Politik]. | |
Angesichts der heutigen Politisierung der Natur kommt es einem Schock | |
gleich, wenn Ranciére, Jahrgang 1940, in „Zeit der Landschaft“ zeigt, dass | |
die Ästhetisierung der Natur im 18. Jahrhundert auf entgegengesetzte Weise | |
politisieren konnte. Natur konfrontierte niemanden mit seinen materiellen | |
Lebensbedingungen, sondern löste von ihnen. | |
## Mistkarren, Tierkadaver, schmutzige Arbeiter | |
Was aber bewog die [2][Maler dazu, in ihren erhabenen Landschaften] auf | |
einmal Niederrangiges auftauchen zu lassen? Die bescheidenen Hütten des | |
einfachen Volks, Mistkarren, Tierkadaver, schmutzige Arbeiter? Man musste | |
nicht mehr mit beeindruckenden Sujets prunken, antwortet darauf Rancière, | |
es gab eine bessere Weise zu beeindrucken. Man konnte die „Kraft“ malen. | |
In dem Unscheinbaren auf den Gemälden bekundet sich die Einheit einer Natur | |
„in einem bestimmten Rahmen, über den ihre Kraft aber zugleich | |
hinausreicht. Der Künstler spürt diese Kraft und macht sie spürbar.“ | |
Entscheidend für die Darstellung dieser ominösen Kraft ist ein | |
maltechnischer Kunstgriff, dem Rancière ein eigenes, brillantes Kapitel | |
widmet. Maler wie der englische William Gilpin begreifen: Eine Landschaft, | |
die in ihrer Vollständigkeit daläge, böte der Einbildungskraft keinen Raum. | |
Gleiches gilt für eine umschlossene Landschaft. Man wird deshalb eine | |
Landschaftsgrenze malen, sie allerdings zum Teil verbergen. Eine Seegrenze | |
ist dann stellenweise uneinsehbar, etwa wegen eines hervorspringenden | |
Waldstückchens, dahinter könnte der See weitergehen. | |
„Es ist nun nicht mehr die Landschaft, die weiter wirkt, als sie es | |
tatsächlich ist“, schreibt Rancière, „vielmehr wird der Geist selbst | |
erweitert.“ Weil sie beflügelten, konnte man diese Landschaftsbilder sogar | |
für das einfache Volk öffnen. Für Rancière hat dies bemerkenswerte | |
politische Implikationen. Denn waren sogar arbeitende und zerlumpte Leute | |
auf einmal würdig, sich auf Gemälden zu tummeln, so vielleicht auch auf der | |
politischen Bühne! | |
Doch in einem anderen Moment misstraut Rancière seiner eigenen | |
Interpretation: „Die Abstufungen der [3][Gesellschaftsordnungen werden zu | |
den Abstufungen des Lichts auf der Leinwand]. Die Verschleierung der | |
Ungleichheit im Erscheinungsbild der Gemeinschaft wird wie das Verbergen | |
der Ränder eines Sees oder der Ursprung eines Wasserfalls behandelt, durch | |
das eine begrenzte Landschaft ihre imaginäre Weite enthält.“ | |
Das ist die unaufgelöste Spannung des Buchs: Die Ungeachteten können auf | |
den Gemälden des 18. Jahrhunderts in Erscheinung treten, aber sind zugleich | |
versteinert, gebannt in lediglich imaginärer Weite. | |
14 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Christoph Paret | |
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