| # taz.de -- 60 Jahre Migration aus der Türkei: „Es heißt immer ‚du als T�… | |
| > Der Künstler Adem Şahantürk erzählt übers Aufwachsen in Bremen als Kind | |
| > türkischer Gastarbeiter. Ein Gespräch über Rassismus, Religion und | |
| > Graffiti. | |
| Bild: Werftarbeiter der AG Weser 1975 | |
| Bremen taz | Noch bis zum 16.Oktober findet [1][in Bremen die Kültürale] | |
| statt, ein Festival zur Feier der deutsch-türkischen Kultur, passend zum | |
| [2][60. Jahrestag des Anwerbe-Abkommens mit der Türkei]. Auch der Bremer | |
| Graffitikünstler Adem Şahantürk ist mit einem Workshop (10. Oktober) dabei. | |
| taz: Ich habe neulich ein [3][Magazin zu 60 Jahren deutsch-türkisches | |
| Zusammenleben] gelesen. Im Grußwort von Staatsministerin Michelle | |
| Müntefering hieß es: „Viele von ihnen leben bis heute unter uns.“ Es gibt | |
| also immer noch ein „wir“ und „die anderen“. | |
| Adem Şahantürk: Ausgrenzung und Abwertung kriegst du ständig um die Ohren. | |
| Die Kinder mit türkischen Wurzeln, die ich kenne, haben dieselben | |
| Interessen wie alle anderen, dieselben Lebensweisen. Aber man hält ihnen | |
| ständig einen Spiegel vor: Es heißt immer „Du als Türke.“ | |
| Unterschied sich die erste Generation noch deutlicher von den damaligen | |
| Deutschen? | |
| Natürlich. Die Gastarbeiter hatten wegen Schichtarbeit nicht mal die | |
| Möglichkeit, geregelten Schlaf zu bekommen – die hatten gar keine Zeit, | |
| Deutsch zu lernen. Mein Vater war sehr viel unterwegs. Sein Gedanke war | |
| wohl immer, ich hab fünf hungrige Münder, ich muss funktionieren. Die | |
| Sprache hat er nie richtig gelernt. | |
| Was hat Ihr Vater in Bremen gemacht? | |
| Er ist Ende der sechziger Jahre nach Bremen gekommen, er war Schweißer bei | |
| der AG Weser. Er hat mir von einem Tunnel erzählt, 50, 60 Meter lang, aber | |
| nur einen Meter hoch. Er musste darin schweißen. | |
| Das klingt hart … | |
| Ja, an den Folgen ist er später erkrankt. Mein Vater ist 2016 mit Anfang | |
| siebzig verstorben, kurz danach und davor die Kollegen, alle mit | |
| Lungenproblemen; es muss dort Asbest gegeben haben. Ich erinnere mich, dass | |
| mein Vater immer Milch getrunken hat, weil Milch eine entgiftende Wirkung | |
| haben soll. Meine Mutter hat mir neulich erzählt, dass er nach der Arbeit | |
| manchmal mit mehreren Decken da lag und Schüttelfrost hatte. Arbeitsschutz | |
| wurde nicht so groß geschrieben. Die haben sie behandelt wie Vieh. | |
| Und Ihre Mutter? | |
| Meine Mutter war Hausfrau, mit fünf Kindern hatte sie viel zu tun. Wir | |
| hatten oft Menschen zu Hause, Nachbarn, aber auch Kontakte aus der | |
| Heimatstadt meiner Eltern. Die Leute haben sich an den engsten Kreis | |
| gebunden, den sie finden konnten. | |
| Haben sich die Menschen vielleicht schon bei der Jobsuche daran orientiert, | |
| wo schon Bekannte lebten? | |
| Bestimmt. Man muss sich das vorstellen: Wenn wir heute verreisen, haben wir | |
| die Möglichkeit ins Englische zu switchen. Aber für meine Eltern und die | |
| anderen war das anders: Du fährst in ein Land, das du gar nicht kennst, zum | |
| Leben und Arbeiten ganz ohne Sprachkenntnisse. Natürlich hat man da einen | |
| ganz kleinen geschlossenen Kreis gesucht. Erst später, als meine Eltern | |
| eine Parzelle hatten, hatten sie dort deutsche Nachbarn, mit denen sie sich | |
| auch gut verstanden haben. | |
| Glauben Sie, Ihre Eltern wollten noch mal zurück? | |
| Es gab 1983 ein Angebot, da hat die Bundesregierung versucht, die Leute | |
| loszuwerden: [4][Wer zurückgegangen ist, hat Geld bekomme]n, und der Umzug | |
| wurde gezahlt. Meine Familie hat das auch versucht. Wir haben eine Zeit in | |
| der Türkei gelebt, ich glaube, da war ich in der zweiten Klasse. Wir sind | |
| aber nach sechs Monaten zurück gegangen – dafür bin ich unglaublich | |
| dankbar. Ich kannte das alles nicht, auch die Sprache dort war anders als | |
| das Türkisch in unserer Familie. | |
| Also sind Ihre Eltern wegen der Kinder wieder nach Deutschland? | |
| Ich denke schon, ja. Im Urlaub in der Türkei treffe ich manchmal Menschen, | |
| die damals als halbe Teenies rüber sind und sich noch immer zurücksehnen | |
| nach Deutschland. | |
| Bei der Kültürale geben Sie einen Graffitiworkshop. Wie sind Sie zum | |
| Graffiti gekommen? | |
| Wir waren damals so elf, glaube ich, als ein sehr guter Freund von mir Tags | |
| gesehen hat, also Schriftzüge. Wir haben dann auch angefangen, auf dem | |
| Schulhof und dem Spielplatz wurde gesprüht. Du möchtest wahrgenommen | |
| werden. | |
| Ich hab das Gefühl, die Szene ist eher so weißdeutsch; aber vielleicht | |
| kenne ich auch einfach nicht genug Leute? | |
| Das ist in den Städten unterschiedlich. In [5][Berlin kamen die Anfänge] | |
| aber zum Beispiel aus der migrantischen Community, das waren Türken, | |
| Araber, Kroaten. Die Leute haben nicht nur Berlin geprägt, sondern das | |
| ganze deutsche Graffiti. Ich weiß noch, als ich vielleicht erst drei Bilder | |
| gemalt hatte, keine Ahnung hatte von Graffiti, kam mal ein Nachbar auf mich | |
| zu und sagte: Der Weltmeister in Graffiti ist ein Türke.' Er [6][meinte den | |
| Sprayer Amok.] | |
| Tat es gut, das zu hören? | |
| Es war jedenfalls nicht so, dass ich dachte, o schade. Es war irgendwie | |
| surreal. Viel später habe ich mal mit ihm zusammen gemalt. | |
| Wie haben Ihre Eltern auf das Hobby reagiert? | |
| Ich denke, mein Vater mochte die Seite an mir nicht. Aber er hat mir keinen | |
| großen Druck gemacht. Er konnte es nicht verstehen. Er ist dann in sein | |
| Café gegangen und hat Tee getrunken, Karten gespielt. | |
| Und Ihre Mutter? | |
| Meine Mutter hat mich einmal abgefangen, nachdem ich Silvester 1994/95 | |
| erwischt wurde. Sie hat mir die Tür aufgemacht; sagen wir so: Sie war | |
| jedenfalls schon mal freundlicher. Die Aktion an sich war gar nicht so | |
| böse. Es war einfach eine Wand vom Mercedeswerk. Ich hab dann bei Mercedes | |
| angerufen. Der Betriebsleiter wollte nichts draus machen – er wollte | |
| jemanden im Ausbildungsalter für so was nicht anzeigen und hat dann gesagt, | |
| wir lassen Efeu drüber wachsen. Der Typ war echt cool. Vielleicht war das | |
| Erwischtwerden eine ganz gute Bremse für mich. | |
| Sie arbeiten immer noch als Graffitikünstler, schon lange auf legaler | |
| Ebene. Haben Ihre Eltern das akzeptiert? | |
| Ich hatte ein ganz okayes Abi, damals gab es nicht so viele Migranten, die | |
| Abi gemacht haben. Als ich mich für die Kunst entschieden habe, war das | |
| aber nicht so schlimm. Es gab Beispiele von Leuten, die andere Wege | |
| gegangen sind bei uns. Die Eltern haben mir gut zugeredet zu etwas anderem. | |
| Aber sie haben mich nicht bedrängt. | |
| Klingt nach respektvoller Beziehung. | |
| Die haben mich einfach machen lassen. Wir mussten eh immer alles selber | |
| machen. Wenn mir wer bei den Hausaufgaben geholfen hat, dann war das meine | |
| Schwester. Du wirst pfiffig, wenn du immer alles selber lösen musst. Als | |
| wir später [7][mit Atx-artworx] erfolgreich wurden, hatten meine Eltern | |
| schon Freude daran, die Artikel in der Zeitung zu sehen. Sie waren | |
| glücklich, dass ich den eigenen Weg gefunden habe. Ich bin mit | |
| verantwortlich dafür, dass Bremen so bunt ist, wir haben viel geändert. | |
| Graffiti ist ein schönes Abenteuer in meinem Leben. | |
| Haben Sie als Kind oder Jugendlicher hier Rassismus erfahren? | |
| Ich weiß nicht, wie weit du das mitbekommst als Kind. Da gab es einen | |
| Trainer, der hat mich mit heftigen Worten degradiert. Wenn ich eine Tüte | |
| dabei hatte, hat er gesagt,,hast du den Türkenkoffer genommen“. | |
| Man gewöhnt sich dran? | |
| Ja, das ist vielleicht so Alltagsrassismus. Eine Sache fällt mir noch ein, | |
| 1992, [8][kurz nachdem in Mölln der Brandanschlag war], bei dem mehrere | |
| Türken gestorben sind, da hat es bei uns auch gebrannt. Es war | |
| Brandstiftung, das Feuer begann im Keller. Ich habe das damals gar nicht in | |
| Verbindung gebracht. Erst Jahre später habe ich darüber nachgedacht. | |
| In unserem Vorgespräch haben Sie erzählt, dass Sie auch als Seelsorger | |
| arbeiten. Wie sind Sie dazu gekommen? | |
| Deutschland will schon lange islamische Religionslehrer in Deutschland | |
| ausbilden. Vor dem [9][Studiengang für Imame in Osnabrück] gab es zwei | |
| Jahre ein Vorlaufprogramm für islamische Seelsorge. Ich habe da 2011 | |
| Seminare besucht. Seit 2015 bin ich auch noch Anti-Gewalt-Trainer. | |
| Warum wollten Sie das machen? | |
| Ich hatte selbst eine wilde Jugend und glaube, das hilft mir in diesem | |
| Bereich. Ich fühlte mich damals oft missverstanden. Ich spreche deutsch, | |
| ich träume deutsch. Aber als Jugendlicher dachte ich, ich sei nie deutsch | |
| geworden. Man wird wütend, wenn man nicht in einen Club gelassen wird, weil | |
| die Haare zu dunkel sind. Ich hatte immer beide Welten: Neben der Schule | |
| noch der Türkischunterricht, und am Wochenende neben Fußball auch noch in | |
| die Moschee. Die hat mich später aufgefangen, dort war ich in einem | |
| Anti-Gewalt-Kreis. Die Literatur dort hat mir viele Antworten auf meine | |
| Alltagsprobleme gegeben. | |
| Was bedeutet Ihnen der Glaube? | |
| Ich würde mich nie als überaus gläubig bezeichnen. Aber ich faste, ich | |
| bete, ich zahle die Zakat (Armensteuer, Anmerkung der Redaktion). Ich habe | |
| gewisse Werte, die hängen mit der Erkenntnis eines Schöpfers zusammen. Ich | |
| glaube an das Schicksal, an das Gute im Leben. Unsere Eltern haben | |
| versucht, uns das mit der Brechstange einzutrichtern. Brechstange heißt:,Du | |
| gehst da hin in die Moschee.' Aber es geht darum, sich selber zu finden. | |
| Mit Druck geht gar nichts. | |
| Sind die Probleme von jungen migrantischen Jugendlichen heute die selben? | |
| Ich habe nicht nur migrantische Jugendliche mit Problemen in der Arbeit | |
| als Anti-Gewalt-Trainer. Da sind auch viele Deutsche, die zum Beispiel | |
| schwierige Elternhäuser hatten. Ich geh davon aus, dass fast jeder Mensch | |
| das Gute möchte. Aber es ist einfach … | |
| … Ja? | |
| Es ist schwer, wenn man immer abgewiesen wird, das passiert immer noch | |
| vielen Migranten. Ich war in einem Kurs mit 36 Pädagogen, alle haben | |
| Fragen gestellt, wo sie in ihrer Berufspraxis nicht weiter kamen. Der eine | |
| hatte einen Jungen, der im Freizi beten wollte. Warum macht man daraus | |
| überhaupt ein Thema? Ob der jetzt drei Minuten in sich gekehrt ist oder ein | |
| anderer fünf Minuten auf Toilette ist, wen stört das denn? Lass ihn doch | |
| beten, gib ihm doch keinen Zündstoff zum Wütendwerden. Als | |
| Anti-Gewalt-Trainer denke ich: Man sollte den Konflikt nicht suchen, wo es | |
| gar keinen gibt. | |
| 11 Oct 2021 | |
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| [2] /60-Jahre-deutsch-tuerkisches-Abkommen/!5781117 | |
| [3] https://ruhrmuseum.de/fileadmin/redakteur/PDF/MAGAZIN_Wir_sind_hier.pdf | |
| [4] https://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%BCckkehrhilfegesetz | |
| [5] /!1668629/ | |
| [6] https://renk-magazin.de/amok-auf-der-couch-aus-purpur/ | |
| [7] http://www.atx-artworx.de/ | |
| [8] /Erinnerung-an-den-Anschlag-von-Moelln/!5766784 | |
| [9] /Muslime-in-Deutschland/!5775079 | |
| ## AUTOREN | |
| Lotta Drügemöller | |
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