# taz.de -- Berliner Graffiti-Aktivist über Freiraum: „Legal bedeutet Qualit… | |
> Warum gibt es eine Graffiti-Lobby und was will sie? Ein Gespräch mit | |
> einem Aktivisten über fehlende Freiflächen, den Reiz der Legalität und | |
> den Graffiti-Ehrenkodex. | |
Bild: Die Hall of fame im Mauerpark: Eine von nur zwei Freiflächen in Berlin | |
taz: Herr Paderin, wenn man sich Berlin so anschaut, nehmen Sprayer sich | |
einfach das, was sie brauchen. Wozu braucht es da eine Graffiti-Lobby? | |
Jurij Paderin: Weil die Wände, die sie sich nehmen, illegale Flächen sind. | |
Viele Writer haben keine Erlaubnis, eine Wand zu bemalen. Wenn sie erwischt | |
werden, müssen sie den Schaden bis zu 30 Jahre lang abbezahlen. Viele junge | |
Leute verbauen sich damit die Zukunft. Deswegen braucht es mehr legale | |
Flächen, auf denen Malen erlaubt ist. Außerdem muss man sich dort nicht | |
ständig umdrehen und Ausschau halten, ob die Polizei kommt. Mehr legale | |
Flächen bedeutet mehr Qualität. | |
Wie viele legale Flächen gibt es denn in Berlin? | |
Für geschätzt 15.000 Sprüher gibt es zwei Flächen, an denen man frei ohne | |
vorherige Abgabe von Skizzen rund um die Uhr malen kann: im Mauerpark und | |
am Rosenthaler Weg in Pankow. Tausende müssen in die Illegalität | |
ausweichen. Graffiti ist nicht nur eine Jugendkultur, es gibt auch ältere | |
Menschen, die malen – selbst Bankmitarbeiter. Auch die möchten in der Szene | |
bleiben. Wir wollen keine Cola-Plakate und nackte Frauen auf Werbetafeln, | |
sondern die Kunst der Leute sehen, die in der Stadt leben. Jugendliche | |
fahren im Stahl zur Schule und wohnen im Beton. Das Auge ist nicht | |
ausgelegt für grauen Beton kreuz und quer. Viele Wände könnten ein schönes | |
Graffiti tragen. | |
Sie fordern mehr Hall of Fames. Was heißt das? | |
Eine Hall of Fame ist eine von der Stadt oder privaten Besitzern | |
freigegebene Fläche, an der man jederzeit legal malen kann – ohne Skizze | |
oder Auftrag. Die Künstler*innen können völlig frei entscheiden, was sie | |
machen. Es läuft alles selbstreguliert, und es findet ein Dialog statt. Man | |
muss keine Angst haben, wenn eine Oma vorbeikommt und das Handy zückt. Weil | |
sie dort nämlich nicht die Polizei ruft, sondern ein Foto macht. Und | |
natürlich trifft sich die Szene dort und der Ehrenkodex wird weitergegeben. | |
Welcher Ehrenkodex? | |
Na, dass man etwa keine Kirchen oder Friedhöfe anmalt. Oder das man andere | |
Graffiti respektiert. Man übermalt kein Bild, das besser gestaltet ist, als | |
das, was man selbst malen kann. Man hat halt Respekt. Graffiti wurde von | |
Medien häufig in Richtung Vandalismus getrieben. Aber wenn es keine legalen | |
Wände gibt, wo soll man dann malen? | |
Aber der Reiz geht doch auch von der Illegalität aus. | |
Nein! Ich hasse diesen Satz. Damit schiebt man Graffiti in die Illegalität. | |
Es gibt auch den Reiz, fünf Stunden an der Wand zu stehen und einen schönen | |
Style zu malen. Es geht beim Graffiti um Fame, also Ruhm. Den bekommt man | |
auf zwei Wegen: über Quantität oder Qualität. Quantität wären illegale Tags | |
oder Bombings, also Schriftzüge und große Chrome-Schwarz-Graffiti, die | |
schnell zu malen sind. Aber die Entwicklung in Berlin geht in Richtung Full | |
Color und damit Qualität: bunte Farben und nicht nur Chrom und Schwarz. | |
Jede Dose Sprühfarbe kostet 3 Euro. Je mehr davon legal versprüht werden, | |
desto weniger illegale Graffitis wird es geben. | |
Aber es war doch seit Beginn der modernen Graffiti in New York in den | |
Siebzigern und Achtzigern auch eine Auszeichnung, wenn der illegal gemalte | |
Name eines Sprayers auf einem Zug durch die Gegend fuhr. Wo bleibt die | |
Streetcredibility bei legalem Graffiti? | |
Es gibt natürlich Leute, die sich darauf spezialisiert haben, Züge zu | |
malen. Ebenso gibt es Leute, die Rooftops malen oder auf der Straße bomben | |
gehen. Es gibt einen harten Kern, die auch weiterhin illegal malen wollen | |
und das auch tun werden. Aber wir sind doch hier nicht in New York 1980, | |
wir sind in Berlin. Und für die meisten liegt der Kick nicht im Illegalen. | |
Das wiederholen wir wie ein Mantra. | |
Hat Graffiti heute noch was mit Hiphop-Kultur zu tun? | |
Nein, das ist mittlerweile komplett losgelöst. Es gibt auch viele Leute, | |
die Techno hören beim Malen. | |
Würden Sie sagen, die Szene ist politisch? | |
Berlins Sprüher sind zum größten Teil unpolitisch, außer dass sie sich halt | |
Flächen nehmen. Man muss auch stark differenzieren, es ist nicht eine | |
Suppe: Es gibt Leute, die machen Graffiti legal, leben von Aufträgen und | |
geben Workshops an Schulen oder in Knästen. Und es gibt Leute, die machen | |
das illegal. Aber auch Street Art ist nicht gleich Graffiti-Writing. Man | |
sollte diese Kunst wie die Olympischen Spiele betrachten. Es gibt viele | |
verschiedene Disziplinen und mittlerweile in Berlin sogar ein [1][Museum | |
für Graffiti]. Graffiti im Museum ist nicht so mein Ding, auf der Straße | |
finde ich besser. | |
Warum? | |
Richtige Berliner Writer hängen doch nicht im Museum! Wir wollen die | |
Straßen gestalten. Wir wollen keine graue Stadt wie im | |
durchkommerzialisierten London, wo überall Kameras hängen und es tote | |
Straßen gibt. Auch in Berlin verschwinden Freiräume zunehmend – man kann | |
doch kaum noch wo sitzen, ohne dass man gleich 'ne Cola bestellen muss. | |
Das klingt jetzt doch politisch. | |
Natürlich gibt es auch politische Sprüher, die „Refugees Welcome“ oder | |
„Reclaim your City“ sprühen. Aber die meisten sind nur darin politisch, als | |
dass sie sich Flächen nehmen, die ihnen nicht gehören. Es gibt so viele | |
Skateparks und Basketballplätze in Berlin, aber die Leute wollen nicht nur | |
Skaten und Basketball spielen, die wollen auch sprühen. | |
Wie steht Berlin im Vergleich zu anderen Städten da? | |
Berlin ist Schlusslicht. In anderen deutschen Städten werden ganze Wände | |
für Graffiti gebaut. In Berlin gibt es nur vereinzelte Anträge der SPD und | |
der Linken in Mitte und Pankow. Ganz Berlin muss im Mauerpark malen gehen. | |
Als die Mauer fiel, sind die Ossis nach Kreuzberg gekommen, um Sprühdosen | |
zu kaufen. Jetzt müssen die Westler in den Osten, um zu malen. Anstatt aber | |
neue Flächen in Berlin zu schaffen, wurden sogar Orte geschlossen wie etwa | |
das Fleischkombinat in Buch. | |
Was bedeute Graffiti als Kunstform gesellschaftlich? | |
Für sehr viele Leute aus ärmeren Schichten ist Graffiti die erste Begegnung | |
mit Kunst überhaupt. Wenn ich Workshops in Marzahn gebe, wissen einige | |
nicht mal, wo Mitte ist. Aber zu Graffiti haben viele Zugang. Manche fangen | |
mit 12 Jahren an zu malen. Aber es gibt ebenso Graffiti-Kurse, bei denen | |
80-Jährige mitmachen. Graffiti verbindet die Generationen und schafft viel | |
Positives. | |
Allerdings finden auch nicht alle Graffiti schön. | |
Ja klar. Aber wenn weiter Freiflächen fehlen, müssen die Menschen mit dem | |
illegalen und unschönen Graffiti leben. Charlottenburg gibt 30.000 Euro für | |
Graffitibeseitigung aus, die Senatsverwaltung für Umwelt und Verkehr sogar | |
200.000 Euro. Aus Writer-Sicht ist es so: Du gibst 60 Euro für Dosen aus | |
und malst ein schönes Bild. Die Stadt macht es weg und zerstört es. Dann | |
holen sich einige allein aus Trotz eine dicke Sprühdose und sprühen eine | |
Linie auf die übermalte Fläche. | |
Das ist allerdings ziemlich destruktiv. | |
Natürlich ist es das. Aber genau aus diesem Grund zerkratzen Leute auch | |
Scheiben. | |
Und Sie meinen, solche Dinge würden aufhören, wenn es mehr legale | |
Graffitiflächen gäbe? | |
Es ist eine einfache Rechnung: Jede Dose kostet 3 Euro, das ist viel Geld, | |
wenn man Graffiti malt. Jede Dose, die legal verbraucht wurde, wird nicht | |
mehr illegal eingesetzt. Ich würde lieber sehen, dass die jungen Leute in | |
Ruhe Qualität produzieren dürfen. Illegales wird man nicht loswerden; es | |
wäre aber cool, wenn sich die Entwicklung in Richtung Legalität verschiebt. | |
Dafür braucht es Politiker, die sich einsetzen, auch wenn man mit dem Thema | |
vielleicht keinen Wahlkampf gewinnen kann. | |
Wie sieht es mit der konkreten Umsetzung in Berlin aus? | |
In Pankow funktioniert das ganz gut mit der Linken. In Mitte setzt sich die | |
SPD für legale Flächen ein. Ausgerechnet in Friedrichshain-Kreuzberg aber | |
ist trotz erfolgreicher Anträge der Grünen im Bezirksparlament keine | |
einzige Fläche dazu gekommen. Behörden wie das Grünflächenamt oder der | |
Denkmalschutz sind einfach enorm unbeweglich. | |
Neben der Forderung nach mehr Flächen kritisieren Sie auch die | |
Null-Toleranz-Politik. | |
Was hat denn das strikte Verbot und Anti-Graffiti-Gesetz aus den Neunzigern | |
gebracht? Nichts. Graffiti gibt es seit 50 Jahren und wird es auch | |
weiterhin geben. Man sollte sich im Gegenzug mal fragen: Wo gibt es denn | |
kein Graffiti? In totalitären Staaten wie Nordkorea zum Beispiel. Graffiti | |
ist auch ein Gradmesser für freiheitliche Gesellschaften. Viele sagen | |
immer, wir sind die krasseste Demokratie. Na, dann beweist es mal! | |
Philadelphia hat die ganze Stadt für Graffiti freigegeben, und was ist dort | |
passiert? Leute fahren jetzt scharenweise dorthin, um sich die Kunst an den | |
Wänden anzugucken. | |
21 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Gareth Joswig | |
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