# taz.de -- Staatsschutz ermittelt wegen Graffitis: Mit Kanonen auf Sprühdosen | |
> In Göttingen sind großformatige Graffitis aufgetaucht, die Flucht und | |
> Seenotrettung thematisieren. Nun ermittelt der Staatsschutz. | |
Bild: Aus Sicht der Polizei eine Straftat mit politischem Hintergrund: eines de… | |
GÖTTINGEN taz | Zwei Schiffe im tosenden Meer. Zwei Wesen – halb Mensch, | |
halb Fisch, halb über, halb unter Wasser – kämpfen gegen das Ertrinken. | |
Oben Schrift: „Fascism. Sicherer Hafen. Seebrücke. Lager abschaffen.“ Auf | |
einem anderen Bild treibt ein Rettungsring im Ozean. Zwei Tiere sitzen | |
darin, Igel oder Schuppentiere, es ist nicht genau zu erkennen. Ein Stück | |
weiter: Ein Zaun aus scharfkantigem Stacheldraht, eine Zange, die den Draht | |
durchtrennt, eine Ratte auf dem Sprung über diesen Zaun. Das Bild daneben, | |
in Blautönen, zeigt eine Frau und die Worte „My Body“. | |
Wohl nie zuvor sind in Göttingen so aufwendige, eindrucksvolle und | |
künstlerisch ansprechende Graffiti aufgetaucht wie Mitte Dezember: Auf | |
einer Mauer und einer Wand am Rand der Innenstadt hinterließen unbekannte | |
Sprayer:innen und Maler:innen mehr als ein Dutzend großformatige bunte | |
Bilder. Mehrere Motive thematisieren die elende Situation von Geflüchteten | |
an den europäischen Außengrenzen und die Seenotrettung, andere die | |
Benachteiligung und Diskriminierung von Frauen. | |
Am 17. Dezember informierte die Göttinger Polizei in einer Pressemitteilung | |
über den Vorgang. Sie gehe „aufgrund der Inhalte von einer politisch | |
motivierten Protestaktion aus“, hieß es darin: „Das | |
Staatsschutzkommissariat hat Ermittlungen wegen Sachbeschädigung | |
aufgenommen.“ In der Mitteilung und via Facebook rief die Polizei Zeugen | |
auf, sich zu melden. Weil die Erstellung der Graffiti „vermutlich mit einem | |
gewissen Zeitaufwand verbunden gewesen“ sei, hofften die Ermittler:innen | |
auf Personen, die das Vorhaben beobachtet hätten. | |
Das ganz dicke Staatsschutz-Geschütz gegen Wand- und Graffiti-Maler:innen? | |
In vielen Kommentaren unter dem Facebook-Post wird Unverständnis geäußert. | |
„Das ist die schönste Sachbeschädigung, die ich jemals gesehen habe. | |
Trotzdem bleibt es Sachbeschädigung. Leider“, heißt es zum Beispiel. Oder: | |
„Das ist eher künstlerisch wertvoll, als dass es Sachbeschädigung ist.“ | |
Ein User schrieb: „Echt jetzt?? Sachbeschädigung? Die Bilder sind der | |
absolute Hammer!!!“ | |
Das „Stellwerk“, ein Netz Göttinger Kreativwirtschaft mit derzeit 85 | |
Mitgliedern, hinterfragt ebenfalls das Vorgehen der Polizei. Hier werde | |
„mit Kanonen auf Spatzen geschossen“. Gleichzeitig wird die künstlerische | |
Qualität der Graffiti betont: „Muss angesichts solcher Arbeiten heute noch | |
ernsthaft darüber diskutiert werden, ob Graffiti Kunst sein können? Oder ob | |
Kunst politisch sein darf?“ | |
Die Polizei habe gar keine andere Wahl gehabt, als den Staatsschutz | |
einzuschalten, rechtfertigte Sprecherin Jasmin Kaatz am Mittwoch gegenüber | |
der taz die polizeilichen Abläufe. Wenn ein politischer Hintergrund einer | |
Straftat angenommen werde, komme automatisch der Staatsschutz ins Spiel. | |
Das gelte gleichermaßen für Taten „von links, von rechts oder von wem auch | |
immer“. | |
Unterdessen finden die Wandmalereien immer mehr Verbreitung. Die | |
Fotografin, Web-Designerin und Bloggerin Katrin Raabe hat Bilder der | |
Graffiti auf ihrer [1][Homepage] veröffentlicht. Nicht nur bei Raabe weckt | |
das Werk an den Göttinger Mauern Assoziationen an den britischen | |
Street-Art-Künstler Banksy. | |
Der schrieb unter anderem: „Graffiti ist nicht die niedrigste Form der | |
Kunst. Obwohl man nachts herumschleichen und seine Mutter anlügen muss, ist | |
es eigentlich die ehrlichste Kunstform, die es gibt. (…) Eine Wand war | |
schon immer der beste Ort, um seine Arbeit zu veröffentlichen.“ | |
1 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.katrin-raabe.de/ | |
## AUTOREN | |
Reimar Paul | |
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