# taz.de -- Graffiti-Boom durch Corona: Mehr Bunt ins Grau | |
> Die Zahl illegaler Graffiti hat in der Coronazeit zugenommen, aber | |
> weibliche Sprayerinnen sind immer noch selten. Ein Besuch in der | |
> Hamburger Szene. | |
Bild: An dieser Wand darf gesprayt werden. Das macht sie für echte Sprayer una… | |
HAMBURG taz | Ein Freund von Arne und Isa hat Stress mit einem anderen | |
Sprayer. Sein Piece wurde gecrosst. Das heißt, jemand hat über sein Werk | |
gesprayt. „Das geht gar nicht“, sagt Arne. Das wäre eine echte Provokation. | |
„In der illegalen Action crosst man niemals ein Piece von anderen.“ | |
Der Sprayer-Freund möchte sich jetzt treffen, „das klären“. Heißt: Er wi… | |
sich prügeln. Arne und Isa seufzen. Sie sind in der Nähe der Elbbrücken | |
unterwegs und geben eine kleine Führung durch ihre Welt. Wie ein kleiner | |
Rundgang durch eine Ausstellung ihrer Werke. Einen Rundgang in einem | |
Museum, das es nicht gibt. | |
Es geht am Wasser entlang, unter den Bahngleisen durch, die Wände sind voll | |
mit Graffiti: bunte Buchstaben, verschlungen, schattiert, skizziert. | |
Manchmal tauchen die gleichen Motive wieder auf, jede Schriftart ist | |
anders. Teilweise überlappen sich die Graffiti, teilweise stehen sie ganz | |
für sich auf dem kahlen Beton. Und was ist daran Kunst? | |
„Was ist daran nicht Kunst?“, fragt Isa zurück und lächelt mit Blick auf | |
die Wände. Sie ist stolz. Auf die Frage, ob Sprayen ein Lifestyle ist, sagt | |
sie: „Ja. Du siehst die Stadt mit ganz anderen Augen. Du siehst die | |
Graffiti mit anderen Augen. Du erkennst Styles, Vorlieben, Charakter.“ Sie | |
setzen sich unter eine Brücke, gegenüber einer Wand. Viele der | |
Künstler*innen, die die Pieces darauf gemalt haben, kennen sie. Über ihnen | |
rattern die Fernzüge und S-Bahnen, neben ihnen skaten zwei Typen. Es ist | |
kalt. Arne dreht sich eine Zigarette. | |
Die beiden sind seit etwa einem Jahr zusammen unterwegs, sie sind Teil | |
einer gemeinsamen Crew. Arne wartet momentan auf den Start seiner | |
Ausbildung. Und sprayt seit fünf Jahren. Isa ist Studentin, wohnt in einer | |
WG und verdient sich neben dem Studium ihren Lebensunterhalt in der | |
Gastronomie. | |
Sie sprayt seit zwei Jahren. Damit ist sie eine Ausnahme. Frauen seien | |
immer noch unterrepräsentiert in der Szene, sagt sie. „Du wirst krass | |
sexualisiert.“ Oft höre sie dumme Sprüche. Man pfeife ihr hinterher. Crews | |
seien selten geschlechtergemischt. Es würden auch einige reine Frauencrews | |
existieren. „Beim Sprayen musst du dich dreckig machen“, sagt sie und | |
lacht. Man müsse klettern, rennen, mal über einen Zaun springen. Das sei | |
nicht jederfraus Sache. Ihre schon. | |
Beide studieren weder Kunst noch Design. Graffiti ist für sie kein | |
Lebensinhalt. Arne kann sich höchstens vorstellen, Tätowieren zu lernen. | |
Beide freuen sich sehr über das Gespräch. Sie erzählen offen über ihr Hobby | |
und machen sich Gedanken, bevor sie antworten. Es wirkt nicht so, als ob | |
sie über Straftaten sprächen. Eher über ihre Kunstwerke, ihre Technik | |
dahinter und ab und an über das Wegrennen vor unerwünschten Zeug*innen. | |
Arne sagt, dass Kunst nie jedem gefalle und dass es darum auch nicht gehe | |
bei Graffiti. | |
Ob Graffiti überhaupt Kunst sind, darüber wird viel gestritten. Jede*r | |
sieht Graffiti jeden Tag. Viele schimpfen. Andere sind fasziniert. Schon | |
der französische Philosoph und Soziologe Jean Baudrillard schrieb in den | |
1970ern über das Phänomen Graffiti. Damals hatten Tags und Pieces gerade | |
die New Yorker Außenwände erobert. Oder wie Baudrillard sagte: Es hat sich | |
„das jähe Hereinbrechen der Graffiti über die Wände, Busse und U-Bahnzüge | |
New Yorks“ ereignet. | |
Für ihn kam Graffiti einer radikalen Revolte gleich, eine Revolte sowohl | |
gegen die Identität als auch gegen die Anonymität. Man wendet die | |
Unbestimmtheit gegen das System. Um die Schönheit gehe es nicht. Graffiti | |
besudele die Wände, der Sprayer „kotzt sich über ihnen aus“. Die Graffiti | |
würden aber die Wände und Flächen der Stadt wieder zu einem Körper | |
verwandeln, „zu einem Körper ohne Ende noch Anfang, gänzlich erogenisiert | |
durch die Schrift“. Es schien eine Hassliebe zu sein für Baudrillard, eine | |
Hassliebe, die auch heute viele verspüren. Zwischen Zorn und Faszination | |
blicken Menschen auf besprühte Wände, bewerten die Werke je nach | |
Platzierung und Stil. | |
Isa und Arne kennen den Zorn, den Graffiti auslöst. Sie akzeptieren ihn | |
auch. Es geht ihnen anscheinend auch nicht darum, verstanden zu werden: | |
„Die Pieces sind nicht für dich. Die sind nicht dafür da, dass du sie schön | |
findest“, sagt Arne, „die sind von der Szene für die Szene.“ | |
Die Idee sei auszubrechen. „Tagsüber bist du ein Teil der Gesellschaft, | |
hast einen Job, zahlst Steuern, musst funktionieren. Aber nachts ziehst du | |
deine Maske auf, gehst raus und bist nicht der, der du tagsüber bist.“ Isa | |
sagt, es gehe auch um das, was bleibt. „Wir leben in einer Gesellschaft mit | |
krassem Entwicklungsdruck“, erklärt sie, „Jeder soll besonders sein und | |
herausstechen. Durch die Pieces hinterlasse ich etwas.“ | |
Etwas hinterlassen, etwas zeigen. Gleichzeitig schreien und flüchten. Es | |
scheint ein Widerspruch zu sein. Die Leinwand der Graffiti ist das | |
öffentliche Stadtbild, die Szene der Sprayer*innen dahinter liegt im | |
Verborgenen. Sie fliehen vor dem Druck der Gesellschaft in eine andere | |
Welt, treffen sich heimlich, bleiben anonym. Doch die Resultate sind | |
sichtbar, provozieren und vermitteln manchmal auch eine Botschaft. Graffiti | |
können auch politisch sein, hier kommt es aber ganz stark auf den*die | |
Sprayer*in an. „Die Meisten sehen viel mehr das Künstlerische im Graffiti, | |
die Verbreitung ihres Namens und den ihrer Crew in der Szene. Manche wollen | |
auch politische Statements setzten“, sagt Arne. Diese Statements sind dann | |
oft polizeifeindlich und antifaschistisch. | |
Während die beiden weiterlaufen, sieht sich Arne die ganze Zeit um. Nach | |
neuen Spots. Die beiden überlegen, wie man mit einem Seil über die Mauer | |
klettern könnte, sie erzählen, manche malten kopfüber, um die besten Orte | |
zu erreichen; die Wände, die man aus dem Zug sieht, die man von großen | |
Straßen sieht, die über der Stadt thronen. | |
Dann stehen sie vor einem ihrer Pieces. Es ist mindestens 2 Meter hoch und | |
3 Meter lang. „Das haben wir in 5 Minuten gemalt“, erzählt Isa. | |
Damals waren sie zu dritt. Sie erklären den Vorgang: Eine*r steht Schmiere | |
und hält Ausschau nach unerwünschten Zuschauer*innen, der*die Andere malt | |
die Outlines, also die Außenlinien der Motive. Der*die Dritte fängt an, | |
den ersten Buchstaben auszufüllen. „Bei dem hier hat jemand die Bullen | |
gerufen von der Straße aus. Lustig, das letzte Mal, als ich hier war, bin | |
ich den Weg entlang gerannt“, erzählt Isa. | |
Die Bullen. Ein ewiges Katz-und-Maus-Spiel. Isas Meinung nach verschwende | |
die Polizei zu viel Zeit mit der Jagd auf Sprayer*innen. „Es gibt so viele | |
schlimmere Straftaten, die die Polizei vernachlässigt.“ Sowohl die | |
Bundespolizei als auch die Landespolizei Hamburg äußern sich dazu | |
einstimmig: Es sei ihre Aufgabe, alle festgestellten Straftaten konsequent | |
zu verfolgen. Einen Ermessensspielraum gebe es hierbei nicht, egal ob | |
Kapitalverbrechen, Ladendiebstahl oder Graffiti. | |
## Mehr Zeit zum Sprayen | |
Im Jahr 2020 sind der Polizei Hamburg 3.959 Fälle von Sachbeschädigung | |
durch Graffiti gemeldet worden. Das sei ein Anstieg um 18,2 Prozent im | |
Vergleich zum Vorjahr. Der Sprecher der Bundespolizei schließt einen | |
Zusammenhang mit der Coronapandemie nicht aus. Auch das vermehrte Abstellen | |
von Zügen durch die Pandemie habe die Gelegenheitsstrukturen für | |
Sprayer*innen „wesentlich verbessert“. | |
Den Anstieg der Pieces bedingt durch die Coronapandemie sieht auch Isa. | |
„Ich habe durch Corona viel mehr Zeit zum Sprayen. Statt feiern zu gehen, | |
trifft man sich jetzt samstags zum Malen“, erklärt sie. Mehr | |
Sprayer*innen seien es nicht unbedingt geworden, nur mehr Zeit. „Im | |
ersten Lockdown war es heftig. Die Straßen waren nachts wie leergefegt. Man | |
konnte sogar in der Innenstadt malen“, erzählt Arne. Das machen sie sonst | |
eher nicht. Irgendwer schaue halt immer aus dem Fenster. | |
„Züge sind die Königsdisziplin“, erzählt Arne. Wegen der Bewachung. „I… | |
habe gerade angefangen, Züge zu malen. Und unter den Zügen gibt es nochmal | |
Abstufungen. Man fängt mit S-Bahnen an und endet mit ICEs. Die werden krass | |
bewacht.“ Wenn er nicht erwischt wird, fährt sein Kunstwerk durch Hamburg. | |
Und zwar höchstens ein paar Tage, denn die Züge werden sehr oft gesäubert. | |
Manch- | |
18 Apr 2021 | |
## AUTOREN | |
Nele Aulbert | |
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