# taz.de -- Spazieren als Beruf: Aus dem Haus, geradeaus | |
> Martin Schmitz ist Spaziergangswissenschaftler und damit Vertreter einer | |
> Disziplin, in der es nicht nur auf reflektiertes Herumlaufen ankommt. | |
Bild: Martin Schmitz unterwegs in Berlin | |
Er trägt in der Hand einen eleganten Spazierstock, an den Füßen | |
Wanderschuhe, auf dem Rücken einen Rucksack mit Büchern, die er selbst | |
verlegt: Martin Schmitz, 1956 geboren, ist Spaziergangswissenschaftler. | |
Sein großer Lehrer: Lucius Burckhardt. Der hat die Disziplin, die Schmitz | |
heute an der [1][Kunsthochschule Kassel] unterrichtet, in den 1980er Jahren | |
erfunden – als Ansatz für Stadt- und Landschaftsplaner. Er war ein | |
„Universalgelehrter“, wie Martin Schmitz ihn beschreibt, ein | |
Wissenschaftskritiker und umtriebiger Geist. | |
Spaziergangswissenschaft – das klingt unbedarft. Was soll es am | |
Spazierengehen zu fachsimpeln geben? Doch hinter der Disziplin verbirgt | |
sich ein kritischer Blick auf die Welt und ihre Macher*innen, politischer | |
Impetus – und sanfte Ironie. Eine Einführung in die | |
Spaziergangswissenschaft (auch Promenadologie oder Englisch „Strollology“) | |
will Schmitz uns geben, quasi ein erstes kleines Seminar. | |
Anders als dem Philosophen Jean-Jacques Rousseau etwa, der den | |
[2][Spaziergang zum Ordnen der eigenen Gedanken] propagierte, geht es | |
Schmitz um die bewusste Wahrnehmung der Umwelt. Und um Bewegung. „Wenn man | |
eine Aussage über einen Raum treffen möchte, dann muss man sich darin | |
bewegen“, sagt Schmitz. „Unsere Wahrnehmung ist im Prinzip dann der | |
Quotient aus unseren Milliarden von Eindrücken, die wir haben, und den | |
Dingen, die wir gelernt haben.“ Er überquert den Zebrastreifen vor seiner | |
Haustür in der Dresdener Straße in Berlin-Kreuzberg. Und dann geht es los. | |
## Er spricht lieber im Gehen als im Stehen | |
Lektion eins: Wahrnehmen. „Das hier ist eine Stadtplanung, die natürlich | |
was macht …?“, fragt Schmitz während er lehrermäßig mit dem Spazierstock | |
auf eine Straßenbiegung zeigt, wo ein Fußgängergeländer steht. „Für jeden | |
Autofahrer ist das hier die Versicherung: Da kann ich Gas geben“, antwortet | |
er schließlich selbst. Schnee säumt die Straßenränder. Es riecht nach | |
Abgasen. Die Ecke vor seinem Haus sei aus der Perspektive der | |
Autofahrerinnen und Autofahrer geplant worden. Auch der Zebrastreifen an | |
der nächsten Ecke sei unsinnig. „Das ist ein Alibizebrastreifen. Der ist | |
da, damit man sagen kann: Berlin hat ja ganz viele Zebrastreifen.“ | |
Lektion zwei: Zusammenhänge erkennen. Es lohne sich, zu hinterfragen, was | |
sich hinter den Dingen verbirgt, die uns in der Stadt umgeben. Welche | |
Zusammenhänge, welche Absichten. Warum ist dieses Schild an jener Stelle? | |
„Das ist ja alles menschengemacht“, sagt Schmitz. Alles Gestaltung: | |
„Stadtplanung ist das größte Ding, was zu gestalten ist. Aber man kann das | |
runterbrechen bis zum Eierbecher.“ | |
Schmitz spricht viel, aber lieber im Stehen als im Gehen. Er plädiert | |
dafür, sich ein sonniges Plätzchen zu suchen, und hält das Gesicht in das | |
warme Licht, das sich jetzt durch die Wolken bahnt; eine Hand in der Tasche | |
seiner Kordhose, den Arm auf den Stock gestützt. „Hier ist es schön“, ste… | |
auf dem Stockwappen. Der Ausdruck ist für die Spaziergangswissenschaft | |
Programm. „An jedem Ort hat er seine Gültigkeit, und dann kann man fragen: | |
Ist es hier schön? Ja? Nein? Warum?“ | |
## Wertfrei auf das Gegenwärtige konzentrieren | |
Lektion drei: Wahrnehmungskonventionen hinterfragen – auch das tut die | |
Spaziergangswissenschaft. [3][„Warum ist Landschaft schön?“,] heißt ein | |
Buch des Schweizer Soziologen Lucius Burckhardt, das Schmitz verlegt. | |
Schmitz verwaltet heute dessen Nachlass. Landschaft, so Burckhardt, | |
entstehe in den Köpfen. Sie sei erlernt und konstruiert. | |
Schmitz erklärt, wer von einem Spaziergang wiederkäme, beschreibe häufig | |
das Erwartete – nicht die Dinge, die das bekannte Bild stören, wie zum | |
Beispiel den Müll. „Wir reden dann davon: ‚Das ist typische Berliner | |
Gründerzeitbebauung‘ oder ‚ganz typische Brandenburger Landschaft‘. Das | |
sind aber Dinge, die bringen wir mit, die haben wir gelernt.“ Wichtig beim | |
Spazierengehen sei es, mit diesen Bildern zu brechen. | |
Die Spaziergangswissenschaft war zu Burckhardts Zeiten an der damaligen | |
Gesamthochschule und heutigen Universität Kassel im Fachbereich | |
Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung angesiedelt. Sie eint planungs- | |
und bauwissenschaftliche, soziologische, kunst- und kulturwissenschaftliche | |
Perspektiven. Erinnert aber auch an die Phänomenologie und das Konzept der | |
Achtsamkeit: Das was ist, wahrzunehmen und sich wertfrei auf das | |
Gegenwärtige zu konzentrieren, anstatt auf die Gedanken im Kopf. | |
Zwischendurch geht es um Geschichte. Die Spaziergangswissenschaft hat seit | |
jeher auch etwas Politisches, etwas Aktivistisches (Lektion vier). Sie sei | |
eine Fortführung der Städtebaukritik der 60er und 70er Jahre. Aber ihre | |
Ursprünge reichen noch weiter zurück. | |
## Warum ist Schnee schön? | |
Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte die gotische Innenstadt in Basel | |
autogerecht umgebaut und ganze Häuserzeilen abgerissen werden. Burckhardt | |
habe sich 1949 als einer der wenigen früh dagegengestellt. Auch als Schmitz | |
bei Burckhardt in Kassel studierte, sei es darum gegangen, sich zu | |
engagieren: „Ich bin damals auch zum Retter der Straßenbahn in Kassel | |
geworden“, sagt Schmitz. Es wirkt, als sei er immer noch stolz. | |
Wir laufen noch ein Stück. Bis zur Brücke vor dem Engelbecken. Dorthin, wo | |
einmal die Mauer verlief. Die Kuppel der Sankt Michael Kirche glänzt türkis | |
vor der dunklen Wolkenwand. Unverhofftes Idyll. Vor allem auch durch den | |
Schnee. Aber warum ist Schnee eigentlich schön?, frage ich mich. Ist er | |
doch kalt und bloß Matsch. Zwei Mädchen in dicken Jacken bauen einen | |
Schneemann. Auch sie gestalten. Und es wird deutlich: Jeder Spaziergang | |
hält nur für einen Moment. | |
Spaziergängerinnen und Spaziergänger gibt es an diesem Tag viele. Unter der | |
Brücke, auf der wir stehen bleiben, gehen Menschen ihrer Wege, manche Hand | |
in Hand. Der ehemalige Luisenstädtische Kanal, der heute ein Weg ist, | |
erinnert mich durch den gefrorenen Schnee an eine Schlittschuhbahn. Schmitz | |
hingegen fällt auf, dass an diesem Ort Pflegebedarf besteht. „Das sieht man | |
an den Sprayern“, sagt er. Zeigt auf die Graffiti uns gegenüber und | |
unternimmt einen Perspektivwechsel: „Die Sprayer versuchen ja ganz | |
risikoreich zu sprayen – dort wo sie sofort entdeckt werden können.“ | |
Lektion fünf: der Perspektivwechsel – auch darum geht es in der | |
Spaziergangswissenschaft. In dem Buch „Warum ist Landschaft schön?“ lese | |
ich später, wie Lucius Burckhardt mit Studierenden die Frankfurter Straße | |
in Kassel langgelaufen ist – mit Windschutzscheiben vor dem Gesicht. Es sei | |
darum gegangen, die Autoperspektive aufzuzeigen. Und die Beschränktheit | |
ihrer Wahrnehmung zu kritisieren. Dabei erinnert die Wissenschaft an | |
Aktionskunst. Das Buch mit den Texten von Burckhardt händigt mir Schmitz am | |
Ende des Spaziergangs aus – quasi als Handout. Aber vorher wird es noch mal | |
kritisch. | |
## Kein autoritäres Expertentum | |
Lektion sechs: Wissenschaftskritik. Wichtig bei der | |
Spaziergangswissenschaft sei auch die Kritik an der Wissenschaft als | |
solche. „Wir nennen solche Forschung mangels eines besseren Ausdrucks | |
Kunst“, habe Burckhardt zu Lebzeiten über die Spaziergangswissenschaft | |
gesagt. Auf dem Flur von Schmitz’ Institut hänge heute aber tatsächlich ein | |
Schild mit der Aufschrift „Institut für Spaziergangswissenschaft“, beteuert | |
er. Wenn Schmitz erzählt, dann stets mit verschmitztem Lächeln – da ist | |
sie: die feine Ironie. | |
Er deutet beim Zurückgehen auf einen Laubengang, der an einem der Häuser in | |
der Waldemarstraße angebracht ist. Erzählt von seiner ersten Begegnung mit | |
Burckhardt, während seines Studiums. Nicht nur seine Forschung, auch sein | |
Wesen habe ihn fasziniert. Damals, mit 20 Jahren, ging er durch einen | |
ähnlichen Gang in Kassel. „Ob ich wüsste, warum die Gänge hier so schmal | |
seien“, habe Burckhardt gefragt. Und erzählt, dass der Gang von einem | |
Professor des Fachbereichs geplant wurde, „damit die Studenten ihm | |
hinterherlaufen wie die Entlein.“ | |
## Punk sein im Kopf | |
So wie Burckhardt, den Schmitz als bescheiden beschreibt, mag auch er kein | |
autoritäres Expertentum. In den 80ern hat er zwischen Berlin und Kassel | |
gelebt. In Westberlin bekam er die sogenannte geniale Dilettanten-Kultur | |
mit. Sie einte Menschen, die über die Grenzen der Genres hinweg Kunst und | |
Musik machten und Kulturkritik betrieben. Schmitz war fasziniert, damals | |
mehr Hippie als Punk – „aber im Kopf kann man ja auch Punk sein“ | |
Schmitz friert – doch seine Wohnung ist fast wieder erreicht: „Ich habe | |
damals sehr viel in der Staatsbibliothek gesessen und über den Begriff des | |
Dilettanten geforscht“, erzählt er noch. Er überlegte damals, zu | |
promovieren. Doch eine Promotion über das Dilettantentum? Das habe sich | |
nicht vertragen. | |
In seinem Verlag vertreibt er heute auch Werke von Menschen, die er damals | |
kennenlernte: Wolfgang Müller, Françoise Cactus, Rosa von Praunheim. Mit | |
der Spaziergangswissenschaft gemein hätten die „genialen Dilettanten“ nicht | |
nur das Kritische, sondern auch das Spartenübergreifende. Und noch etwas: | |
die Kunst. | |
21 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.kunsthochschulekassel.de/personen/schmitz-martin.html | |
[2] https://www.deutschlandfunkkultur.de/philosophie-des-spazierens-in-gedanken… | |
[3] https://www.deutschlandfunkkultur.de/plaedoyer-gegen-eine-naive-naturwahrne… | |
## AUTOREN | |
Lea De Gregorio | |
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