# taz.de -- Ausstellung über Lucius Burckhardt: Der Spaziergang ist politisch | |
> Zum 100. Geburtstag des Schweizer Stadtforschers Lucius Burckhardt ist in | |
> Basel eine Ausstellung zu sehen. In Kassel findet zudem ein Kongress | |
> statt. | |
Bild: „Denkmal nach“. Eine Aktion von Lucius Burckhardt, 1975 | |
Lucius Burckhardt steht am Pult der Weimarer Jakobskirche und spricht. Es | |
ist Juni 1994, auf Einladung des Studierendenpfarrers ist er, der Schweizer | |
Soziologe, Architektur- und Urbanismuskritiker, eingeladen, eine „Predigt“ | |
zu halten. Seine Tätigkeit als Gründungsdekan der neuen Gestaltungsfakultät | |
der Bauhaus-Universität Weimar hat er gerade abgeschlossen. | |
„Bloß kein neues Bauhaus!“, postuliert er unter Verweis auf die 1919 am | |
gleichen Ort von Walter Gropius gegründete Kunst- und Designschule. Er | |
wettert gegen die „Meister“ der architektonischen Moderne und ihre am | |
Reißbrett entworfenen Großprojekte – gegen Oscar Niemeyers Brasília und Le | |
Corbusiers Chandigarh. | |
Er verdammt auch das Prinzip einer „sauberen Lösung“ des europäischen | |
Nachkriegsstädtebaus, seine Abrisswut und „maximalen Eingriffe“ in die | |
Stadt, die ein urbanes Zusammenleben rein ingenieurhaft organisierten. | |
Zumal entgegen jeder Nachhaltigkeit. | |
## Zwei Gedankenspiele, eine Haltung | |
Aus seiner Predigt prägen sich vor allem zwei Gedankenspiele ein. Der erste | |
Gedanken – „Ich komme nicht aus ohne diese Erzählung, aber ich glaube | |
nicht, dass sie weit reicht“ – bezieht sich auf den Marxismus, der zweite | |
auf das Christentum: „Die Auferstehung gibt es, wir sind nur unfähig, daran | |
zu glauben.“ | |
Weder Marxist noch gläubiger Christ also war der 2003 verstorbene | |
Intellektuelle – aber er ist bis heute ein Säulenheiliger. Die vierte | |
Ausgabe „Lucius Burckhardt Conventions“, die kürzlich an der | |
Kunsthochschule Kassel stattfand, bewies dies einmal mehr. Reinhard Franz, | |
Dozent an der Bauhaus-Universität Weimar, hatte den Film mit der Predigt | |
nach Kassel mitgebracht. Es ist das einzige existierende Filmdokument eines | |
kompletten Vortrags von Burckhardt. Anlass der diesjährigen Convention: | |
Burckhardt wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. | |
Eingeladen hatte Martin Schmitz gemeinsam mit Design-Studierenden der | |
Hochschule. Schmitz war Student bei Burckhardt, der dort von 1973 bis 1997 | |
als Professor für die Sozioökonomie urbaner Systeme lehrte. Als jetziger | |
Inhaber der „Lucius & Annemarie Burckhardt Professur“ ist Schmitz in seinem | |
anderen Leben Verleger. | |
## Wissenschaft des Spaziergangs | |
Die Publikationen mit den Schriften Burckhardts zählen zu den bekanntesten | |
seines kleinen Berliner Verlags. Burckhardts Forschungskonzepte wie das der | |
[1][„Spaziergangswissenschaft“] oder Titel wie „Warum ist Landschaft | |
schön?“ oder „Der kleinstmögliche Eingriff“ sind längst Klassiker | |
kritischer Planungs- und Designtheorie. | |
In seinem Text „Design ist unsichtbar“ von 1980 beschrieb Burckhardt etwa, | |
dass Design nicht nur die sichtbare Gestaltung von Objekten ist, sondern | |
tief mit unsichtbaren sozialen, kulturellen und organisatorischen | |
Strukturen verbunden ist, mit Machtverhältnissen und | |
Gesetzgebungsverfahren. | |
Burckhardt vertrat einen relationalen Planungsansatz und entfernte sich | |
damit weit von der lange vorherrschenden Idee einer „Guten Form“. Deren | |
[2][Gestaltungsprinzipien] waren in den 1950ern vom [3][Deutschen Werkbund] | |
geprägt worden, dem Burckhardt später selbst vorstand. | |
## Zunehmende Digitalisierung der Gestaltung | |
Heute, da zunehmend algorithmische Prozesse in die Gestaltung einfließen, | |
wird sein relationaler Planungsansatz umso interessanter. Der Kongress in | |
Kassel hätte durchaus davon profitieren können, Burckharts Fragestellungen | |
ins Jetzt zu heben. Man wählte aber zumeist den Blick in die Historie: Der | |
Künstler Wolfgang Müller erzählte etwa, wie er in seiner ehemaligen | |
Kreuzberger Galerie als Erster die landschaftstheroretischen Aquarelle | |
Burckhardts zeigte, bei einem anderen Gespräch ging es um Stadtwandern in | |
Rom. | |
So wurde man gefühlt in die 1990er Jahre versetzt, als der Situationismus | |
und die Psychogeografie einmal mehr wiederentdeckt wurden. Dabei wäre es | |
sicher interessant gewesen, zu hören, ob sich Burckhardts Text „Wer plant | |
die Planung?“ bei einem heutigen KI- und datengesteuerten Städtebau in ein | |
„Was plant die Planung?“ überführen ließe. | |
Allein der Vortrag von Anne Brandl, Anette Freytag und Caspar Schärer über | |
das „Agglowandern“ knüpfte an Aktuelles an. Sie überlegten: Wenn | |
Mitarbeiter*innen verschiedener Verwaltungen die Landschaften und | |
Ballungsräume gemeinsam durchwandern, zu denen sie | |
[4][Planungsentscheidungen] treffen, können dann auch neue Sichtweisen für | |
ihre Gestaltung gewonnen werden? Können Agglowanderungen die Arbeit von | |
öffentlichen Verwaltungen so verändern, dass sie sich als „Kuratorin der | |
ästhetischen Fürsorge urbaner Landschaft“ verstehen? Solche Fragen machen | |
Burckhardts Ideen wieder gegenwärtig. | |
## Sonderausgaben über den Jubilar | |
Vertiefen in die Burckhardt’sche Gedankenwelt kann man sich derzeit auch an | |
anderen Stellen: Die Zeitschrift Bauwelt veröffentlichte gerade ein | |
Sonderheft, früher in diesem Jahr erschien eine thematische Ausgabe der | |
Schweizer Zeitschrift werk, bauen + wohnen, deren Chefredakteur Burckhardt | |
von 1962 bis 1972 war. | |
Mit ihr verknüpft ist eine Ausstellung in der Universitätsbibliothek Basel. | |
Diese betont auch die Rolle der Künstlerin Annemarie Burckhardt, Lucius’ | |
Frau. Die beiden waren ein Team. Wie Lucius, der aus dem Basler | |
Großbürgertum stammte, begehrte sie gegen ihre Klassenzugehörigkeit sowie | |
gegen die Nachkriegsnormen autogerechter Stadtplanung auf und kämpfte gegen | |
sinnlose Abrisse, etwa den des alten Stadttheaters Basel. Ohne Erfolg: | |
1975 wurde es gesprengt. | |
4 Jul 2025 | |
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## AUTOREN | |
Martin Conrads | |
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