# taz.de -- Über das Gehen: Antikapitalistische Fortbewegung | |
> Unser Autor geht genauso gerne durch die Welt, wie er alle Vorbeigehenden | |
> beobachtet. Oft ist das Gehen auch politischer als gedacht. | |
Bild: Die längste Wanderung unseres Autoren war von der Wesermarsch bis in die… | |
Das Gehen ist eine olympische Disziplin, eine extrem hässliche, bei der es | |
um die größtmögliche Schrittgeschwindigkeit geht, bis zu 14 km/h. Wenn man | |
normal geht, schafft man etwa 4 km/h. Bei beiden Fortbewegungsarten bewegt | |
man sich schrittweise in aufrechter Haltung auf den Füßen fort, wobei ein | |
Fuß immer den Boden berühren muss. Das gilt für Zweibeiner, bei Vierbeinern | |
müssen es drei Füße sein. Das Laufen ist demzufolge kein (schnelles) Gehen | |
mehr, wohl aber das Marschieren und das Promenieren. | |
Der Nazioffiziersliterat Ernst Jünger schrieb: „Der Bürger promeniert, der | |
Arbeiter marschiert.“ Für jenen schuf der Kulturwissenschaftler Lucius | |
Burckhardt eine ganze „Promenadologie“, für diesen – in seiner soldatisc… | |
Form – entwarf der Filmregisseur Marek Piwowsky einmal eine Reihe neuer | |
Marschierungsweisen für die antikommunistische polnische Armee – ausgehend | |
von einem Monty-Python-Sketch über eine Reihe neuer Gehideen des „Ministry | |
of Silly Walks“. | |
Wenn man wie ich seit 53 Jahren Fußgänger ist, der einige Tausend Kilometer | |
hinter sich hat (mein längster Gang war von der Wesermarsch in die | |
Toskana), dann sieht man, wie jeder Passant anders geht: schlurfend, | |
hinkend, torkelnd, stolz, eitel, herrisch, wild entschlossen, verzagt, | |
zusammengesackt, auf hochhackigen Schuhen stolpernd, mit dem Hintern | |
wackelnd oder mit großen Schritten, mit kleinen, trippelnd. | |
Manchen sieht man dabei auch noch ihren Gemütszustand direkt an: | |
zielorientiert, ratlos, ortsunkundig, gedankenverloren, gelangweilt, | |
grübelnd, wütend, weinend, verbissen. Oder ganz im Gegenteil: die Umgebung | |
aufmerksam studierend – Bäume, Blumen, teure Autos, die Architekturen der | |
Häuser, die Geschäfte, ihre Reklame und ihre Auslagen. Der dandyhafte | |
Schriftsteller Tom Wolfe gab als sein Hobby „Schaufensterbummeln“ an. Aus | |
Kneipen kommende Gruppen gehen laut schnatternd und lachend nach Hause. | |
Vogelbeobachter gehen vorsichtig und schweigend, ihr Fernglas oder Spektiv | |
griffbereit. Hundebesitzer gehen sehr gerne, ebenso wie | |
Wasservogelfütterer, ganz früh am Morgen los. Diese haben oft eine | |
Jutetasche mit altem Brot dabei, jene ein paar Plastiktüten für die Kacke | |
ihres Hundes. | |
## Nachtschwärmer gehen ziellos herum | |
Pariser Wissenschaftler erforschten „Nachtschwärmer“, die ziellos | |
herumgehen. Dabei haben sie das Gefühl, durch die ganze Stadt zu streifen, | |
in Wirklichkeit verlassen sie jedoch ihre Wohngegend nachts so gut wie nie. | |
Leute, die ihnen in einer fremden Gegend entgegenkommen, machen ihnen | |
Angst. Von zwei Papuas weiß ich, wenn ihnen in Papua-Neugineas Hauptstadt | |
Port Moresby ein (weißer) Australier entgegenkommt, dass sie dann die | |
Straßenseite wechseln. Das mache ich hier nachts gelegentlich auch. | |
Für den, der sich auf das Gehen selbst konzentrieren will, empfiehlt sich | |
der Vipassana Walk, eine Form der Meditation: Es ist ein langsames, | |
gewöhnliches Gehen, bei dem man auf die Füße, die den Boden berühren, | |
achtet, genauer: auf den Kontakt der Füße mit der Erde. Eine andere | |
Variante praktizieren die Jainas, indische Bettelmönche, die beim Gehen | |
darauf achten, dass sie keine Insekten zertreten und sogar den Pfützen | |
ausweichen, um das Wasser nicht zu beunruhigen. | |
## Für mehr Achtsamkeit | |
Eine derartige Achtsamkeit erreicht man hier vielleicht nur mit LSD: Ein | |
Freund ging einmal auf einem solchen „Trip“ frohgemut durch den Berliner | |
Tiergarten – über eine Wiese. Plötzlich bemerkte er, wie viele Pflanzen er | |
bei jedem Schritt zertrat oder umknickte. Er blieb stehen und rührte sich | |
nicht von der Stelle und dies für mehrere Stunden lang: bis die Wirkung der | |
Droge nachließ und er sich – wieder fast im Zustand normaler | |
Gleichgültigkeit – traute, weiterzugehen und sich nicht weiter kümmerte. | |
Ich achte auf meinen Gängen immer besonders auf meine Schuhe, dass sie | |
nicht geklebt, sondern genäht und immer gut eingefettet sind, damit sie | |
mich lange begleiten können. Auch um meine Füße mache ich mir stets | |
Gedanken und Sorgen. | |
Wer während der Nazizeit etwas zu verbergen hatte, nahm keine öffentlichen | |
Verkehrsmittel, die oft kontrolliert wurden, sondern ging zu Fuß. Der | |
Klavierstimmer Oskar Huth spricht in seinem „Überlebenslauf“ (2001) von | |
einem „Monstermarsch“, der ihn kreuz und quer durch Berlin führte und das | |
jahrelang, zuletzt bewaffnet. Er druckte heimlich Lebensmittelkarten, die | |
er dann selbst einlöste, um über 100 Juden, die arme Arbeiter bei sich | |
versteckt hatten, mit Butter u. a. zu versorgen. Die Reichen halfen | |
niemandem, meinte er, und dass er zu wenig von diesen Canaillen umgebracht | |
habe. | |
Ich fand bei meinen Märschen über Land überraschend viele zerfledderte | |
Pornohefte und modische Frauenschuhe in den Straßengräben: Beides gehört | |
wohl zusammen: Erst geilten sich die Männer mit den Heften auf und dann | |
verfolgten sie spazieren gehende Frauen, die sich daraufhin ihrer Schuhe | |
entledigten, um schneller flüchten zu können. Auch in der Stadt ist man vor | |
solchen Scheißkerlen nicht sicher, die besoffen herumgrölen, alles | |
verdrecken und überall hinpissen oder irgendwelche Leute überfallen, und | |
sei es mit unsittlichen Anträgen, ich weiß das aus eigener Erfahrung als | |
nächtlicher Fußgänger. Man sollte dem ganzen männlichen Amüsierpöbel | |
verbieten, nach 22 Uhr noch aus dem Haus zu gehen. | |
## Eine Katastrophe für die Wirtschaft | |
Das Gehen in welcher Form auch immer wird einem, mehr noch als von diesen | |
„Men in Sportswear“, von den kapitalistischen Fortschrittlern verübelt. F�… | |
den General Direktor der internationalen Euro Exim Bank Ltd. sind Leute, | |
die zu Fuß gehen, sogar schlimmer als Radfahrer, sie mieten sich nicht | |
einmal ein E-Bike: „Ein Radfahrer ist bereits eine Katastrophe für die | |
Wirtschaft des Landes: Er kauft keine Autos und leiht sich kein Geld, um zu | |
kaufen. Er zahlt nicht für Versicherungen. Er kauft keinen Treibstoff, | |
zahlt nicht für die notwendigen Wartungsarbeiten und Reparaturen. Er | |
benutzt keine bezahlten Parkplätze. Er verursacht keine schweren Unfälle. | |
Er benötigt keine mehrspurigen Autobahnen. Er wird nicht fett. Gesunde | |
Menschen sind weder gebraucht noch nützlich für die Wirtschaft. Sie kaufen | |
keine Medizin. Sie gehen nicht in Krankenhäuser oder zu Ärzten. Dem | |
Bruttoinlandsprodukt des Landes wird nichts hinzugefügt. Ganz im Gegenteil, | |
jedes neue McDonald’s Restaurant schafft mindestens 30 Arbeitsplätze: 10 | |
Kardiologen, 10 Zahnärzte, 10 Diätexperten und Ernährungsberater und all | |
die Menschen, die im Restaurant arbeiten.“ Für letztere gilt im Übrigen, | |
dass sie in einer Schicht bis zu 30 Kilometer gehen. | |
Man sagt, der aufrechte Gang wird zuletzt gelernt. Aber er wird auch zuerst | |
wieder gebeugt: an der Schulbank, am Büroschreibtisch oder bei schwerer | |
körperlicher Arbeit. Die englische Anthropologin Elaine Morgan hat die | |
Theorie aufgestellt, dass es die Frauen waren, die sich als erstes | |
aufrichteten, indem sie ins Wasser gingen, wo sie vor Raubfeinden sicher | |
waren und Meeresfrüchte sammelten. Währenddessen bekamen sie eine glatte, | |
unbehaarte Haut, veränderten sogar ihre weibliche Anatomie und wurden | |
intelligent und verspielt. Ihre unter Wasser geborenen Kinder können sofort | |
schwimmen. Das Gehen an Land müssen diese dagegen wie alle Kinder mühsam | |
lernen. Und „irgendwann fallen sie alle um“, wie eine Altenpflegerin weiß. | |
1 Jul 2021 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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