| # taz.de -- Eine philosophische Annäherung: Die Renaissance des Spaziergangs | |
| > In der Pandemie müssen wir raus. Auf die Straßen, in die Natur. Gehen ist | |
| > mehr als Bewegung, Zeitvertreib und Zerstreuung. | |
| Bild: Als Passanten und Entdecker unterwegs:Menschen am Savignyplatz in Berlin | |
| Die Clubs sind zu, daher geht es auf die Straßen: Denn wir gehen nicht nur | |
| für Bewegung oder Zerstreuung. Nicht nur, um Freund*innen zu treffen, die | |
| wir drinnen nicht mehr sehen wollen/sollen/können. Der Spaziergang erfüllt | |
| auch ein anderes Bedürfnis – das nach Gewissheit. | |
| Wer spaziert, versichert sich seiner selbst. Denn was wir während der | |
| Selbstisolation über uns wissen, beschränkt sich auf wenige Räume: Ich | |
| starre stundenlang im Homeoffice auf einen Bildschirm. Zum Feierabend | |
| schlappe ich 5 Meter weiter auf die Couch; ich starre auf einen anderen | |
| Bildschirm. Meine Welt, das ist meine Wohnung. Jetzt. Und dann gibt es | |
| diese verschwommene Erinnerung an eine vergangene Zeit. | |
| Das Draußen zerrt an uns und wir geben uns hin. Wir spazieren in eine Welt | |
| voller Versionen unserer Selbst. Wir können aufgeregt ein Date im Park | |
| erleben oder mit Freund*innen entspannt lachen. Wir können nach Wochen mit | |
| der*m Partner*in in der Wohnung endlich einsam sein. Wir nehmen | |
| unterschiedliche Positionen ein und versichern uns, dass sie, dass wir noch | |
| funktionieren. | |
| Diese Existenz des Körpers in der Öffentlichkeit macht uns sichtbar und für | |
| andere erfahrbar. Unsere Körper werden zum Statement. Ich bin hier, ich | |
| gehöre hierher – wenn nicht immer, dann doch jetzt und in diesem Moment. | |
| Wer die Straße betritt, betritt die Aufmerksamkeit der anderen. Diese | |
| Aufmerksamkeit bringen wir auch denen entgegen, denen wir begegnen. Beim | |
| Spazieren in der Mittagshitze spüre ich, wie der Schweiß die Schienbeine | |
| des Lieferanten herabrinnt. Im Dezember fühlen wir die Wärme der Maske auf | |
| der Nase der alten Frau. Wir spüren die anderen Menschen und ihre | |
| Befindlichkeiten. Wer sich fragt, wie sich der Jugendliche im Rollstuhl fit | |
| hält, dass er so elegant vom Bordstein rollt, versucht ihn zu fühlen. | |
| ## Das Parfum des alten Manns | |
| Hierin besteht neben der Selbstversicherung ein weiterer Aspekt des | |
| Spazierens: Wir versichern uns unserer Umwelt. Denn im ständigen Feed der | |
| Social-Media-Plattformen hat ihre Darstellung wenige Dimensionen. Es fehlt | |
| ihr natürlicher Gestank. Den können wir erst draußen erschnuppern. Wer über | |
| das Tempelhofer Feld in Berlin geht, kann das Parfüm des alten Manns | |
| riechen oder den Duft der Keksfabrik einige hundert Meter entfernt. | |
| Mit diesen Eindrücken nehmen wir nicht nur wahr, sondern setzen auch in den | |
| Kontext. Wir laufen durch den Park und hören Flugzeuge. Das Gehirn ergänzt | |
| Bekanntes und plötzlich wird uns wieder bewusst: Es sind die letzten Tage | |
| von Tegel. Wir erinnern uns und das Leben wird einfacher. Daraus ergeben | |
| sich neue Informationen zu Bekanntem. Wir erkennen aufs Neue die hässliche | |
| Architektur des Jobcenters und zeichnen im Kopf erst jetzt – denn auf dem | |
| Weg zur Arbeit hatten wir nie die Zeit – eine Timeline von Graffiti und | |
| Farbklecksen, mit denen andere versucht haben, dem Gebäude Würde zu geben. | |
| Die Vergangenheit und die Gegenwart der Orte tun sich vor uns auf und wir | |
| bekommen ein neues Gefühl für das Gefüge der Stadt. Sie wurde von den | |
| Planer*innen nicht zum Leben geschaffen, sondern vor allem für Autos, | |
| Arbeit, Macht. | |
| Diese Planung stören wir als Spazierende. Anfang der 1990er Jahre ging der | |
| Soziologe Lucius Burckhardt, der die [1][Spaziergehwissenschaft] begründen | |
| wollte, mit Studierenden auf einer vielbefahrenen Straße in Kassel | |
| spazieren, jede*r mit einer Windschutzscheibe vorm Gesicht. So bekamen sie | |
| nicht nur den stark verlangsamten Blick von Autofahrer*innen. Vor allem | |
| störten sie. Für diese Störung muss man sich nicht auf eine gefährliche | |
| Straße stellen. Es reicht, in verkleckerter Jogginghose durchs edle | |
| Villenviertel zu gehen. | |
| ## Relikt aus geldfreier Jugend | |
| Der Spaziergang weist nach vorne, zeigt uns Möglichkeiten eines Ortes. | |
| Unsere Coronaspaziergänge ähneln dem Flanieren durch Passagen im 19. und | |
| Anfang des 20. Jahrhunderts. Damals war das nicht nur für Walter Benjamin | |
| ein großes Ding, sondern vor allem für ärmere Menschen, die nun endlich in | |
| Kaufhäuser konnten, in denen sie zwar nichts kaufen, aber doch alles | |
| betrachten konnten. Den Wahnsinn der sich vernetzenden Welt, die | |
| Möglichkeiten des Reichtums, unerreichbare Waren. | |
| Der [2][Schaufensterbummel], ein Relikt aus geldfreier Jugend, bekommt | |
| einen neuen Charakter. Habt ihr gesehen, dass die Bar dichtgemacht hat? | |
| Dafür bauen sie in der Eckkneipe einen neuen Tresen. Und im Café wedelt die | |
| Besitzerin jeden Mittag den Staub vom Bücherregal. Wir empfinden Schmerz, | |
| wenn Läden schließen. Hoffen, wenn im Jugendclub die Wand frisch gestrichen | |
| wird, damit die Sprayer wieder Platz haben. Denn da weiß jemand: Die kommen | |
| wieder. | |
| 1 Jan 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.uni-kassel.de/fb6/person/burckhardt/promenadologie.html | |
| [2] https://www.youtube.com/watch?v=Y29RZpHnkq8 | |
| ## AUTOREN | |
| Johannes Drosdowski | |
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