| # taz.de -- Geschichten zum Jahreswechsel (III): Ein übermächtigtes Nichts | |
| > Caddy ist Schriftsteller und hat zu wenig Geld zum Leben. Eine nicht ganz | |
| > unwahre Geschichte über Geld und Krankheit, Corona und die Bürokratie. | |
| Bild: Caddy ist nicht allein: Akten mit Hartz-IV-Klagen im Berliner Sozialgeric… | |
| „Denn der Übermächtigte, weil er nicht handeln kann, mag sich wenigstens | |
| redend äußern“ | |
| (Johann Wolfgang von Goethe) | |
| Er zappelte als Marionette an der Angel durch den Supermarkt, taumelnd, | |
| ruckartig, fatal abbremsend. „You dirty trouble!“, dachte er, genervt von | |
| seinen Bewegungsstörungen: MS. Caddy kramte in seinen Hosentaschen und | |
| pulte eine 20-Cent-Münze hervor. Dafür würde er kein Brötchen bekommen, | |
| geschweige denn Aufschnitt oder Käse. Er fischte sein Portemonnaie aus der | |
| Jackentasche und entdeckte einen 5-Euro-Schein: Der Tag war gerettet! | |
| Mozzarella, Nudeln, Tomatensoße, ein Brötchen und Gouda sammelte er ein und | |
| ging an die Kasse. Heute wollte er blaumachen und sehen, was passierte, | |
| wenn er nichts tat. Er würde bald 60, davor fürchtete er sich ein wenig, | |
| denn er hatte nichts Besseres zu tun, als Gefühle jedweder Natur zu | |
| entwickeln. | |
| Caddy entriegelte die Haustür und schaute in den Briefkasten. Eine | |
| Institution hatte ihm geschrieben: die selige VG Wort. Er ging in den | |
| vierten Stock, öffnete die Wohnungstür und riss den Brief auf. | |
| „Ausschüttungsauskunft“ stand auf dem ersten Blatt. Caddys Augen suchten | |
| nach einer Zahl. Er fand Ausführungen über Bibliothekstantiemen, | |
| Sonderausschüttungen und Presse-Repros, und darunter: 4–3–2–3 und 4–3. | |
| Die VG Wort tritt für den Schutz journalistischer, wissenschaftlicher, | |
| belletristischer, auch gebloggter Texte ein, also auch von Caddys Artikeln | |
| und literarischen Ergüssen in gebundenen Büchern, die ausgeliehen, kopiert | |
| und vermietet wurden. Er las die Zahl noch einmal, ging die Liste durch. | |
| Nachzahlung seit 2008 stand darüber. Sonst bekam er vielleicht 200 oder 300 | |
| Euro überwiesen, und nun so viel? | |
| Leider kam der diesmal kochend-heiße Regen zu spät: Die Künstlersozialkasse | |
| hatte ihn vor einem halben Jahr aus Sozial- und Krankenversicherung | |
| geworfen, weil er jahrelang zu wenig Geld mit seiner Schreiberei verdient | |
| hatte. Er war eben nur Künstler im Sinne, sich und seinem Ausdruck treu zu | |
| bleiben, nicht in dem, mit seinem Tun für ausreichend Penunzen zu sorgen. | |
| Das hatte er einfach nicht drauf. | |
| Im nächsten Moment überfiel ihn Panik. Er war schon berentet, stockte sein | |
| kleines Alterstaschengeld von 450 Euro mit den 700 von der Grundsicherung | |
| auf. Gelegentliche Einkünfte und die noch viel selteneren Schenkungen | |
| musste er stets dem Amt vorlegen und durfte 30 Prozent davon behalten. Die | |
| Paresen am rechten und linken Bein hatten ihm 2012 eine massive | |
| Gehbehinderung eingebracht, aber damit auch das Merkzeichen G und damit 72 | |
| Euro extra. Geld, das er theoretisch sparen könnte, doch dazu kam es aber | |
| nie: Caddy brauchte zu oft Taxis. | |
| Er hatte das Gefühl, er wäre ein Betrüger, wenn er das dringend benötigte | |
| Extra-Einkommen an der Behörde vorbei in seine Tasche lotsen würde. Aber | |
| Caddys Herz beschleunigte und wehrte sich gegen seine Ehrlichkeit. Er | |
| fürchtete, Sachbearbeiter Müller könnte irgendwann Einsicht in die | |
| Buchungssätze verlangen. Caddy atmete schneller. Er geriet in Anspannung, | |
| weil er dem Staatsdiener und seiner Verwaltung diesen Triumph nicht gönnen | |
| wollte. Er beschloss abzuwarten und nichts zu unternehmen. | |
| Endlich Anerkennung für all die Jahre des Wühlens im Buchstabenstaub, ob | |
| lyrisch, prosaisch, ob Online oder Print, ob arm oder reich, ob verdichtet | |
| oder ausschweifend schwafelnd. Wie oft hatte er kein Geld in den Taschen | |
| gehabt und den eigenen Namen in der Zeitung und auf Büchern zu lesen, war | |
| sein größter Antrieb gewesen und beinahe auch sein einziger Lohn. | |
| Seine Unruhe kehrte in den nächsten Tagen verstärkt zurück. Er konnte an | |
| nichts anderes denken. Er konnte vor allem nicht aufhören zu denken. | |
| Niemals wollte er sich diese Leistung aus den Taschen ziehen lassen, never! | |
| Caddy schlief unruhig und kaum war er wach, ging das Gedankenkarussell | |
| wieder los. Er wehrte sich körperlich gegen seine Aufrichtigkeit, die es | |
| ihm schon oft schwer gemacht. Diesmal sollte es anders sein, diesmal würde | |
| er das Geld jeder Auslieferung verweigern. | |
| Nach acht Tagen hatte er sich noch immer nicht im Griff. Er war ein | |
| übernächtigtes Nichts. „Das ist die Schuldstruktur!“, blökte ihm der | |
| herausgeschrieene Songtext der Tödlichen Doris ins Hirn. Eine Erfindung | |
| fehlgeleiteten Humanismus’, beschloss Caddy, und hoffte, ein für allemal | |
| die überhöhten Ansprüche an die Ethik zu ersticken, die kein Mensch je | |
| erfüllen konnte. | |
| Seit gestern fühlte sich seine linke Gesichtshälfte taub an. Ein tumbes | |
| Flirren zog von der Stirn bis zur Nase, weiter bis an die Schläfe und zum | |
| Kinn. Kein schönes, zartes Insichstecken. Caddys Haut war stumm, wie tot, | |
| nichtssagend fühllos. Vielleicht ein eingeklemmten Nerv. Saß er nicht immer | |
| falsch am Computer? Mit hängenden Schultern und krummem Rücken, den Nacken | |
| eingezogen … Kein Wunder! | |
| „Vielleicht ist es auch die Stirnhöhle“, mutmaßte sein Neurologe am | |
| Telefon. „Lassen Sie doch mal bei Ihrem Hausarzt eine Blutuntersuchung | |
| vornehmen, ob Sie eine Entzündung im Körper haben. Dann können wir | |
| ausschließen, dass es ein MS-Schub ist.“ Und Caddy ließ sich in der Praxis | |
| deckfarbenen Lebenssaft entnehmen, skandinavisch tiefrot. Am nächsten Tag | |
| das Ergebnis: keine Entzündung. Als er am Sonntag danach mit seiner | |
| Freundin im Volkspark spazieren ging, waren seine Beine unerträglich | |
| schwer, er schaffte nur 700 Meter. | |
| Am Tag darauf trat Caddy aus der Haustür und schon nach den ersten | |
| Schritten mäanderte sein linkes Bein, legte bei jedem Tritt einen kleinen | |
| Zwischenschritt ein, zuckte nach vorn und zog dann nach links. Caddy konnte | |
| nicht mehr geradeaus gehen. Er hatte wieder eine Beinparese, einen erneuten | |
| Schub. Wie damals, 2012, als seine Beine plötzlich wegknickten, gerade als | |
| er aus Ingrids Auto steigen wollte. Er war wütend: darüber, dass es jetzt | |
| so weit war. Dass er sich selbst so unter Druck gesetzt hatte und physisch | |
| reagierte. Dass ihm immer fast nichts blieb: 30 Prozent. | |
| Sein Neurologe verabreichte ihm an drei Tagen jeweils ein Gramm Kortison | |
| als Infusion. Als Caddy der langsam in seine Armvene tropfenden Flüssigkeit | |
| nachsann, beschloss er, dem Amt das Geld anzugeben. Nicht sofort, aber am | |
| Monatsende, das waren noch zweieinhalb Wochen. Der Gedanke entledigte ihn | |
| seines inneren Drucks. „Everyday I write the book“: „Wie konnte Elvis | |
| Costello nur so recht haben, über ihn so genau Bescheid wissen?“, rätselte | |
| Caddy, und ging dazu über, Frieden mit den Umständen seines Lebens | |
| schließen zu wollen. | |
| Am nächsten Morgen war das taube Gefühl der linken Gesichtshälfte | |
| verschwunden. Am Abend nach der dritten Infusion hatte sich sein linkes | |
| Bein stabilisiert, es irrte nicht mehr umher, zog nicht nach links. So | |
| schnell war noch kein Schub vorbeigegangen. „Als ich mich entschlossen | |
| habe, das Geld anzugeben, waren die Symptome weg“, erzählte Caddy seinem | |
| Neurologen. „Wenn das kein psychosomatischer Zusammenhang ist!“ | |
| Nachdem er sich entschieden hatte, schlief er besser. Mit krakeliger | |
| Handschrift setzte er einen Brief auf: | |
| „Sehr geehrter … | |
| ich habe von der … sensationellerweise 4.323,43 Euro erhalten. | |
| Mit indoktrinierten Grüßen...“ | |
| Caddy wusste, dass er diesen Brief ewig bereuen würde, aber er hatte | |
| versucht, das Geld so lange wie möglich zu behalten und sich dabei eine | |
| Läsion ins Hirn gebrannt. Er musste nun Rücksicht nehmen auf die staatliche | |
| als auch auf die körperliche Verfassung. Ihm wurde klar: Er hatte | |
| Schuldgefühle, dass er überhaupt da war, anwesend, existierend … Das war | |
| das eigentliche Problem. Geld spielte keine Rolle. | |
| Er legte das Schreiben in ein Kuvert und bewahrte das Papier auf seinem | |
| gläsernen Schreibtisch auf. Die Tage bis zum Ende des Monats verliefen | |
| gleichförmig und angenehm. Er sah fern, ging zum Fußballgucken in seine | |
| Stammkneipe, trank Anisschnaps. Im August wollte er mit Ingrid an die | |
| Ostsee fahren, drei Wochen Urlaub im Ferienhaus ihrer Eltern. Er hatte ja | |
| jetzt Geld. | |
| Am letzten Julitag fuhr er zum Amt und warf endlich den Brief in den | |
| Schlitz neben dem Eingang. Beruhigt konnte er nun ans Meer reisen. Er | |
| verschwendete keinen Gedanken mehr an den Zwist, den er mit sich selbst | |
| ausgefochten hatte. | |
| ## Sehnsucht nach Schreibtisch | |
| Die Ferientage waren gezeichnet von starken Regengüssen. Selten konnte das | |
| Paar in den Deckchairs auf der Naturholzterrasse in der Sonne liegen. An | |
| den Strand gingen sie dennoch oft, Ingrid versuchte an einigen Tagen in der | |
| See zu baden. Meistens aber wagte sie nicht, mit dem ganzen Körper ins Nass | |
| abzutauchen. An drei Abenden besuchte Caddy die örtliche Sportsbar und | |
| schaute sich die Spiele zweier abgestiegener Fußballvereine aus Hamburg an. | |
| An den Donnerstagen gingen sie zu einer Open-Air-Bühne, auf der junge | |
| Nachwuchsmusiker erste Auftritte wagten. Er hatte im Urlaub keine großen | |
| Ansprüche, freute sich auf ein paar Allerwelts-Coverversionen, so verging | |
| wenigstens die Zeit rascher. Das Prinzip der Erholung konnte er nicht | |
| verstehen: Ihm fehlte dabei immer seine Arbeit am Tisch und das Schreiben | |
| als Akt und Prozess. Nur so war er sich nahe. | |
| Am Morgen ihrer Rückkehr öffnete Caddy nach der Ankunft in seiner Wohnung | |
| drei Briefe – alle von seiner zuständigen Administration. Der erste | |
| enthielt eine Aufforderung, die Betriebskostenabrechnung einzusenden. Der | |
| zweite eine Mitteilung über Computersystemumstellungen in den | |
| Dienststellen. Auf dem letzten las er mit trockenem Mund: | |
| „Ablehnungsbescheid“. | |
| Ab dem 1. September habe er keinen Anspruch mehr auf Grundsicherung. | |
| Nichts. Keine monatlichen Überweisungen mehr! Er war fassungslos und rief | |
| seinen Zuständigen an. „Nein, keine 30 Prozent. Werden Ihnen anerkannt … Es | |
| ist Ihre Einmalzahlung, die das generelle Problem ist. Sie erhalten | |
| Leistungen erst wieder ab Februar. Ganz automatisch, Sie brauchen sich | |
| nicht wieder anmelden. Einen schönen Tag noch!“ | |
| Caddy musste also sechs Monate von dem Geld leben und hatte in der Zeit | |
| exakt so viel oder wenig wie der Regelsatz es vorsah, circa 700 Euro | |
| monatlich. Er spürte, wie schwarzes Gift in ihm hochstieg. Abends beschloss | |
| er, Widerspruch einzulegen. Er setzte einen einfachen Schrieb auf, forderte | |
| die 30 Prozent ein, klebte eine Marke auf und ging zum Postkasten. Er | |
| wollte es ihnen zeigen: Mit mir nicht! | |
| ## Salpetersäure und Schlangengift | |
| Caddy ließ den Sachbearbeiter an einer Leine an ein Auto binden und über | |
| harte Pflastersteine schleifen, von einem Bulldozer überfahren und | |
| zermalmen. Er stieß den Hüter der pekuniären Unordnung von einer Klippe, | |
| gab ihm Nägel zu fressen und zwang ihn, mit Glasscherben zu gurgeln. Er | |
| servierte ihm einen Cocktail aus Salpetersäure und Schlangengift. Er | |
| vermummte sich und lauerte ihm auf, schoss dem Angestellten mit einer | |
| Beretta 92S von vorn fünfmal in die Brust. Er fesselte ihn auf einem | |
| Bürostuhl, setzte ein Bolzenschussgerät an seinen mal eben kahlrasierten | |
| Schädel, fokussierte die Schläfe und drückte ab. Er nahm ein | |
| Maschinengewehr, zielte auf seinen Bauch und feuerte mehrere Salven ab. Er | |
| spannte ihn vor eine Kanone und ließ ihn auf einer Kugel reiten, entblößte | |
| ihn, öffnete ihm mit einer Zange den After, ließ eine Ratte in das Gewölbe | |
| krabbeln, die sich durch die Innereien fraß. Er fixierte den Mann auf dem | |
| Boden einer Baustelle und löste einen Betonblock von einem Kran, damit er | |
| platt wurde wie eine Briefmarke. Schubste ihn vor einen Zug und ließ ihn | |
| überrollen, dass ihm das Rückgrat brach. Er befestigte ein 50-Kilo-Gewicht | |
| an seinen Beinen, stieß ihn in ein Bassin voller Piranhas. Gab ihm eine | |
| Spritze mit Heroin, eine hohe Dosis Crack, versetzte das Frühstücksbrötchen | |
| des Mannes mit Strychnin und wünschte ihm einen guten, aber passiven Tag. | |
| Er buddelte ihn in die Erde ein und ließ bei praller Sommersonne stete | |
| Tropfen auf sein kahles Haupt niedergehen, drei Tage lang. Ließ ihn von der | |
| Revolutionsgarde enthaupten … „All das und noch viel mehr … würd’ ich | |
| machen, wenn ich König von Deutschland wär“, begann Caddy, Rio Reiser zu | |
| zitieren. | |
| Nachdem er sich in seinem Rausch besinnungslos ereifert hatte, dämmerte | |
| ihm, dass der Sachbearbeiter nur seine öde Arbeit machte. Und wenn Caddy es | |
| sich recht überlegte, war das Geld, das er bekam, sicherer als jeder Job. | |
| Auch blieben seine Mietzahlungen durch das Ganze nicht aus. Das war mehr | |
| als die unsicheren Zustände der arbeitenden Bevölkerung, allen Schwankungen | |
| des Kapitalismus ausgeliefert. Auch wenn es nur für das Nötigste reichte: | |
| Überleben konnte Caddy. Dass er sein extrem gelegentliches Einkommen | |
| abzuführen hatte, war nur die Parallele zur Entrichtung der Steuern. Auch | |
| wenn er die Viertausendplus nur allzu gut hätte verwenden können: Aufgeregt | |
| hatte er sich darüber schon genug. Er wählte das Digitalalbum | |
| [1][„Reasonreasonreasonreason“] der famosen Band Candelilla auf seinem | |
| Rechner und spielte Track 11. Der klang nach einem starken Slogan … und wie | |
| seine Einsicht: „Hysterie marry me!“ | |
| Caddy beschloss, sich wenigstens etwas Summe wiederzuholen und rief eine | |
| Beratungsstelle an. „Sie brauchen eigentlich nur einen Satz in Ihrem | |
| Widerspruch zu schreiben, denn die Behörde muss das Geld auf ein Jahr | |
| anrechnen“, sagte die freundliche Telefonstimme. „Die selbstständigen | |
| Einkünfte … sind für das Jahr zu berechnen, in dem der Bedarfszeitraum | |
| liegt. Die sind … Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit. Ich bitte um … | |
| Neuberechnung.“ Das fühlte sich schon besser an! Caddy tippte, druckte aus, | |
| warf in den Postkasten und war erleichtert. | |
| Am nächsten Tag berichtete er seiner Mutter von der ganzen Angelegenheit. | |
| Die schickte ihm per Post einen ausgefüllten Lottoschein, den er nur noch | |
| abzugeben brauchte. „Man muss dem Glück die Chance geben, einen zu finden“, | |
| hatte sie auf den beiliegenden Zettel geschrieben. Er nickte müde, gab den | |
| Schein beim nächsten Einkauf ab. Nach 24 Stunden des Wartens eine Minute | |
| der Wahrheit: Caddy hatte zwei bis drei Richtige – auf dem ganzen Schein. | |
| ## Tausend Seiten Leben | |
| Über ein Jahr wartete Caddy auf das Ergebnis seines Widerspruchs. | |
| Währenddessen ging die Coronapandemie mehrmals um die Welt und raffte über | |
| 1,5 Millionen Menschen dahin … Sie waren einfach tot. Caddy war fünffach | |
| vorerkrankt, fürchtete das Virus und begann bereits Ende Januar, in einer | |
| panischen Vorahnung, fieberhaft seine autofiktionale Autobiografie zu | |
| schreiben. Er kam nach vier Monaten auf 1.000 Seiten und begann mit der | |
| mehrfachen Überarbeitung. | |
| Das für Caddy zuständige Amt arbeitete trotz Covid-19 nicht schneller. Sein | |
| Anliegen war inzwischen vom Grundsicherungsamt an das Rechtsamt delegiert | |
| worden, das auch nach einem weiteren halben Jahr nichts von sich hören | |
| ließ. | |
| Caddy ließ sich noch einmal beraten und setzte der zuständigen Behörde eine | |
| Pistole auf die Brust, von der er wusste, dass sie nur mit aufgeweichten | |
| Erbsen gefüllt war: eine Frist von einem Monat. Wahnsinnig brutal. Wenn der | |
| zuständige Bearbeiter dann noch immer nicht reagieren sollte, kündigte er | |
| an, eine UNTÄTIGKEIT-S-KLAGE einzureichen. | |
| Caddy wartete ohne jede Zuversicht. Ihm schwante äußerst Dunkles, das | |
| manchmal ins fantastisch modulierte Aubergine changierte. Er hatte | |
| berechnet, dass ihm für das halbe Jahr 1.200 Euro zustünden, nur glauben | |
| tat er daran nicht mehr. Drei Tage vor Ablauf der Frist erreichte ihn das | |
| behördliche Schreiben. Caddy wurde mitgeteilt, dass der vor 13 Monaten | |
| getroffene Beschluss rechtens sei und „einmalige Einnahmen im Zeitraum von | |
| sechs Monaten gleichmäßig zu verteilen seien“. Er hatte also nichts zu | |
| erwarten, ging so leer aus, wie er sich fühlte. | |
| Caddy gab sich auch damit keineswegs zufrieden und befragte die Öffentliche | |
| Rechtsauskunft, die ÖRA. Die dort nebenberuflich arbeitende Richterin | |
| bestätigte ihm die Ordnungsgemäßheit des Bescheids. „Eine Klage wegen | |
| Untätigkeit ist ja jetzt hinfällig, weil sich das Amt innerhalb der von | |
| Ihnen gesetzten Frist rechtzeitig gemeldet hat. Eine Klage gegen das | |
| Verteilen Ihres Einkommens auf sechs statt zwölf Monate wäre aussichtslos | |
| und damit nicht empfehlenswert.“ Außer einem beinahe unbeteiligt | |
| abnickenden Muskelreflex entfuhr Caddy nur ein müdes Lächeln. | |
| „Können Sie denn mit diesem Ergebnis leben?“, fragte die Richterin und | |
| versuchte versöhnlich einzuwirken. „Ich meine, eine Klage ist ja immer auch | |
| ein seelischer Prozess. Wie geht es Ihnen nun damit?“ | |
| „Ich bin ja Autor und habe eine Episode über diesen Vorfall verfasst und | |
| mich dadurch ein kleines bisschen gerächt.“ | |
| „Das ist doch ein guter Weg“, beendete das ÖRAkel das Gespräch. | |
| Es war also gleichgültig, ob er arbeitete oder jahrelang betrunken in einen | |
| Fernseher starrte. Von wegen „Leistungsgesellschaft“. Caddy war froh, | |
| bereits im Alter von 13 Jahren beschlossen zu haben, kein nützliches | |
| Mitglied dieser Company BRD werden zu wollen. Ihn hatten schon damals die | |
| Umtriebe der RAF fasziniert. So konnte es nicht weitergehen, das war ihm | |
| 1973 bewusst geworden, als die Hungerstreiks begannen. Ihm schien, als | |
| hätte er un- wie unterbewusst ebenfalls die Essensaufnahme bestreikt und | |
| am Mittagstisch sämtliche Gerichte verweigert, bis auf „Eis und heiß“, den | |
| Nachtisch. Einfach, weil ihm generelle Verständnislosigkeit | |
| entgegengebracht worden war, solange er denken und daher nicht essen wollte | |
| und schließlich nicht konnte. | |
| Seinen Kampf führen aber würde Caddy in Zukunft mittels der Zersetzung | |
| jeglicher Übereinkünfte vornehmlich kultureller, aber abgrundtief | |
| verwurzelter, gesellschaftlicher Zeichensysteme … Das schien ihm | |
| sympathisch: eine riesige, freie Spielwiese, auf der eine unberechenbare | |
| Sprengkraft entfacht werden konnte mit ungeahnter Wirkung auf die | |
| diversifizierten Menschengeschlechter. | |
| Denn, das ahnte er in Anbetracht der fatalistischen Biografien seiner | |
| Ahnen: Für den Untergang brauchte es keine Kriege. Das erledigte auch der | |
| Alltag, ob mit oder ohne Corona. Normal war nur der Tod. | |
| Ohne sich allzu viel Hoffnung zu machen, stellte Caddy beim Sozialfonds der | |
| VG Wort einen Antrag auf „Ausgleichszahlung wegen systembedingter | |
| Ungerechtigkeit“. Keine halbe Stunde nachdem er die Mail abgeschickt hatte, | |
| meldete sich eine freundliche Mitarbeiterin der Verwertungsgesellschaft und | |
| instruierte ihn, schnellstens noch fehlende Informationen zu senden und | |
| diverse Formulare. Sie könnten ihm zwar kein Geld überweisen, weil das Amt | |
| es einbehalten würde, aber „zweckgebundene Sachleistungen“ könnten sie | |
| erstatten – außer technischen Geräten, die würden nicht finanziert. | |
| Caddy entschied sich für einen neuen Bodenbelag im Schlaf- und | |
| Arbeitszimmer und eine neue Matratze. Diese Dinge benötigte er seit über 12 | |
| Jahren und konnte sie sich bisher nie leisten. Am 25. November sollte die | |
| Sitzung stattfinden, auf der die Organisation über die vielen Anträge | |
| entschied. Als er am 7. Dezember noch immer nichts gehört hatte, begrub er | |
| seine letzten Hoffnungen. | |
| Am nächsten Tag bemerkte er fast nebenbei den Eingang von 1.000 Euro auf | |
| seinem Konto. Wer hätte das gedacht?! Das fühlte sich doch gleich viel | |
| besser an. Der Sozialfonds gab ihm den Glauben an Gerechtigkeit zurück – | |
| und auch seine Motivation zum Schreiben kehrte wieder. | |
| 1 Jan 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://candelilla.bandcamp.com/album/reasonreasonreasonreason | |
| ## AUTOREN | |
| Carsten Klook | |
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