# taz.de -- Geschichten zum Jahreswechsel (III): Ein übermächtigtes Nichts | |
> Caddy ist Schriftsteller und hat zu wenig Geld zum Leben. Eine nicht ganz | |
> unwahre Geschichte über Geld und Krankheit, Corona und die Bürokratie. | |
Bild: Caddy ist nicht allein: Akten mit Hartz-IV-Klagen im Berliner Sozialgeric… | |
„Denn der Übermächtigte, weil er nicht handeln kann, mag sich wenigstens | |
redend äußern“ | |
(Johann Wolfgang von Goethe) | |
Er zappelte als Marionette an der Angel durch den Supermarkt, taumelnd, | |
ruckartig, fatal abbremsend. „You dirty trouble!“, dachte er, genervt von | |
seinen Bewegungsstörungen: MS. Caddy kramte in seinen Hosentaschen und | |
pulte eine 20-Cent-Münze hervor. Dafür würde er kein Brötchen bekommen, | |
geschweige denn Aufschnitt oder Käse. Er fischte sein Portemonnaie aus der | |
Jackentasche und entdeckte einen 5-Euro-Schein: Der Tag war gerettet! | |
Mozzarella, Nudeln, Tomatensoße, ein Brötchen und Gouda sammelte er ein und | |
ging an die Kasse. Heute wollte er blaumachen und sehen, was passierte, | |
wenn er nichts tat. Er würde bald 60, davor fürchtete er sich ein wenig, | |
denn er hatte nichts Besseres zu tun, als Gefühle jedweder Natur zu | |
entwickeln. | |
Caddy entriegelte die Haustür und schaute in den Briefkasten. Eine | |
Institution hatte ihm geschrieben: die selige VG Wort. Er ging in den | |
vierten Stock, öffnete die Wohnungstür und riss den Brief auf. | |
„Ausschüttungsauskunft“ stand auf dem ersten Blatt. Caddys Augen suchten | |
nach einer Zahl. Er fand Ausführungen über Bibliothekstantiemen, | |
Sonderausschüttungen und Presse-Repros, und darunter: 4–3–2–3 und 4–3. | |
Die VG Wort tritt für den Schutz journalistischer, wissenschaftlicher, | |
belletristischer, auch gebloggter Texte ein, also auch von Caddys Artikeln | |
und literarischen Ergüssen in gebundenen Büchern, die ausgeliehen, kopiert | |
und vermietet wurden. Er las die Zahl noch einmal, ging die Liste durch. | |
Nachzahlung seit 2008 stand darüber. Sonst bekam er vielleicht 200 oder 300 | |
Euro überwiesen, und nun so viel? | |
Leider kam der diesmal kochend-heiße Regen zu spät: Die Künstlersozialkasse | |
hatte ihn vor einem halben Jahr aus Sozial- und Krankenversicherung | |
geworfen, weil er jahrelang zu wenig Geld mit seiner Schreiberei verdient | |
hatte. Er war eben nur Künstler im Sinne, sich und seinem Ausdruck treu zu | |
bleiben, nicht in dem, mit seinem Tun für ausreichend Penunzen zu sorgen. | |
Das hatte er einfach nicht drauf. | |
Im nächsten Moment überfiel ihn Panik. Er war schon berentet, stockte sein | |
kleines Alterstaschengeld von 450 Euro mit den 700 von der Grundsicherung | |
auf. Gelegentliche Einkünfte und die noch viel selteneren Schenkungen | |
musste er stets dem Amt vorlegen und durfte 30 Prozent davon behalten. Die | |
Paresen am rechten und linken Bein hatten ihm 2012 eine massive | |
Gehbehinderung eingebracht, aber damit auch das Merkzeichen G und damit 72 | |
Euro extra. Geld, das er theoretisch sparen könnte, doch dazu kam es aber | |
nie: Caddy brauchte zu oft Taxis. | |
Er hatte das Gefühl, er wäre ein Betrüger, wenn er das dringend benötigte | |
Extra-Einkommen an der Behörde vorbei in seine Tasche lotsen würde. Aber | |
Caddys Herz beschleunigte und wehrte sich gegen seine Ehrlichkeit. Er | |
fürchtete, Sachbearbeiter Müller könnte irgendwann Einsicht in die | |
Buchungssätze verlangen. Caddy atmete schneller. Er geriet in Anspannung, | |
weil er dem Staatsdiener und seiner Verwaltung diesen Triumph nicht gönnen | |
wollte. Er beschloss abzuwarten und nichts zu unternehmen. | |
Endlich Anerkennung für all die Jahre des Wühlens im Buchstabenstaub, ob | |
lyrisch, prosaisch, ob Online oder Print, ob arm oder reich, ob verdichtet | |
oder ausschweifend schwafelnd. Wie oft hatte er kein Geld in den Taschen | |
gehabt und den eigenen Namen in der Zeitung und auf Büchern zu lesen, war | |
sein größter Antrieb gewesen und beinahe auch sein einziger Lohn. | |
Seine Unruhe kehrte in den nächsten Tagen verstärkt zurück. Er konnte an | |
nichts anderes denken. Er konnte vor allem nicht aufhören zu denken. | |
Niemals wollte er sich diese Leistung aus den Taschen ziehen lassen, never! | |
Caddy schlief unruhig und kaum war er wach, ging das Gedankenkarussell | |
wieder los. Er wehrte sich körperlich gegen seine Aufrichtigkeit, die es | |
ihm schon oft schwer gemacht. Diesmal sollte es anders sein, diesmal würde | |
er das Geld jeder Auslieferung verweigern. | |
Nach acht Tagen hatte er sich noch immer nicht im Griff. Er war ein | |
übernächtigtes Nichts. „Das ist die Schuldstruktur!“, blökte ihm der | |
herausgeschrieene Songtext der Tödlichen Doris ins Hirn. Eine Erfindung | |
fehlgeleiteten Humanismus’, beschloss Caddy, und hoffte, ein für allemal | |
die überhöhten Ansprüche an die Ethik zu ersticken, die kein Mensch je | |
erfüllen konnte. | |
Seit gestern fühlte sich seine linke Gesichtshälfte taub an. Ein tumbes | |
Flirren zog von der Stirn bis zur Nase, weiter bis an die Schläfe und zum | |
Kinn. Kein schönes, zartes Insichstecken. Caddys Haut war stumm, wie tot, | |
nichtssagend fühllos. Vielleicht ein eingeklemmten Nerv. Saß er nicht immer | |
falsch am Computer? Mit hängenden Schultern und krummem Rücken, den Nacken | |
eingezogen … Kein Wunder! | |
„Vielleicht ist es auch die Stirnhöhle“, mutmaßte sein Neurologe am | |
Telefon. „Lassen Sie doch mal bei Ihrem Hausarzt eine Blutuntersuchung | |
vornehmen, ob Sie eine Entzündung im Körper haben. Dann können wir | |
ausschließen, dass es ein MS-Schub ist.“ Und Caddy ließ sich in der Praxis | |
deckfarbenen Lebenssaft entnehmen, skandinavisch tiefrot. Am nächsten Tag | |
das Ergebnis: keine Entzündung. Als er am Sonntag danach mit seiner | |
Freundin im Volkspark spazieren ging, waren seine Beine unerträglich | |
schwer, er schaffte nur 700 Meter. | |
Am Tag darauf trat Caddy aus der Haustür und schon nach den ersten | |
Schritten mäanderte sein linkes Bein, legte bei jedem Tritt einen kleinen | |
Zwischenschritt ein, zuckte nach vorn und zog dann nach links. Caddy konnte | |
nicht mehr geradeaus gehen. Er hatte wieder eine Beinparese, einen erneuten | |
Schub. Wie damals, 2012, als seine Beine plötzlich wegknickten, gerade als | |
er aus Ingrids Auto steigen wollte. Er war wütend: darüber, dass es jetzt | |
so weit war. Dass er sich selbst so unter Druck gesetzt hatte und physisch | |
reagierte. Dass ihm immer fast nichts blieb: 30 Prozent. | |
Sein Neurologe verabreichte ihm an drei Tagen jeweils ein Gramm Kortison | |
als Infusion. Als Caddy der langsam in seine Armvene tropfenden Flüssigkeit | |
nachsann, beschloss er, dem Amt das Geld anzugeben. Nicht sofort, aber am | |
Monatsende, das waren noch zweieinhalb Wochen. Der Gedanke entledigte ihn | |
seines inneren Drucks. „Everyday I write the book“: „Wie konnte Elvis | |
Costello nur so recht haben, über ihn so genau Bescheid wissen?“, rätselte | |
Caddy, und ging dazu über, Frieden mit den Umständen seines Lebens | |
schließen zu wollen. | |
Am nächsten Morgen war das taube Gefühl der linken Gesichtshälfte | |
verschwunden. Am Abend nach der dritten Infusion hatte sich sein linkes | |
Bein stabilisiert, es irrte nicht mehr umher, zog nicht nach links. So | |
schnell war noch kein Schub vorbeigegangen. „Als ich mich entschlossen | |
habe, das Geld anzugeben, waren die Symptome weg“, erzählte Caddy seinem | |
Neurologen. „Wenn das kein psychosomatischer Zusammenhang ist!“ | |
Nachdem er sich entschieden hatte, schlief er besser. Mit krakeliger | |
Handschrift setzte er einen Brief auf: | |
„Sehr geehrter … | |
ich habe von der … sensationellerweise 4.323,43 Euro erhalten. | |
Mit indoktrinierten Grüßen...“ | |
Caddy wusste, dass er diesen Brief ewig bereuen würde, aber er hatte | |
versucht, das Geld so lange wie möglich zu behalten und sich dabei eine | |
Läsion ins Hirn gebrannt. Er musste nun Rücksicht nehmen auf die staatliche | |
als auch auf die körperliche Verfassung. Ihm wurde klar: Er hatte | |
Schuldgefühle, dass er überhaupt da war, anwesend, existierend … Das war | |
das eigentliche Problem. Geld spielte keine Rolle. | |
Er legte das Schreiben in ein Kuvert und bewahrte das Papier auf seinem | |
gläsernen Schreibtisch auf. Die Tage bis zum Ende des Monats verliefen | |
gleichförmig und angenehm. Er sah fern, ging zum Fußballgucken in seine | |
Stammkneipe, trank Anisschnaps. Im August wollte er mit Ingrid an die | |
Ostsee fahren, drei Wochen Urlaub im Ferienhaus ihrer Eltern. Er hatte ja | |
jetzt Geld. | |
Am letzten Julitag fuhr er zum Amt und warf endlich den Brief in den | |
Schlitz neben dem Eingang. Beruhigt konnte er nun ans Meer reisen. Er | |
verschwendete keinen Gedanken mehr an den Zwist, den er mit sich selbst | |
ausgefochten hatte. | |
## Sehnsucht nach Schreibtisch | |
Die Ferientage waren gezeichnet von starken Regengüssen. Selten konnte das | |
Paar in den Deckchairs auf der Naturholzterrasse in der Sonne liegen. An | |
den Strand gingen sie dennoch oft, Ingrid versuchte an einigen Tagen in der | |
See zu baden. Meistens aber wagte sie nicht, mit dem ganzen Körper ins Nass | |
abzutauchen. An drei Abenden besuchte Caddy die örtliche Sportsbar und | |
schaute sich die Spiele zweier abgestiegener Fußballvereine aus Hamburg an. | |
An den Donnerstagen gingen sie zu einer Open-Air-Bühne, auf der junge | |
Nachwuchsmusiker erste Auftritte wagten. Er hatte im Urlaub keine großen | |
Ansprüche, freute sich auf ein paar Allerwelts-Coverversionen, so verging | |
wenigstens die Zeit rascher. Das Prinzip der Erholung konnte er nicht | |
verstehen: Ihm fehlte dabei immer seine Arbeit am Tisch und das Schreiben | |
als Akt und Prozess. Nur so war er sich nahe. | |
Am Morgen ihrer Rückkehr öffnete Caddy nach der Ankunft in seiner Wohnung | |
drei Briefe – alle von seiner zuständigen Administration. Der erste | |
enthielt eine Aufforderung, die Betriebskostenabrechnung einzusenden. Der | |
zweite eine Mitteilung über Computersystemumstellungen in den | |
Dienststellen. Auf dem letzten las er mit trockenem Mund: | |
„Ablehnungsbescheid“. | |
Ab dem 1. September habe er keinen Anspruch mehr auf Grundsicherung. | |
Nichts. Keine monatlichen Überweisungen mehr! Er war fassungslos und rief | |
seinen Zuständigen an. „Nein, keine 30 Prozent. Werden Ihnen anerkannt … Es | |
ist Ihre Einmalzahlung, die das generelle Problem ist. Sie erhalten | |
Leistungen erst wieder ab Februar. Ganz automatisch, Sie brauchen sich | |
nicht wieder anmelden. Einen schönen Tag noch!“ | |
Caddy musste also sechs Monate von dem Geld leben und hatte in der Zeit | |
exakt so viel oder wenig wie der Regelsatz es vorsah, circa 700 Euro | |
monatlich. Er spürte, wie schwarzes Gift in ihm hochstieg. Abends beschloss | |
er, Widerspruch einzulegen. Er setzte einen einfachen Schrieb auf, forderte | |
die 30 Prozent ein, klebte eine Marke auf und ging zum Postkasten. Er | |
wollte es ihnen zeigen: Mit mir nicht! | |
## Salpetersäure und Schlangengift | |
Caddy ließ den Sachbearbeiter an einer Leine an ein Auto binden und über | |
harte Pflastersteine schleifen, von einem Bulldozer überfahren und | |
zermalmen. Er stieß den Hüter der pekuniären Unordnung von einer Klippe, | |
gab ihm Nägel zu fressen und zwang ihn, mit Glasscherben zu gurgeln. Er | |
servierte ihm einen Cocktail aus Salpetersäure und Schlangengift. Er | |
vermummte sich und lauerte ihm auf, schoss dem Angestellten mit einer | |
Beretta 92S von vorn fünfmal in die Brust. Er fesselte ihn auf einem | |
Bürostuhl, setzte ein Bolzenschussgerät an seinen mal eben kahlrasierten | |
Schädel, fokussierte die Schläfe und drückte ab. Er nahm ein | |
Maschinengewehr, zielte auf seinen Bauch und feuerte mehrere Salven ab. Er | |
spannte ihn vor eine Kanone und ließ ihn auf einer Kugel reiten, entblößte | |
ihn, öffnete ihm mit einer Zange den After, ließ eine Ratte in das Gewölbe | |
krabbeln, die sich durch die Innereien fraß. Er fixierte den Mann auf dem | |
Boden einer Baustelle und löste einen Betonblock von einem Kran, damit er | |
platt wurde wie eine Briefmarke. Schubste ihn vor einen Zug und ließ ihn | |
überrollen, dass ihm das Rückgrat brach. Er befestigte ein 50-Kilo-Gewicht | |
an seinen Beinen, stieß ihn in ein Bassin voller Piranhas. Gab ihm eine | |
Spritze mit Heroin, eine hohe Dosis Crack, versetzte das Frühstücksbrötchen | |
des Mannes mit Strychnin und wünschte ihm einen guten, aber passiven Tag. | |
Er buddelte ihn in die Erde ein und ließ bei praller Sommersonne stete | |
Tropfen auf sein kahles Haupt niedergehen, drei Tage lang. Ließ ihn von der | |
Revolutionsgarde enthaupten … „All das und noch viel mehr … würd’ ich | |
machen, wenn ich König von Deutschland wär“, begann Caddy, Rio Reiser zu | |
zitieren. | |
Nachdem er sich in seinem Rausch besinnungslos ereifert hatte, dämmerte | |
ihm, dass der Sachbearbeiter nur seine öde Arbeit machte. Und wenn Caddy es | |
sich recht überlegte, war das Geld, das er bekam, sicherer als jeder Job. | |
Auch blieben seine Mietzahlungen durch das Ganze nicht aus. Das war mehr | |
als die unsicheren Zustände der arbeitenden Bevölkerung, allen Schwankungen | |
des Kapitalismus ausgeliefert. Auch wenn es nur für das Nötigste reichte: | |
Überleben konnte Caddy. Dass er sein extrem gelegentliches Einkommen | |
abzuführen hatte, war nur die Parallele zur Entrichtung der Steuern. Auch | |
wenn er die Viertausendplus nur allzu gut hätte verwenden können: Aufgeregt | |
hatte er sich darüber schon genug. Er wählte das Digitalalbum | |
[1][„Reasonreasonreasonreason“] der famosen Band Candelilla auf seinem | |
Rechner und spielte Track 11. Der klang nach einem starken Slogan … und wie | |
seine Einsicht: „Hysterie marry me!“ | |
Caddy beschloss, sich wenigstens etwas Summe wiederzuholen und rief eine | |
Beratungsstelle an. „Sie brauchen eigentlich nur einen Satz in Ihrem | |
Widerspruch zu schreiben, denn die Behörde muss das Geld auf ein Jahr | |
anrechnen“, sagte die freundliche Telefonstimme. „Die selbstständigen | |
Einkünfte … sind für das Jahr zu berechnen, in dem der Bedarfszeitraum | |
liegt. Die sind … Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit. Ich bitte um … | |
Neuberechnung.“ Das fühlte sich schon besser an! Caddy tippte, druckte aus, | |
warf in den Postkasten und war erleichtert. | |
Am nächsten Tag berichtete er seiner Mutter von der ganzen Angelegenheit. | |
Die schickte ihm per Post einen ausgefüllten Lottoschein, den er nur noch | |
abzugeben brauchte. „Man muss dem Glück die Chance geben, einen zu finden“, | |
hatte sie auf den beiliegenden Zettel geschrieben. Er nickte müde, gab den | |
Schein beim nächsten Einkauf ab. Nach 24 Stunden des Wartens eine Minute | |
der Wahrheit: Caddy hatte zwei bis drei Richtige – auf dem ganzen Schein. | |
## Tausend Seiten Leben | |
Über ein Jahr wartete Caddy auf das Ergebnis seines Widerspruchs. | |
Währenddessen ging die Coronapandemie mehrmals um die Welt und raffte über | |
1,5 Millionen Menschen dahin … Sie waren einfach tot. Caddy war fünffach | |
vorerkrankt, fürchtete das Virus und begann bereits Ende Januar, in einer | |
panischen Vorahnung, fieberhaft seine autofiktionale Autobiografie zu | |
schreiben. Er kam nach vier Monaten auf 1.000 Seiten und begann mit der | |
mehrfachen Überarbeitung. | |
Das für Caddy zuständige Amt arbeitete trotz Covid-19 nicht schneller. Sein | |
Anliegen war inzwischen vom Grundsicherungsamt an das Rechtsamt delegiert | |
worden, das auch nach einem weiteren halben Jahr nichts von sich hören | |
ließ. | |
Caddy ließ sich noch einmal beraten und setzte der zuständigen Behörde eine | |
Pistole auf die Brust, von der er wusste, dass sie nur mit aufgeweichten | |
Erbsen gefüllt war: eine Frist von einem Monat. Wahnsinnig brutal. Wenn der | |
zuständige Bearbeiter dann noch immer nicht reagieren sollte, kündigte er | |
an, eine UNTÄTIGKEIT-S-KLAGE einzureichen. | |
Caddy wartete ohne jede Zuversicht. Ihm schwante äußerst Dunkles, das | |
manchmal ins fantastisch modulierte Aubergine changierte. Er hatte | |
berechnet, dass ihm für das halbe Jahr 1.200 Euro zustünden, nur glauben | |
tat er daran nicht mehr. Drei Tage vor Ablauf der Frist erreichte ihn das | |
behördliche Schreiben. Caddy wurde mitgeteilt, dass der vor 13 Monaten | |
getroffene Beschluss rechtens sei und „einmalige Einnahmen im Zeitraum von | |
sechs Monaten gleichmäßig zu verteilen seien“. Er hatte also nichts zu | |
erwarten, ging so leer aus, wie er sich fühlte. | |
Caddy gab sich auch damit keineswegs zufrieden und befragte die Öffentliche | |
Rechtsauskunft, die ÖRA. Die dort nebenberuflich arbeitende Richterin | |
bestätigte ihm die Ordnungsgemäßheit des Bescheids. „Eine Klage wegen | |
Untätigkeit ist ja jetzt hinfällig, weil sich das Amt innerhalb der von | |
Ihnen gesetzten Frist rechtzeitig gemeldet hat. Eine Klage gegen das | |
Verteilen Ihres Einkommens auf sechs statt zwölf Monate wäre aussichtslos | |
und damit nicht empfehlenswert.“ Außer einem beinahe unbeteiligt | |
abnickenden Muskelreflex entfuhr Caddy nur ein müdes Lächeln. | |
„Können Sie denn mit diesem Ergebnis leben?“, fragte die Richterin und | |
versuchte versöhnlich einzuwirken. „Ich meine, eine Klage ist ja immer auch | |
ein seelischer Prozess. Wie geht es Ihnen nun damit?“ | |
„Ich bin ja Autor und habe eine Episode über diesen Vorfall verfasst und | |
mich dadurch ein kleines bisschen gerächt.“ | |
„Das ist doch ein guter Weg“, beendete das ÖRAkel das Gespräch. | |
Es war also gleichgültig, ob er arbeitete oder jahrelang betrunken in einen | |
Fernseher starrte. Von wegen „Leistungsgesellschaft“. Caddy war froh, | |
bereits im Alter von 13 Jahren beschlossen zu haben, kein nützliches | |
Mitglied dieser Company BRD werden zu wollen. Ihn hatten schon damals die | |
Umtriebe der RAF fasziniert. So konnte es nicht weitergehen, das war ihm | |
1973 bewusst geworden, als die Hungerstreiks begannen. Ihm schien, als | |
hätte er un- wie unterbewusst ebenfalls die Essensaufnahme bestreikt und | |
am Mittagstisch sämtliche Gerichte verweigert, bis auf „Eis und heiß“, den | |
Nachtisch. Einfach, weil ihm generelle Verständnislosigkeit | |
entgegengebracht worden war, solange er denken und daher nicht essen wollte | |
und schließlich nicht konnte. | |
Seinen Kampf führen aber würde Caddy in Zukunft mittels der Zersetzung | |
jeglicher Übereinkünfte vornehmlich kultureller, aber abgrundtief | |
verwurzelter, gesellschaftlicher Zeichensysteme … Das schien ihm | |
sympathisch: eine riesige, freie Spielwiese, auf der eine unberechenbare | |
Sprengkraft entfacht werden konnte mit ungeahnter Wirkung auf die | |
diversifizierten Menschengeschlechter. | |
Denn, das ahnte er in Anbetracht der fatalistischen Biografien seiner | |
Ahnen: Für den Untergang brauchte es keine Kriege. Das erledigte auch der | |
Alltag, ob mit oder ohne Corona. Normal war nur der Tod. | |
Ohne sich allzu viel Hoffnung zu machen, stellte Caddy beim Sozialfonds der | |
VG Wort einen Antrag auf „Ausgleichszahlung wegen systembedingter | |
Ungerechtigkeit“. Keine halbe Stunde nachdem er die Mail abgeschickt hatte, | |
meldete sich eine freundliche Mitarbeiterin der Verwertungsgesellschaft und | |
instruierte ihn, schnellstens noch fehlende Informationen zu senden und | |
diverse Formulare. Sie könnten ihm zwar kein Geld überweisen, weil das Amt | |
es einbehalten würde, aber „zweckgebundene Sachleistungen“ könnten sie | |
erstatten – außer technischen Geräten, die würden nicht finanziert. | |
Caddy entschied sich für einen neuen Bodenbelag im Schlaf- und | |
Arbeitszimmer und eine neue Matratze. Diese Dinge benötigte er seit über 12 | |
Jahren und konnte sie sich bisher nie leisten. Am 25. November sollte die | |
Sitzung stattfinden, auf der die Organisation über die vielen Anträge | |
entschied. Als er am 7. Dezember noch immer nichts gehört hatte, begrub er | |
seine letzten Hoffnungen. | |
Am nächsten Tag bemerkte er fast nebenbei den Eingang von 1.000 Euro auf | |
seinem Konto. Wer hätte das gedacht?! Das fühlte sich doch gleich viel | |
besser an. Der Sozialfonds gab ihm den Glauben an Gerechtigkeit zurück – | |
und auch seine Motivation zum Schreiben kehrte wieder. | |
1 Jan 2021 | |
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[1] https://candelilla.bandcamp.com/album/reasonreasonreasonreason | |
## AUTOREN | |
Carsten Klook | |
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