# taz.de -- Fotograf Andreas Gehrke über sein Berlin: „Kein Bildband für To… | |
> In seinem Bildband „Berlin“ porträtiert der Fotograf Andreas Gehrke die | |
> Umformung der sich verdichtenden Stadt – und deren verschwindende Leere. | |
Bild: „Menschen würden ablenken von dem, was ich zeigen will“: der Berline… | |
taz: Herr Gehrke, hassen Sie Ihre Heimatstadt Berlin? | |
Andreas Gehrke: Ich? Nein, auf gar keinen Fall. | |
Warum haben Sie die Stadt dann so hässlich fotografiert? | |
Mit diesem Vorwurf werde ich gelegentlich konfrontiert. Der kommt meist von | |
Menschen, die mit dieser Art von Fotografie nicht vertraut sind. Aber mein | |
Buch ist ja kein Bildband für Touristen, sondern ein Porträt dieser Stadt. | |
Ein Blickwinkel auf die Stadt, von denen es viele verschiedene gibt. Dafür | |
habe ich nicht bewusst die vermeintlich hässlichen Seiten Berlins | |
ausgewählt, sondern das fotografiert, was mich interessiert. Und das sind | |
halt eher gewisse urbane Zwischenräume, die für mich den Charakter einer | |
Stadt ausmachen. Das Berlin in meinem Buch ist das Berlin, das ich sehe. | |
Nur weil darauf „Berlin“ steht, hat mein Buch nicht den Anspruch, ein | |
allgemein gültiges Porträt der Stadt zu sein. | |
Muss man gerade das an Berlin lieben, diese Hässlichkeit? | |
Für mich sind diese Seiten der Stadt nicht hässlich, sonst würde ich so | |
einen Aufwand gar nicht betreiben. Ich fürchte, wenn ich Paris oder New | |
York fotografiere, wären diese Städte für manch einen Betrachter auch | |
unattraktiver als erwartet. Berlin ist doch vor allem eine Stadt voller | |
Widersprüche, und die zeige ich in meinen Bildern. | |
Immerhin ist einmal im Hintergrund der Fernsehturm zu sehen, auch das | |
Tempelhofer Feld … | |
Das Tempelhofer Feld ist ein schönes Beispiel. Das ist eine Ikone der | |
jüngeren Stadtgeschichte und es ist sehr beliebt in der Bevölkerung, aber | |
eigentlich ist es ein totaler Unort. Vollkommen undefiniert – und gerade | |
deshalb total schön. Solche Orte, solche Leerstellen, die | |
Nutzungsfreiheiten versprechen, sind für Städte total wichtig, gerade weil | |
sie immer weniger werden. Und das, was für andere Unorte sind, das sind für | |
uns Fotografen ja gerade die spannenden Orte. | |
Ist Berlin eine Stadt der Leerstellen und Unorte – jedenfalls mehr als | |
andere Städte? | |
Städte wie London und Paris sind natürlich viel verdichteter, das liegt an | |
ihrer Geschichte. Ich bin kein Architekturhistoriker, ich kann und will | |
Geschichte in meinen Fotos gar nicht nacherzählen. Aber wenn man wie ich in | |
Berlin aufgewachsen ist, dann ist man mit dem Gegenteil von Verdichtung | |
aufgewachsen, nämlich mit viel Leere und Raum. Diese Leere in der Stadt hat | |
mich schon immer fasziniert, ich hab mich immer viel herumgetrieben, schon | |
als Jugendlicher. Und wenn ich heute fotografiere, dann habe ich oft eine | |
Komposition im Auge, für die ich eher Platz und Raum brauche. Wenn man das | |
biografisch interpretieren will: Vielleicht vermisse ich unterbewusst diese | |
Leere, suche sie deshalb im Stadtbild und versuche sie festzuhalten in | |
meinen Bildern. | |
Sie versuchen zu bewahren, was verschwindet? | |
Ja, einerseits schon, weil diese Übergangs- und Zwischenräume weniger | |
werden. Aber das gehört nun mal zu Entwicklung, zu Veränderung, und das | |
Thema meines Buches ist es nicht, diesen Leerstellen nachzutrauern. | |
Jedenfalls nicht bewusst. Aber bestimmte Charakteristika, bestimmte | |
architektonische Strukturen, unrenovierte Oberflächen, die für mich Berlin | |
ausmachen, die werden immer seltener. Wenn auf einer Hauswand aus den | |
dreißiger Jahren, auf der vielleicht noch Einschusslöcher zu sehen waren, | |
erst einmal Wärmedämmung und hellblaue Farbe darauf ist, dann ist es nicht | |
mehr Berlin – jedenfalls für mich nicht. | |
Ihre Bilder bilden nicht nur Leerstellen ab, sie sind selber auch leer. | |
Menschen gibt es auf ihnen gar nicht. | |
Ja, das ist eigentlich dasselbe Thema. Menschen würden ablenken von dem, | |
was ich zeigen will, denn sie rücken automatisch ins Zentrum der | |
Aufmerksamkeit: Welche Klamotten haben sie an? Welche Haltung nehmen sie | |
ein? Sind sie einzeln oder in Gruppen? Stattdessen geht es mir ja darum, | |
dass man sich als Betrachter in Bezug zur Stadtlandschaft sieht, dass man | |
sich selbst in den Stadtraum setzt. Man versteht die Struktur eines Bildes | |
und eines Ortes viel besser, wenn nicht gerade jemand durchs Bild läuft. | |
Zusätzlich gibt es noch einen ganz einfachen technischen Grund: Bei der | |
Großbildfotografie, die ich benutze, hat man ja nach Licht schon mal | |
Belichtungszeiten von ein, zwei Sekunden – und verhuschte Geistermenschen | |
will man nun wirklich nicht haben, wenn es um die Architektur der Stadt | |
gehen soll. | |
Wie haben Sie das gemacht, dass die Ansichten so leer waren? Mussten Sie | |
Straßen absperren? | |
Nein, man wartet. Oder fotografiert sonntags. Geduld muss man haben. Aber | |
meistens suche ich mir eh Ecken aus, an denen nicht so viel los ist. Aber | |
selbst an belebten Orten gibt es immer wieder Momente, an denen weniger los | |
ist, das muss nicht mal ganz früh oder ganz spät sein. Zugegeben: Um den | |
Hermannplatz zu fotografieren, bin ich um 4 Uhr morgens aufgestanden, um | |
um 4.30 Uhr zu fotografieren – und selbst dann kommen da noch ein paar | |
Leute auf dem Weg in den Club vorbei oder ein Taxi fährt zum Flughafen. | |
Sie haben sechs Jahre lang Berlin fotografiert. Wie deutlich hat sich die | |
Stadt verändert in dieser Zeit? | |
Sie verändert sich, und das ist ja auch gut. Anfang der Neunziger war es | |
schon auch noch sehr provinziell hier. Und manchmal wundert man sich schon, | |
warum sie sich jetzt erst so ändert – und warum sich so viele Ecken so | |
lange gehalten haben. Aber wenn man den Bereich zwischen Ostbahnhof und | |
Warschauer Brücke betrachtet, was für eine Art von Konzernarchitektur sich | |
da breitmacht – das ist ein neu geschaffener Unort, der mich auch | |
interessiert und auch Teil einer neuen Serie ist, an dem ich mich aber | |
fotografisch anders abarbeite. | |
Sie sind Urberliner, sind hier geboren und aufgewachsen. Ist das eher | |
hinderlich, um eine Stadt zu porträtieren, oder gerade hilfreich? | |
Gute Frage, die mich auch schon länger beschäftigt. Als Besucher bringt man | |
erst einmal ein großes Interesse mit, um eine Stadt zu erkunden. | |
Andererseits hat man als Fotograf einen geschulten Blick, den man überall | |
anwenden kann, ob in einer fremden oder einer vertrauten Stadt. Aber ich | |
muss zugeben: Berlin war mir so vertraut, dass selbst, als ich nach fünf | |
Jahren Hamburg wieder zurückkam, mich die Stadt als Stadtbild nicht so | |
interessiert hätte, dass ich daraus eine fotografische Arbeit hätte machen | |
wollen. Im Nachhinein ärgert mich das auch, weil es spannend gewesen wäre, | |
schon in den neunziger und nuller Jahren die Stadt konzentriert zu | |
fotografieren. | |
Warum kam das Interesse wieder? | |
Durch meine Arbeit über Brandenburg. Zuerst habe ich mich reif gefühlt, | |
mich mit meinem Blick einer Landschaft zu nähern, die mir als Berliner ja | |
auch vertraut ist. Und nach drei, vier Jahren Arbeit an dieser Serie wusste | |
ich, dass ich dasselbe unbedingt auch mit Berlin machen musste. Auch weil | |
ich dann gemerkt habe, dass diese undefinierten Stadträume immer mehr | |
verschwinden. Die Stadt ist dabei, sich umzuformen. Ich sage ausdrücklich | |
nicht: sich zu verändern, weil das immer negativ klingt. Denn Berlin ist | |
nun mal, wie in dem berühmten Satz von Karl Scheffler, „dazu verdammt, | |
immerfort zu werden und niemals zu sein“. | |
Mittlerweile haben allerdings manche das Gefühl, dass das ewige Werden nun | |
gestoppt ist und Berlin droht zu erstarren und schließlich doch zu sein – | |
vor allem langweilig. | |
Nein, es wird sich immer was tun. Berlin ist groß genug. Nur leider ist die | |
Architektur, die heute gebaut wird, ein Einheitsbrei – das gilt allerdings | |
weltweit. Was heute in New York gebaut wird, hat genauso wenig Charakter | |
wie die Neubauten um den Nordbahnhof herum. Es wird wenig gewagt. Auch der | |
Potsdamer Platz war eine verpasste Chance. | |
Ist Ihre Fotografie melancholisch? | |
Ich hoffe nicht. Ernsthaft ja, aber hoffentlich nicht melancholisch. Das | |
mag so wirken, weil vieles im Herbst und im Winter aufgenommen wurde. Aber | |
auch das hat vor allem bildkompositorische Gründe: Im Sommer gibt es zu | |
viele Blätter und zu viel Grün, das die Häuser verdeckt und von der | |
Architektur ablenkt. Aber ich kann mir vorstellen, dass manche Betrachter | |
das so empfinden, vor allem die, die diese Form von Fotografie nicht | |
kennen. Wir werden von den Medien überschwemmt mit einer unheimlich bunten, | |
lebendigen, fast überfordernden und für mich unwirklichen Bildsprache. Wenn | |
ich einen gewöhnlichen Bildband von Berlin ansehe, dann sehe ich nicht eine | |
Stadt, sondern explodierende Bonbon-Fotografie. | |
Umgekehrt werden Ihre Fotos kritisiert. | |
Ja, das kommt schon vor, dass jemand fragt: Wo ist denn der blaue Himmel? | |
Einige Bilder meiner Brandenburg-Serie sind auf Zeit Online erschienen. Ich | |
hab ganz schnell aufgehört, mir die Kommentare durchzulesen, das war mir zu | |
unterirdisch. | |
Sie machen uns unser schönes Brandenburg kaputt? | |
Ja, das war ungefähr der Tenor. Nicht alle, aber viele brauchen grünen | |
Rasen und einen blauen See. Dabei war es eine riesige Herausforderung für | |
mich, aus dem brandenburgischen Klischee herauszukommen. Und sich auf der | |
anderen Seite nicht völlig auf die postsozialistische Tristesse zu | |
stürzen. | |
Unter dem Namen Noshe sind Sie auch ein erfolgreicher Auftragsfotograf. Wie | |
kommen die Auftraggeber mit Ihrer Bildsprache zurecht? | |
Offensichtlich ganz gut, sonst wäre ich ja nicht erfolgreich, wie Sie | |
sagen. Es gibt immer einen Zwischenweg, den man gemeinsam finden kann. Der | |
größte Unterschied ist: Wenn ich einen Auftrag habe, muss ich das Gebäude | |
fotografieren – und muss mitdenken, wie der Kunde das gerne hätte. Wenn ich | |
als Künstler für mich fotografiere und die Straßenecke nichts hergibt, gehe | |
ich einfach zur nächsten. Außerdem muss man ja sagen, dass ich nicht der | |
Einzige bin, der so fotografiert. Da haben andere Vorarbeit geleistet, und | |
es kommen auch genug nach. Diese Bildsprache ist vielleicht kein | |
Mainstream, aber sie ist verbreitet. | |
Sie fotografieren mit einer schweren Großformatkamera – warum? | |
So schwer ist die gar nicht, vier, fünf Kilo, eine Stunde kann ich schon | |
damit rumlaufen. | |
Dazu kommen dann noch das Stativ und die Kassetten mit den Filmen. | |
Ja, stimmt schon, es ist nicht wahnsinnig bequem. Man schafft auch nur | |
einen Bruchteil der Bilder, die man digital schaffen würde. | |
Und teuer sind diese Kassetten ja auch. Was kostet eine Aufnahme? | |
Ungefähr zehn Euro mit Entwicklung. Da darf man nicht drüber nachdenken, | |
während man fotografiert. Als Hobby wäre es zu teuer. | |
Warum tut man sich das an? | |
Man ist mit der Großbildkamera extrem langsam, aber auch extrem | |
konzentriert. Man selektiert schon im Prozess des Fotografierens, trifft | |
eine Vorauswahl, die man später nicht mehr im Editing machen muss. Das | |
hilft dem Ergebnis. Es ist auch einfach die Art der Fotografie, mit der ich | |
am besten Landschaft und Stadtraum abbilden kann. Ich liebe vor allem die | |
einzigartige Balance zwischen Schärfe und Weichheit. | |
Sehen diese analog fotografierten Bilder wirklich anders aus als digitale? | |
Und kann ich als Laie den Unterschied erkennen oder können den nur Profis | |
sehen? | |
Das würde mich auch interessieren. Ich gebe zu, dass bei der Größe der | |
Bilder in einem Buch kaum ein Unterschied zu sehen ist – weil die digitalen | |
Kameras sehr gut geworden sind. Sie sind, finde ich, schon fast zu gut | |
geworden. Nach 30 Jahren Entwicklung sind die Objektive und Bildsensoren so | |
perfekt, dass das Ergebnis zu scharf, zu crisp ist. Und den Unterschied | |
sieht man dann im großen Print. Natur digital so aufzunehmen, dass sie auf | |
einem großen Fine-Art-Print so aussieht, wie ich es mag, das habe ich noch | |
nicht geschafft. Es gibt eine gewisse digitale Schärfe, die unnatürlich | |
ist. Ich stand schon oft vor Fotografien in einer Galerie und dachte: Super | |
Bild, aber leider etwas zu digital. | |
Das erinnert mich an die Diskussion, als die CD aufkam und die HiFi-Freaks | |
meinten, Vinyl klingt einfach besser. | |
Ja, das ist vielleicht ähnlich. Und vielleicht geht es auch hier vor allem | |
um ein Gefühl. Und um ehrlich zu sein, bin ich es auch ein wenig leid, das | |
Stativ immer mit herumschleppen zu müssen, und experimentiere deshalb seit | |
ein, zwei Jahren auch für meine eigenen Bilder im Stadtraum mit der | |
digitalen Fotografie. Aber in diesem Buch ist alles noch analog. | |
Was fasziniert Sie generell an der Architekturfotografie? | |
Ich bin, glaube ich, eher an der Stadt als an der Architektur interessiert. | |
Aber wenn es um ein einzelnes Gebäude geht, dann versuche ich, es als | |
Skulptur zu sehen. Ich versuche, das Gebäude zu porträtieren – genauso wie | |
Menschen, die ich als Auftragsfotograf porträtiere. Bei einem Porträt geht | |
es mir immer darum, das Gegenüber zu respektieren. Das, was man | |
fotografiert, ist wichtiger als der eigene Blick darauf. Da gibt es keinen | |
Unterschied zwischen einem Gebäude und einem Menschen. | |
Ein großer Unterschied: So ein Haus kann nicht weglaufen. Als Laie fragt | |
man sich: Wo ist der Reiz an Architekturfotografie? | |
Ein Haus rennt vielleicht nicht weg, aber du kannst es auch nicht vor einen | |
anderen Hintergrund setzen oder verschieben. Du kannst nicht sagen: Lächel | |
mal. Du kannst die drei roten Transporter nicht abschleppen lassen, die | |
davor stehen, aber wenn die mit im Bild sind, guckt man nur auf die drei | |
roten Autos und nicht auf das Haus. Und da sind wir noch nicht mal bei der | |
Technik: Wenn ich mit einer normalen Kamera ein Haus fotografiere … | |
… dann klappen die Fluchtlinien in der Höhe zusammen. | |
Genau, das kennt jeder, der im Urlaub eine Kirche fotografiert hat. Aber | |
das ist noch das Geringste. Es gibt also die große Herausforderung und den | |
Reiz, wie immer bei der Fotografie: etwas so zu fotografieren, wie man es | |
sieht – und nicht, wie es tatsächlich da herumsteht. | |
13 Jun 2021 | |
## AUTOREN | |
Thomas Winkler | |
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